Autor: Webmaster
Datum: 29. September 2006 10:03:41 +01:00 oder Fr, 29 September 2006 10:03:41 +01:00
Zusammenfassung: Anlässlich der gestrigen Entscheidung zur ISAF-Mandatsverlängerung hat Winfried Nachtwei folgenden Entschließungsantrag der bündnisgrünen Fraktion zu Afghanistan mitinitiiert:
Hauptteil: Deutscher Bundestag Drucksache 16/
16. Wahlperiode 27.09.2006
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Kerstin Müller, Alexander Bonde, Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der dritten Beratung des Antrags der Bundesregierung
- Drucksache 16/2573
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386(2001) vom 20. Dezember 2001, 1413(2002) vom 23. Mai 2002, 1444(2002) vom 27. November 2002, 1510(2003) vom 13. Oktober 2003, 1563(2004) vom 17. September 2004, 1623(2005) vom 13. September 2005 und 1707(2006) vom 12. September 2006 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Seit Ende 2001 engagiert sich die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Internationalen Gemeinschaft in herausragender Weise für den Wiederaufbau und den Friedensprozess in Afghanistan. Der sehr schwierige Stabilisierungsprozess kann heute durchaus Ergebnisse aufweisen - etwa den Abschluss des Bonn-Prozesses mit der Erarbeitung und Inkraftsetzung einer neuen Verfassung. Mit ca. 7 Millionen Schülerinnen und Schülern besuchen mehr Kinder in Afghanistan Schulen als jemals zuvor. Aber der Aufbauprozess, der von Beginn an unterschiedlich erfolgreich war, ist in diesem Jahr insgesamt ins Stocken geraten. Nach erheblichen Rückschlägen ist er ohne eine Strategieänderung vom Scheitern bedroht.
Dabei muss unterschieden werden zwischen dem vergleichsweise stabileren Norden des Landes, wo eine Reihe von Entwicklungsprojekten etabliert und infrastrukturelle Maßnahmen umgesetzt werden konnten, und dem Süden und Osten.
Die Kämpfe im Süden haben inzwischen das Ausmaß eines regelrechten Krieges angenommen. ISAF-Truppen der NATO sind dort fast täglich in Kampfhandlungen verwickelt, bei denen mehr und mehr Opfer zu beklagen sind. Zahl und Raffinesse der Anschläge nehmen landesweit und auch im relativ ruhigeren Norden zu. Dabei sind immer öfter Schulen das Ziel. Die Drogenanbaufläche ist in diesem Jahr um 59% gegenüber 2005 ausgeweitet worden. Enttäuschung und Frustration über die in der Bevölkerung als zunehmend isoliert und untätig empfundene Zentralregierung breiten sich aus. Auch die bisher von der Bevölkerung respektierte ISAF droht immer weniger als Sicherheitsunterstützungstruppe und immer mehr als Besatzungstruppe wahrgenommen zu werden. Die Umsetzung der immer wieder geforderten Zusammenlegung von ISAF und OEF würde diese Gefahr noch beträchtlich erhöhen.
Nach anfänglichen Erfolgen ist der Fortschritt bei Stabilisierung und Wiederaufbau in Teilen des Landes gestoppt oder gar nicht erst eingetreten. Dies betrifft besonders den Süden und Osten. Die als Besatzung empfundenen Kräfte der Operation Enduring Freedom (OEF) haben es nicht vermocht, Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen, das Wiedererstarken der Taliban zu verhindern und die Kontrolle über diese Landesteile herzustellen. Dazu trägt die vielfach kontraproduktive militärische Terrorbekämpfung durch die Truppen der OEF bei. Die Einbindung von ISAF in die militärische Konfrontation, der Mangel an Erfolgen beim Kampf gegen die Taliban und die Drogenbanden sowie der zunehmende Rückhalt der Taliban in der ländlichen Bevölkerung führen zu wachsenden Frustrationen bei ISAF. Es besteht die Gefahr, in die aussichtslose Situation eines permanenten Guerillakrieges zu geraten. Diese negativen Entwicklungen können dazu beitragen, dass die Entsendestaaten sich aufgrund sinkender Akzeptanz des Einsatzes in ihren Gesellschaften genötigt sehen könnten, ihr Engagement in Afghanistan einzuschränken und schließlich aufzugeben.
Die größten Probleme in Afghanistan sind nach unseren Kenntnissen:
Eine Wende in der Entwicklung ist mit den derzeitigen Konzepten und Politikansätzen nicht absehbar. Mit einer bloßen Aufstockung der Truppen wäre der Krieg gegen die Taliban und andere bewaffnete Gruppen nicht zu gewinnen. Sie wäre vermutlich angesichts der wachsenden Risiken auch in den Entsendestaaten nicht durchsetzbar. Eine Beendigung des Engagements jedoch wäre keine akzeptable Entscheidung aus drei Gründen:
Es besteht deshalb die Notwendigkeit, die bisherigen Vorgehensweisen bei der Umsetzung der Konzepte für die Stabilisierung des Landes zu überprüfen und zu korrigieren. Dies betrifft hauptsächlich die drei genannten Kernprobleme, die sich teilweise auch gegenseitig bedingen und verstärken.
Drogenwirtschaft:
Anstelle der offensichtlich erfolglosen und für das Verhältnis der Bevölkerung zur internationalen Gemeinschaft kontraproduktiven Vernichtungsversuche von Mohnanbaugebieten sollte im großen Stil Programme entwickelt werden, die aus Anreizen und Marktförderung für alternativen Anbau bestehen. Ziele dieser Programme sind die Austrocknung der Drogenherstellung und der damit verbundenen Folgen in Afghanistan und darüber hinaus sowie die Förderung eines diversifizierten Inlandmarktes zur Selbstversorgung. Dabei müssen auch unkonventionelle Methoden wie z.B. ein Aufkauf der Mohnernte durch die Internationale Gemeinschaft eruiert werden. Wir brauchen ein Konzept für den Anbau von Nahrungsmitteln, deren Verarbeitung und Lagerung, damit ein funktionierender Markt aufgebaut wird. Darüber hinaus brauchen wir eine internationale Politik, die langfristig das Austrocknen der illegalen Drogenmärkte zum Ziel hat.
Zugleich dürfen Hilfslieferungen an Lebensmitteln aus dem Ausland den sich entwickelnden Inlandsmarkt nicht stören. Die Vernichtung von Mohnfeldern muss ausgesetzt werden, solange kein solange kein Konzept zum Lebensmittelanbau für die Bauern besteht.
Taliban und internationaler Terrorismus:
Eine Hauptquelle der Rekrutierung der Taliban sind die fundamentalistischen Koran- Schulen in Pakistan. Um dem Abwandern afghanischer Schüler nach Pakistan und ihrer Radikalisierung vorzubeugen, muss der afghanische Staat in die Lage versetzt werden, eine staatlich geförderte religiöse Ausbildung im Land anzubieten. Daneben bleibt Pakistan ein Schlüssel zur Bekämpfung des Terrorismus in Afghanistan. Diese Erkenntnis muss Grundlage für Konzepte zu seiner Eindämmung sein.
Die pakistanische Regierung ist sowohl politisch als auch militärisch zu schwach, um das Land und besonders die Stammesgebiete zu kontrollieren. Ein Erfolg von ISAF und OEF in Afghanistan ohne strategische Zusammenarbeit mit Pakistan ist unmöglich. Deshalb müssen auf internationaler Ebene für die Terrorbekämpfung dringend politische Konzepte ungesetzt werden, die auf einen Stopp des ideologischen und logistischen Nachschubs für die Taliban ausgerichtet sind und die pakistanische Regierung in die Lage versetzen, das staatliche Gewaltmonopol auch in der Grenzregion durchzusetzen.
Wiederaufbau:
Der Aufbauprozess von Infrastruktur, Wirtschaft, Bildungs- und Gesundheitswesen steht im Mittelpunkt der Bemühungen um eine Stabilisierung und Befriedung Afghanistans. Sein Tempo ist entscheidend für die Akzeptanz der internationalen Gemeinschaft in der Bevölkerung. Deshalb muss das Konzept der Provincial Reconstruction Teams (PRT) evaluiert werden, um es wirksamer zu machen. Eine weitere Ausdehnung in die ländlichen Gebiete über die Provinzzentren hinaus unter der Maßgabe einer zivil-militärischen Zusammenarbeit, wie sie bisher in den deutschen PRTs erfolgt ist notwendig, besonders in den bisher vernachlässigten Teilen des Landes. Die Aufnahmefähigkeit und Akzeptanz für Wiederaufbauprojekte muss verbessert werden. Dies könnte durch eine stärkere Einbindung und Kooperation mit religiösen Gelehrten und Stammesautoritäten erreicht werden. Nicht zuletzt sichtbare Erfolge sind für die Bereitschaft der Bevölkerung zu Engagement und Kooperation notwendig.
Die notwendige und geforderte Übernahme afghanischer Eigenverantwortung, die Stärkung lokaler Strukturen und Institutionen muss dabei begleitet werden von der Verhinderung von Korruption bzw. ihrer Bekämpfung. Die dafür nötige Verstärkung der finanziellen Mittel und der personellen Kapazitäten, besonders der Polizeikräfte, muss von der internationalen Gemeinschaft als notwendiges Engagement akzeptiert werden. Die hervorragenden Beiträge zur alltäglichen Sicherheit, die das internationale Polizeiprojekt bereits leistet, können auf Dauer nur ausreichend wirksam werden, wenn dieser Teil des Stabilisierungsprozesses personell und finanziell erheblich verstärkt wird. Der Law and Order Trust Fund (LOTFA) zur Finanzierung von Gehältern der afghanischen Polizei ist immer noch unterfinanziert. Der von Deutschland als „lead nation" initierte Doha-Prozess zum Aufbau eines modernen Grenzmanagements zwischen Afghanistan und den Anrainerstaaten muss weiter vorangetrieben werden.
Die Intensität und Geschwindigkeit der Implementierung von menschenrechtlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Standards und Institutionen muss sich an den in der afghanischen Gesellschaft verwurzelten Traditionen und Werten orientieren. Diese Ausgangslage erfordert behutsames Vorgehen, wenngleich das Ziel der Vereinbarkeit mit dem universellen Menschenrechtskanon nicht in Frage gestellt werden darf. Die Eigenverantwortung der afghanischen Gesellschaft ist der Maßstab, an dem der Erfolg dieser Bemühungen gemessen werden muss. Dazu müssen Prioritäten gesetzt werden: öffentliche Sicherheit, Fortschritte in Bildung und Gesundheitswesen, Förderung von Frauenrechten. Die Hilfeleistungen der internationalen Gemeinschaft müssen anhand dieser Prioritäten überprüft und ggf. gezielter eingesetzt werden. Ebenso müssen die kommunikativen Instrumentarien und der Umgang mit den gesellschaftlichen Akteuren auf ihre Dialog- und Anpassungsfähigkeit an die gesellschaftlichen Bedürfnisse überprüft werden. Ausgangspunkt für eine derartige Evaluierung könnte eine internationale Konferenz mit entwicklungs-, menschenrechts- und kulturpolitischen Experten über den Dialog mit islamischen Akteuren in Afghanistan, deren Ergebnisse Grundlage einer Neujustierung der Entwicklungskonzepte für Afghanistan würden.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
Berlin, den 1. Oktober 2006
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion
Anmerkungen:
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: