Interview Afghanistanpolitik: "Der Gipfel der Ignoranz"

Der Grüne Winfried Nachtwei fordert, Deutschland müsse 2.500 zusätzliche afghanische Polizisten bezahlen. Wenn die ISAF-Truppen jetzt rausgingen, drohe die Gewalt wieder schnell zu eskalieren.

Winfried Nachtwei auf Afghanistanreise. Hier in Feyzabad, östlich von Kundus. Bild: ap

taz: Herr Nachtwei, Sie kommen gerade aus Nordafghanistan zurück. Konnten Sie sich frei bewegen?

Winfried Nachtwei: Ja - so sehr wie seit Jahren nicht. Weil wir ohne Bundeswehr unterwegs waren, konnten wir uns viel ungezwungener bewegen als sonst im schweren Militärfahrzeug - wir waren sogar im Dunkeln unterwegs. Weil wir aber auffällige Autos hatten, nicht den allgegenwärtigen Toyota Corolla, wurden wir natürlich erkannt. Und es war wie früher: Die Leute winkten fröhlich - nicht nur Kinder, auch Erwachsene.

Auch in Kundus, wo jüngst Bomben auf Tanklaster und Zivilisten fielen?

Da war ich nicht - die haben jetzt genug zu tun, da muss kein Bundestagsabgeordneter noch herumspringen. In wenigen Tagen wird der Nato-Untersuchungsbericht zu dem Vorfall vorliegen, dann werden wir mit dem Verteidigungsausschuss auch im Nachwahl-Trubel zusammentreten und das ordentlich diskutieren.

Welche Botschaft haben Sie dann von Ihrer Reise mitgebracht?

Es wäre ganz falsch zu sagen, weil sich die Sicherheitslage verschlechtert, muss auch der Aufbau jetzt generell aufhören. Wir waren in Badakschan, dem bettelarmen Nordostzipfel Afghanistans. Ich konnte nicht feststellen, was manche hierzulande behaupten, dass es keine sinnvollen Projekte mehr zu finanzieren und zu bemannen gäbe - im Gegenteil. Wir müssen da jetzt voll hineingehen und Unterstützung anbieten. Am Lehrer-Ausbildungszentrum in Faizabad studieren jetzt 1.800 Leute. Da wird gerade der Unterricht vom Zweischicht- auf einen Dreischichtbetrieb umgestellt. Es gibt einen Lerneifer sondergleichen.

Trotzdem ist die Sicherheit jetzt auch im Norden das Hauptproblem.

Natürlich. Die Aufbaugeschwindigkeit bleibt hinter der Verschlechterungsgeschwindigkeit zurück. Besonders bedenklich ist, dass Dorfälteste in der Provinz Kundus zum ersten Mal gestanden, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Taliban und die Aufständischen haben. Sechs Flecken in der Region Kundus wurden mir auf der Karte als "No-go-Areas" bezeichnet, und das war nicht mehr nur der berüchtigte Bezirk Chardara. Rund um Kundus herum errichten die Taliban illegale Checkpoints. Der Kommandeur der ISAF-Truppen im Norden, Brigadegeneral Jörg Vollmer, spricht von einem Scheibenwischer-Effekt: Wo die Bundeswehr und afghanische Sicherheitskräftehinein gehen, verschwinden die Taliban - kommen dann aber sofort wieder.

Muss man Vollmer so verstehen, dass er mehr deutsche Soldaten anfordert?

Weniger. Er verlangt vor allem 2.500 zusätzliche afghanische Polizisten. Diese müssten von der Bundesregierung direkt bezahlt werden - wie es jetzt auch die Briten in Helmand machen. Ich verlange, dass die Bundesregierung die notwendigen rund neun Millionen Dollar für zwei Jahre investiert. Diesen Vorschlag Vollmers einfach wegzuwischen, wie es die Bundesregierung bislang tut, ist angesichts der galoppierenden negativen Entwicklung der Gipfel der Ignoranz. Gegenwärtig gibt es in der gesamten Provinz Kundus - bei 770.000 Einwohnern und einer Fläche so groß wie Rheinland-Pfalz und Saarland zusammen - gerade einmal 1.194 Polizisten.

Ihre Partei wird sich auf dem Parteitag Ende Oktober erneut um Afghanistan streiten. Immer mehr Grüne fordern einen Abzug der Bundeswehr - auch angesichts des Desasters, das sie mit den Bomben auf Tanklaster anrichtete.

Auch wenn ich jetzt aus dem Bundestag ausscheide, so bin ich dann ja immer noch aktives Parteimitglied. Und also solches kann ich nur die Dorfältesten in Badakschan zitieren. Die sagen: Wir brauchen euch noch. In Kundus werden schon wieder Waffen an Zivilisten ausgegeben, auch an ehemalige Bürgerkriegskommandeure. Die Bevölkerung rüstet also auf. Wenn die ISAF-Truppen jetzt rausgingen, würde es sehr schnell extrem zur Sache gehen.

Mit der Begründung, dass die Afghanen sich gegenseitig umbringen, sobald die Nato rausgeht, wird man den Einsatz perpetuieren.

Deshalb brauchen wir eben dringend energische Aufbauziele und eine militärische Abzugsperspektive von wenigen Jahren. Wahr ist, dass dadurch falsche Ermutigungen - Richtung Taliban - und Entmutigungen - Richtung Zivilgesellschaft - riskiert werden. Aber das ist dann eben der Preis. Ohne eine Abzugsperspektive wird es keine verstärkten Aufbauanstrengungen und in Deutschland weiter sinkende Zustimmung zu diesem Einsatz geben.

Die Unterstützung schwindet schon länger.

Es hilft aber nichts. Die Bundesregierung muss endlich eine eigene Einschätzung der Lag in ihrem Verantwortungsbereich verfassen. Warum wird es im Norden so schnell schlechter, und was gedenkt Deutschland dagegen zu tun? Die Bundesregierung kann sich nicht immer nur hinter der US-amerikanischen Debatte verstecken und hoffen, dass im Norden nichts passiert. Das funktioniert offensichtlich nicht.

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