Zum 10. Jahrestag des Beginns des NATO-Luftkrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien am 24. März erklärt Winfried Nachtwei, sicherheitspolitischer Sprecher:
Am 24. März 1999 begannen die NATO-Luftangriffe auf Serbien. Sie sind bis heute sehr umstritten. Nach einer Kette ungenutzter Chancen erschienen sie als notwendiges Übel, um in dem zugespitzten Konflikt das Allerschlimmste, die Totalvertreibung der Kosovo-Albaner, zu verhindern. Sie wurden zugleich abschreckendes Beispiel einer verspäteten Krisenbewältigung, eines Militäreinsatzes ohne VN-Mandat und einer Luftkriegführung, die mit der Zeit vermehrt auf zivile Infrastruktur zielte.
Für die Kosovo-Albaner gingen die Luftangriffe zunächst mit einer forcierten Massenvertreibung durch die serbischen Kräfte einher. Das erklärte Ziel der NATO-Operation, die serbische Führung zum politischen Einlenken zu bewegen und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, wurde in den ersten Wochen verfehlt. Nach 78 Tagen des NATO-Luftkrieges konnte der Abzug der serbischen Kräfte erreicht werden und endete die serbische Gewaltherrschaft über das Kosovo. Das ermöglichte die Rückkehr der vielen Hunderttausenden Vertriebenen und läutete das Ende des Milosevic-Regimes und seiner Kriegspolitik ein. Die Luftangriffe kamen aber auch der UCK zugute, die zum Teil terroristisch agierte und mitverantwortlich war für die Vertreibung vieler Kosovo-Serben am Ende des Krieges.
Die von der rot-grünen Koalition verantwortete erste Kriegsbeteiligung der Bundeswehr war eine Zäsur bundesdeutscher Außenpolitik. Sie stand im Widerspruch zur friedenspolitischen Programmatik von Bündnis 90/Die Grünen von 1998 und war für unsere aus der Friedensbewegung stammende Partei, aber auch für viele Friedensgruppen eine Zerreißprobe sondergleichen. Viele langjährige Weggefährten wandten sich damals von den Grünen ab.
Auf deutscher Seite war die Kriegsbeteiligung motiviert durch den Willen, angesichts der ca. 1000 Gewaltopfer im Kosovo des Jahres 1998 und der verschärften humanitären Situation ein erneutes europäisches Versagen wie beim Bosnien-Krieg mit seinen 200.000 Todesopfern zu vermeiden. Wer vom Kosovo-Krieg spricht, darf von der dreijährigen Belagerung Sarajevo und dem Massenmord von Srebrenica nicht schweigen. Der Kosovo-Krieg begann nicht erst am 24. März 1999.
Die von dem grünen Außenminister Joschka Fischer geführte deutsche Außenpolitik stand in dem Mehrfach-Dilemma zwischen Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen, Achtung des UN-Mandatsgebots für Militäreinsätze, einem Regierungsantritt zu einem Zeitpunkt, als der Karren der internationalen Kosovo-Politik schon tief im Dreck steckte, und Bündniszwängen. Die Glaubwürdigkeit rot-grüner Kosovo-Politik wurde dadurch beeinträchtigt, dass bei der Rechtfertigung der Luftangriffe teilweise moralisch überzogen wurde. Mit dem sog. „Fischer-Pan" trug der deutsche Außenminister wesentlich dazu bei, eine Eskalation in einen Bodenkrieg zu vermeiden und den Weg für einen Waffenstillstand zu ebnen.
Der Krieg bis zum 19. Juni 1999 kostete im Kosovo insgesamt ca. 10.000 Menschen das Leben, der weitaus größte Teil davon waren Kosovo-AlbanerInnen, die serbischen Kräften zum Opfer fielen. Laut Human Rights Watch wurden durch die NATO-Luftangriffe ca. 500 Zivilpersonen getötet. Die Jugoslawische Armee zählte 600 Tote, davon die Hälfte durch Kämpfe mit der UCK.
Initiativen der grünen Bundestagsfraktion zu einer öffentlichen und selbstkritischen Aufarbeitung des Kosovo-Krieges fanden in der Bundesregierung kein Gehör. Nichtsdestoweniger wurden in der politischen Praxis damals zentrale politische Lehren gezogen:
Deutschland initiierte den grenzüberschreitenden Stabilitätspakt zur wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Friedenskonsolidierung; in den Fällen Montenegro, Presevotal und Mazedonien konnten 2000/2001 erfolgreich kriegerische Eskalationen verhindert werden; Rot-Grün legte in den Folgejahren besonderen Wert auf die UN-Mandatierung von Auslandseinsätzen; forciert wurde der Aufbau einer Infrastruktur zivile Krisenprävention und von militärischen und zivilen Fähigkeiten im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).
Die Erfahrungen mit der Regierungsverantwortung in schwierigsten Zeiten schlugen sich auch in der Programmentwicklung von Bündnis 90/Die Grünen nieder. Wir mussten erkennen, dass dort prinzipielle Gewaltfreiheit nicht durchhaltbar ist, wo man politische Mitverantwortung für das staatliche Gewaltmonopol und den Schutz der BürgerInnen vor illegaler Gewalt trägt. Gewaltfreiheit bleibt ein zentraler Grundwert auch für staatliche Politik, muss aber anders buchstabiert werden: als Gewalt- und Krisenprävention, als Schutz vor illegaler Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, als Minimierung und rechtsstattliche Einhegung von staatlicher Gewalt, als Politik gegen Gewaltursachen, als Förderung von Friedensfähigkeiten.
In dem Abschlussbericht ihrer Friedens- und Sicherheitspolitischen Kommission haben Bündnis 90/Die Grünen als einzige Partei eine (selbst-)kritische Auswertung der eigenen Kosovo-Politik (und auch Afghanistan- und Irak-Politik) vorgelegt.
Persönliche Worte:
Als Mitglied des Verteidigungsausschusses und der rot-grünen Koalition trug ich erhebliche Mitverantwortung für diesen Kurs. Noch bei der Bundestagsabstimmung über die „Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt" am 16. Oktober 1998 stimmte ich zusammen mit Kerstin Müller, Volker Beck und Ludger Volmer mit Enthaltung, weil wir einerseits die von VN-Generalsekretär Kofi Annan geschilderte, sich anbahnende humanitäre Katastrophe sahen und andererseits die elementare Verpflichtung auf das Völkerrecht. Als fünf Monate später dieser Beschluss ohne eine erneute Bundestagsbefassung „aktiviert" wurde, stimmte ich mit den KollegInnen trotz erheblicher Zweifel den NATO-Luftangriffen zu.
Damit enttäuschte ich etliche MitstreiterInnen aus Friedensbewegung und Grünen zutiefst.
Mir war damals von Anfang an bewusst, dass wir, dass ich mit der Unterstützung der NATO-Angriffe schuldig wurden. Aber ich sah zu dem Zeitpunkt keine verantwortbare Alternative. Wenn ich bei den vielen hitzigen Veranstaltungen damals nach Alternativen im Hier und Jetzt fragte, bekam ich nie eine überzeugende Antwort. Nach dem europäischen Wegsehen während des Bosnien-Krieges durfte es ein „zweites Bosnien" im Einflussbereich europäischer Politik nicht geben. Das war seit dem Bosnien-Besuch von Fraktions- und Parteispitze im Herbst 1996 für mich ein kategorischer Imperativ.
Zugleich waren mir die Widersprüche des NATO-Einsatzes bewusst, den ich mir keineswegs als „humanitäre Intervention" zu verharmlosen suchte: der jahrelange Vorlauf einer vernachlässigten Krisenprävention; die kriegsgeschichtliche Erfahrung mit der begrenzten politischen Wirksamkeit von Luftwaffeneinsätzen; die anfängliche Erfolglosigkeit der Luftangriffe, unter denen die Massenvertreibungen an Fahrt gewannen; die Eigendynamik eines Krieges, dem die militärischen Ziele ausgingen und der sich immer mehr einer parlamentarischen Kontrolle entzog.
Wo ich nur die Alternative zwischen einem großen Übel, den Luftangriffen, und einem unerträglichen Übel, der Totalvertreibung, sah, da wurden die Konsequenzen und Lehren umso wichtiger:
Zuerst die offene transparente Aufarbeitung. Dann die Unterstützung der Friedenskonsolidierung und des Aufbaus im Kosovo, in den jugoslawischen Nachfolgestaaten. Schließlich die Entwicklung neuer Präventions- und Friedensfähigkeiten in Deutschland und Europa, die Förderung von VN-Treue und VN-Fähigkeiten.
Es galt, den Kosovo-Krieg nicht zum Präzedenzfall werden zu lassen, sondern eine Wiederholung solcher Art von „Krisenbewältigung" durch fähigere zivile Krisenprävention und einen effektiven Multilateralismus zu vermeiden.
Dass zwei Jahre später in Mazedonien ein beginnender Bürgerkrieg gestoppt und ein weiterer Balkankrieg verhindert werden konnte, war ein deutlicher Fortschritt. Der einzige Nachteil dabei: Dieser friedens- und sicherheitspolitische Erfolg fand nur den Bruchteil der Aufmerksamkeit, den Kriege finden.
Die folgenden Stellungnahmen und Berichte geben Aufschluss über den Prozess der Aufarbeitung des Kosovo-Krieges.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: