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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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UNAMA-Zivilopfer-Bericht 1. Halbjahr 2017: Weiter Höchstand an Zivilopfern in Afghanistan, "Spitzenreiter" Kabul, Zunahme komplexer Angriffe

Veröffentlicht von: Nachtwei am 19. Juli 2017 13:17:05 +01:00 (65595 Aufrufe)

Auch wenn in den Programmen der Parteien zur Bundestagswahl Afghanistan über die Frage der Abschiebungen hinaus KEIN Thema mehr ist: Hier wieder jüngste Informationen zur düsteren Lage dort. Weil Wegsehen und Verdrängen irgendwann in bösem Ewachen landen. 

Weiter Höchststand an Zivilopfern in Afghanistan,

„Spitzenreiter“ Kabul. Suizid- und komplexe Attacken fordern so viele Zivilopfer wie nie zuvor,

(UNAMA-Bericht 1. Halbjahr 2017)

Winfried Nachtwei (19. Juli 2017)

Am 17. Juli 2017 veröffentlichte UNAMA ihren den 1. Halbjahresbericht  „Schutz von Zivilpersonen im bewaffneten Konflikt“ für 2017. Seit 2009 dokumentiert UNAMA systematisch die Zivilopfer im bewaffneten Konflikt in Afghanistan. Die Opferzahlen sind „konservativ“ und müssen jeweils von drei verschiedenen Quellen bestätigt sein. Die Dunkelziffer an Zivilopfern ist unbekannt. Der 1. Halbjahresbericht 2017 unter

https://unama.unmissions.org/sites/default/files/protection_of_civilians_in_armed_conflict_midyear_report_2017_july_2017.pdf  . (Meine kommentierten Zusammenfassungen der UNAMA-Berichte von 2016, 2015, 2014, 2013 unter www.nachtwei.de , linke Spalte)

Weitere Informationen zur Sicherheitslage:

Jüngster Halbjahresbericht des Pentagon an den US- Congress, 1. Dez. 2016 – 31. Mai 2017, Juni 2017,https://www.defense.gov/Portals/1/Documents/pubs/June_2017_1225_Report_to_Congress.pdf und Quartalsbericht des Lead Inspector General for Overseas Contingency Operations an den US Congress, 1. Januar - 31. März 2017  https://oig.state.gov/system/files/lig_oco_ofs_mar2017_508_1.pdf

EASO (European Asylum Support Office), EASO Country of Origin Information Report Afghanistan – Security Situation, November 2016, 248 S., https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/public/EASO-COI-Afghanistan_Security_Situation-BZ0416001ENN_FV1.pdf (“Herkunftsländerbericht”, detailliert zur Sicherheitslage in den 34 Provinzen und allen Distrikten S. 39-174),

TOLOnews berichtetlaufend über aktuelle Sicherheitsvorfälle, z.B.http://www.tolonews.com/afghanistan/ramadan-deadliest-month-afghanistan-past-15-years

Übersicht

  1. Zusammenfassung
  2. Einzelne Aspekte: Bodenkämpfe, Taktiken der Aufständischen, Entführungen, Daesh/IS, Zivilopfer durch Pro-Regierungskräfte, regionale Verteilung der Zivilopfer,
  3. Weitere Angaben zur Sicherheitsentwicklung

1. Zusammenfassung

Das Titelbild des UNAMA-Report zeigt Opfer des Lkw-Bomben-Anschlags am 31. Mai 2017 im Zentrum von Kabul kurz nach der Explosion.

Der bewaffnete Konflikt durchdringt inzwischen“alle vorstellbaren Alltagssituationen”: “Reflecting the extent to which the armed conflict invaded the lives of Afghans countrywide

during the first half of the year, violence killed and maimed civilians in nearly every conceivable setting of day to day life. Civilians lost their lives, limbs, sight or suffered harm

while inside of their own homes, travelling on public roads, attending classes, praying in

mosques, purchasing food, playing outside, working in offices, laboring in agricultural fields, visiting the bank, and lying in hospital beds.” (S. 7)

Zivilopfer: Im ersten Halbjahr 2016 erreichte die Gesamtzahl der Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts wieder das Höchstniveau des Vorjahrszeitraums: 5.243 (weniger als

 -1%), davon 1.662 Tote (+2%) und 3.581 Verletzten (-1%).

(Der Pentagon-Halbjahresbericht vom Juni 2017 meldet für Dez. 2016 bis Mai 2017 3.600 Zivilopfer, ein Drittel davon Tote), ein Anstieg um 33% ggb. dem Vorjahrszeitraum.)

Die Zahl der Opfer unter Frauen nahm um 23% auf 636 zu, die Zahl der getöteten (436) und verwundeten (1.141) Kinder um 1%. 30% aller Zivilopfer sind Kinder.

In Kabul gab es wieder die meisten Zivilopfer: 1.048, davon 219 Tote und 829 Verletzte, ein Anstieg um 26%, 94% verursacht durch Selbstmord- und komplexe Attacken durch Aufständische.

Nach Kabul gab es die meisten Zivilopfer in den Provinzen Helmand (532, +5%), Kandahar (395, -10%), Nangarhar (377, -7%), Uruzgan (312, -16%), Faryab (289, +5%), Herat (215, +14%), Laghman (210, +58%), Kunduz (190, -7%). Insgesamt nahm die Zahl der Zivilopfer in 15 der 34 Provinzen zu, in 19 Provinzen ging sie zurück. Einzig aus der Provinz Panjsir wurden keine Zivilopfer gemeldet.

(Was die Gründe für z.T. erhebliche Rückgänge von Zivilopfern in etlichen Provinzen sind, wie sich auf die Zahl der Zivilopfer auswirkt, wenn eine Provinz weitgehend von den Taliban kontrolliert wird – das wäre interessant zu erfahren. Vielleicht ergeben sich daraus Hinweise für lokale Wege der Konflikteindämmung.)

Seit Beginn der systematischen Zählung der Zivilopfer durch UNAMA am 1. Januar 2009 kamen 26.512 Zivilpersonen im Kontext des bewaffneten Konflikts um`s Leben, 48.931 wurden verletzt.

Verantwortliche: 3.489 (1.141 Tote, 2.348 Verletzte), also 67% der Zivilopfer gehen auf das Konto der Aufständischen (+12%); 945 (327/618), also 18% auf das von Pro-Regierungskräften (-21%), davon 2% auf das internationaler Streitkräfte. Im Vorjahr hatten die Zivilopfer durch Afghanische Sicherheitskräfte (ANDSF) enorm zugenommen, verursacht  primär wegen des vermehrten Einsatzes von Mörsern, Raketen und Granaten bei Gefechten. Die Zivilopfer durch Luftoperationen stiegen um 43% auf 232, ein Drittel davon durch afghanische und zwei Drittel durch US-Luftstreitkräfte. (Im 1. Halbjahr 2016 hatten sie um 67% zugenommen.)

Kontexte und Taktiken: 40% der Zivilopfer (2.079) entstanden durch den unterschiedslosen Einsatz von IED`s in bewohnten Gebieten. Dabei entfielen auf Suizid- und komplexe Attacken so viele Zivilopfer wie nie zuvor seit Beginn der Zählung: 1.151, davon 259 Tote und 892 Verletzte, ein Anstieg um 15%.  Allein der Lkw-Bombenangriff vom 31. Mai forderte 92 Ziviltote und 491 Verletzte.

Die zweitmeisten Zivilopfer entstanden bei Bodenkämpfen: 1.809, davon 434 Tote und 1.375 Verletzte, ein Rückgang um 10%. Der Rückgang resultierte aus dem Rückgang von Zivilopfern durch indirektes Feuer/Explosivmunition auf Seiten der Pro-Regierungskräfte. (Hier hatte es 2016 einen Anstieg um 46% gegeben.)

Flüchtlinge: Im ersten Halbjahr 2017 flohen 138.300 Menschen konfliktbedingt aus ihren Häusern. Vertreibungen wurden aus 29 von 34 Provinzen berichtet.

Weitere Trends

Lt. Pentagon-Halbjahresbericht Bericht vom Juni 2017 sind die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) mit zwanzig Aufständischen- und Terror-Netzwerken in der Region Afghanistan-Pakistan konfrontiert. Das sei die höchste Konzentration von extremistischen und terroristischen Gruppen weltweit.

Kommentar

Dreißig Monate nach Abzug der ISAF-Kampftruppen gibt es in Afghanistan kein sicheres Umfeld für die Bevölkerung, geschweige, die Regierung, ihre Bediensteten und internationale Helfer. Der Massakerangriff in Camp Shaheen auf überwiegend unbewaffnete afghanische Soldaten (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1468 ), die Zerstörung des deutschen Generalkonsultats in Mazar und der Kanzlei der Deutschen Botschaft in Kabul waren Menetekel. Ein sicheres Umfeld zu fördern, war der Kernauftrag von ISAF. Die Opferzahlen unter Zivilpersonen und afghanischen Sicherheitskräften sind so hoch wie nie seit 2001. Fluchtursachen sprießen weiter.

Mitverantwortlich für diese desaströse Lage ist – nach den Aufständischen, ihren ausländischen Förderern und der blockierten afghanischen Regierung -  auch eine Staaten“gemeinschaft“ – und darin eine deutsche Politik -, die aus innenpolitischen Gründen 2014 einen Rückzug mit allerhöchster Rücksicht auf die eigenen Kräfte, aber ohne jede Rücksicht auf die tatsächliche Lage, auf die Afghanen, ihre Bevölkerung und Sicherheitskräfte durchführte.

Krass widerlegt wurden regierungsoffizielle Behauptungen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte übernahmefähig seien und die Sicherheit ihres Landes selbst gewährleisten könnten.

Krass widerlegt wurden aber auch Erwartungen von Gegnern des ISAF-Einsatzes, dass mit dem Abzug der internationalen Truppen der Krieg verlöschen würde.

Der internationale Rückzug forderte tausendfache „Begleitopfer“ („Kollateralschäden“). Diese finden hierzulande praktisch keine Beachtung und scheinen kaum ein Gewissen zu rühren. Angesichts des – richtigerweise - hohen moralischen Anspruchs an Politik in Deutschland ist das bemerkenswert.

In den Programmen von Union, SPD, Linke, Grünen, FDP zur Bundestagswahl im September 2017 taucht Afghanistan als politische Herausforderung nicht mehr auf – maximal mit der Forderungen, dass dorthin wegen der Unsicherheitslage nicht abgeschoben werden dürfe (SPD, Bündnis 90/Die Grünen) oder dass von dort alle deutsche Soldaten und Polizisten abgezogen werden müssten (Linke).

Angesichts der Tatsache, dass die Stabilisierung Afghanistans über viele Jahre  d i e  Herausforderung für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, höchst kostspielig und opferreich war,

angesichts der Tatsache, dass Deutschland nirgendwo sonst so dicht mit der Reduzierung oder Förderung von Fluchtursachen zu tun hat wie in Afghanistan, ist diese Leerstelle eine Kapitulationserklärung: Um 1.000 Bundeswehrsoldaten werden dorthin befohlen, Dutzende Polizisten und Entwicklungesexperten werden als Freiwillige dorthin entsandt. Aber der „Primat der Politik“ versteckt sich, schweigt.

2. Einzelne Aspekte

2.1 Bodenkämpfe

34% aller Zivilopfer entstanden bei Bodenkämpfen – 1.809 insgesamt, davon 434 Tote und 1.375 Verletzte. Gegenüber dem Vorjahrszeitraum war das ein Rückgang um 10%. 43% der Zivilopfer bei Bodenkämpfen wurden von regierungsfeindlichen Kräften verursacht (Anstieg +46%), 30% von Pro-Regierungskräften (Rückgang um 35%).

58% aller Zivilopfer bei Bodenkämpfen waren Frauen und Kinder (Anstieg um 69%)

Die meisten Zivilopfer bei Bodenkämpfen gab es in der Region Süd mit 647, gefolgt von Ost mit 363, Nord 212, 184 Nordost, 181 West, 124 Südost, 92 Central, 2 Zentrales Hochland.

2.2 Suizid- und komplexe Attacken von Aufständischen

(Lt. UNAMA gehören zu „komplexen Attacken“ zwei oder mehr Angreifer, zwei oder mehr Waffentypen, eine davon Suizid-IED)

22% aller Zivilopfer (1.151, davon 259 Tote und 982 Verletzte) entstanden durch Suizid- und komplexe Attacken, – ein Anstieg um 15%. 86% aller Zivilopfer durch Suizid- und komplexe Attacken geschahen in Kabul, wo die Zahl der Zivilopfer durch diese Taktik um 59% auf 986 (209/777) stieg.

Der opferreichste Anschlag seit 2001:

„31 May Suicide Attack in Kabul & Subsequent Events (S. 34/35)

“I was working on the third floor, checking equipment. I don’t remember hearing an explosion – I just remember suddenly the ceiling coming down on us. I was injured in my head and chest but I was conscious. As I looked around I could see all of my colleagues were down, unconscious or dead – I couldn’t tell. Many were buried under the collapsed ceiling. I called out from a window to the street below, ‘Please bring help! Please bring a ladder!’ but there was no one who could help.” 107

-- Victim injured by 31 May suicide attack in Kabul city.

On 31 May, a suicide attacker detonated a waste water vacuum tanker truck laden with at least 2,000 kg of military grade explosives in a busy civilian-populated area of Kabul city during the morning rush hour, resulting in at least 92 civilian deaths and the injury of 491 others, the deadliest single attack recorded by UNAMA since 2001.

Due to the massive quantities of explosives used, the blast destroyed several Roshan Telecommunications and German Embassy buildings and caused significant damage to nearby hotels, banks, and other businesses as well as to several embassies and some UN compounds in a one kilometre radius. Victims included Roshan employees (31 killed, 50 injured), Afghan guards outside nearby embassies (10 killed), and dozens of bystanders on the busy street, patrons of local hotels and shops, as well as 14 students injured at a nearby high school. While the intended target isnot completely clear, some Afghan security authorities stated the view that the attack may have been directed at an embassy or the NATO compound.

The attack provoked an immediate response, with outrage over the Government’s inability to secure the city and ongoing instability expressed in media, particularly social media. On 2 June, protests began near the site of the 31 May attack at Zanbaq square and were initially peaceful, until a new group of demonstrators joined and attacked Afghan security forces with bricks, stones, metal pieces, and, allegedly firearms. Security forces responded to the violence by firing water from fire trucks, tear gas, rubber bullets, and eventually live ammunition. At least five persons involved in the protests were killed and at least 11 more were injured during the violence, which also caused the injury of 19 members of the security forces.

On 3 June, a funeral ceremony was held for one of the protestors killed on 2 June, the son of a prominent politician. During the ceremony, which was attended by many government and security officials, two suicide attackers detonated body-borne IEDs emplaced in shoes and possibly belts. UNAMA verified four civilians killed and 49 injured in the attack. The Afghan intelligence service (NDS) released a video of the alleged confession of a third suspect who claimed to have been trained in a Quetta madrassa.

NDS blamed the Taliban Haqqani Network for the 31 May attack, citing evidence of direct Pakistani Inter-Services Intelligence (ISI) aid.108 Taliban condemned the attack and denied involvement on 31 May via twitter,109 and again on 1 and 12 June on its English website.110 On 13 June, Taliban deputy leader Sirajuddin Haqqani released an audio statement on the Taliban’s Dari website fervently denying responsibility for both the 31 May and 3 June attacks.111 Daesh/ISKP denied issuing an alleged claim of responsibility which had originally been attributed to it, accusing Taliban of circulating the fabricated Daesh/ISKP claim.

Protesters at Zanbaq square and several other locations erected tents where they remained until all but one of the tents were removed by mutual agreement between the Afghan Government and protesters on 13 June. One final tent nearby the site of the 31 May attack at Sherpur Square remained until, on 20 June during early morning hours, ANSF forcibly removed protesters and dismantled it. Afghan security forces claim protesters were armed and resisted, while protesters complain that force was used without warning. Protesters reported that two were killed (including a 16 year old boy) and 27 more were injured by security forces.

The Attorney General suspended the Commander of the Kabul Joint Garrison Command and the Kabul city Chief of Police amidst investigations into the protest violence. UNAMA continues to independently verify casualties as well as the exact circumstances of use of force, including deadly force.

The UN Secretary-General and the UN Security Council condemned the 31 May attack, which occurred at the start of the holy month of Ramadan, recalling that indiscriminate attacks against civilians are grave violations of human rights and international humanitarian law and can never be justified, and underlining the need to bring perpetrators, organizers, financiers and sponsors of these reprehensible acts of terrorism to justice.

UNAMA once again urges all Anti-Government Elements to immediately cease all suicide and complex attacks against civilian targets and in civilian-populated areas.”

(vgl. “Mörderische Woche in Kabul- Lkw-Bombe in der Rush Hour im Zentrum“”, 1. Juni 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1475 )

2.3 IED-Angriffe (ohne Suizide) von Aufständischen

18% aller Zivilopfer gehen auf das Konto von Non-Suicide IED`s – 928, davon 337 Tote und 591 Verletzte. Nach einem Rückgang in 2015 und 2016 brachte das 1. Halbjahr 2017 einen Anstieg um 2%. 59% der IED-Opfer wurden durch Druckplatten-IED`s verursacht, die unterschiedslos wie Antipersonen-Minen wirken und gegen internationales humanitäres Recht verstoßen. Die Druckplatten-IED wurden vor allem im Süden und Südosten eingesetzt, wo Aufständische Gebiete kontrollieren und damit die ANDSF abhalten wollen. Hauptleidtragende sind Frauen und Kinder, bei denen die IED-Opfer um 100 bzw. 70% zunahmen.  

2.4 Gezielt gegen Zivilisten

40% aller den Aufständischen zugeschriebenen Fälle und 26% aller Zivilopfer insgesamt gingen auf gezielte Angriffe auf Zivilisten zurück.

Im 1. Halbjahr 2017 gab es 49 gezielte Angriffe auf Regierungsangestellte mit 49 Toten und 105 Verletzten, ein Anstieg der Zivilopfer um 20%.

Bei acht Angriffen gegen Justizpersonal wurden 31 Menschen getötet und 51 verletzt.

Fortgesetzt wurden Angriffe auf die schiitische Minderheit, die meisten davon Angehörige der Minderheit der Hazara: Am 15. Juni in Herat gegen die Al Zahra Moschee (Daesh), am 12. Mai in einem Schiiten-Viertel in Herat, am 15. März Erschießung und Enthauptung von drei Hazara-Männern in Sa-i Pul, a, 1. Januar gegen die Imam Baqir Moschee in Herat. 

Gegen einflussreiche religiöse Gelehrte gab es 11 Angriffe. Am opferreichsten war ein Sprengstoffanschlag am 6. Juni vorm Eingang der Blauen Moschee in Herat zum Ende des wöchentlichen Treffens der Provinz Ulema Shura: neun Menschen wurden getötet, davon fünf der Ulema Shura, und 21 verletzt, davon sieben der Shura – Sunniten wie Schiiten.

Gegen Gesundheitseinrichtungen und –Beschäftigte richteten sich 32 Zwischenfälle mit 27 Toten und 31 Verletzten und 18 Entführten. Die meisten Opfer forderte der komplexe Angriff auf das Mohammad Sardar Daud Khan Militärhospital in Kabul am 8. März mit 26 Toten und 22 Verletzten.

(Lt. dpa vom 14. Juli stoppten die Taliban eine Polio-Impfkampagne in Teilen der Provinz Kandahar. Die Taliban halten die Mitarbeiter der Impfteams für Spione. Verhandlungen über die Teilnahme von Taliban an denTeams laufen. Afghanistan gehört mit Pakistan und Nigeria zu den drei Ländern weltweit, in denen es noch neue Fälle der hochansteckenden Viruserkrankung gibt. Nach mehreren Impfkampagnen war die Zahl neuer Polio-Erkrankungen zurückgegangen (2016 noch 13 Fälle).

2.5 Entführungen

Entführungsfälle im Zusammenhang des bewaffneten Konflikts gingen von 196 auf 131 zurück.

2.6 Daesh/ISKP)

Bei Daesh/ISKP sieht UNAMA die Verantwortung für 257 Zivilopfer (104 Tote und 153 Verletzten), das sind 5% aller Zivilopfer, und die Entführung von 70 Personen.

72 der Daesh-Zivilopfer konzentrierten sich in Nangarhar, 184 in Kabul (Suizid- und komplexe Attacken) und Herat (IED). Selbsternannte Daesh-Kämpfer töteten und verletzten Menschen in den Provinzen Sar-i Pul, Ghor und Jawzjan (hier u.a. sechs Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes).

2.7 Zivilopfer durch Pro-Regierungskräfte

Pro-Regierungskräfte sind laut UNAMA für 945 Zivilopfer verantwortlich: 327 Tote und 618 Verletzte; 18% aller Zivilopfer; ein Rückgang um 21%. (Die Zahl der Zivilopfer durch Pro-Regierungskräfte war am höchsten im Jahr 2009 mit 1.547 Zivilopfern, davon 948 Toten und 599 Verletzten).

Zu 58% dieser Zivilopfer kam es bei Bodenkämpfen (Rückgang um 35%).

Zu 25% der Zivilopfer (95 Tote und 137 Verletzte) kam es bei 48 Luftoperationen. Die Opfer unter Kindern verdreifachten sich dabei auf 48 Tote und 60 Verletzte.

Die Afghan Air Force ist lt. UNAMA verantwortlich für 114 Zivilopfer (29/85).

(Die AAF ist sehr jung und verfügte im Mai 2017 über 52 Luftfahrzeuge für Offensivoperationen (41 im Vorjahr), davon 12 Starrflügler, 13 Mi-17 Helicopter und 27 MD-530 Helicopter.)

Die Internationalen Luftstreitkräfte (= US) sind lt. UNAMA verantwortlich für 85 Zivilopfer (54/31). Am opferreichsten waren Luftwaffeneinsätze am 9., 10. und 11. Februar im Distrikt Sangin in Helmand, bei denen 26 Zivilisten getötet und sechs verletzt wurden – überwiegend Frauen und Kinder.

Angehörige der ANDSF töteten bei 21 Zwischenfällen 18 Zivilisten und verletzten 11.

Die Afghan Local Police war verantwortlich für 64 Zivilopfer (15/49, ggb. dem Vorjahrszeitraum mehr als eine Verdoppelung.

Bewaffnete Pro-Regierungskräfte sind lt. UNAMA verantwortlich für 42 Zivilopfer (14/28, ein Rückgang um 60%. 

2.8 Regionale Verteilung der Zivilopfer:

- Nordosten (früher besonderer deutscher Verantwortungsbereich) von 35 Zivilopfern im 1. Hj. 2009 über 548 im 1. Hj. 2015 auf 536 in 2016, 379 in 2017 (1. Hj.)

- Norden: 61, 370; 503, 469

- Osten: 329, 952; 738, 702

- Central: 314,  690; 1.113, 1.254

- Zentrales Hochland: 17, 42, 8, 22

- Südosten: 445, 766, 439, 517

- Süden: 1.122, 1.317, 1.444, 1.417

- Westen: 158, 297, 385, 483.

Ausgewählte Provinzen (S. 73)

- Kabul: 1.048 (219 Tote, 829 Verletzte, +26%

- Helmand: 532 (238/294), +5%

- Kandahar: 395 (162/233), -10%

- Nangarhar: 377 (132/245), -7%

- Uruzgan: 312 ((39/273), -16%

- Faryab: 289 (61/228), +5%

- Herat: 215 (107/108), +14%

- Laghman: 210 (53/157), +58%

- Kunduz: 190 (39/151), -7%

- (…)

- Baghlan: 105 (30/75), -36%

- Kunar: 100 (34/66), -47%

(…)

- Jawzjan: 70 (27/43), +19

(…)

- Takhar: 53 (24/29), -10%

- Balkh: 46 (19/27), -56%

- Sar-i Pul: 40 (22/18), -20%

- Badakhshan: 31 (14/17), -74%

- Samangan: 24 (8/16), -17%

(…)

 Bamyan: 1 (0/1), -75%

- Panshir: keine, -100%

3. Weitere Angaben zur Sicherheitsentwicklung

Im Berichtszeitraum des Pentagon-Berichts (1. Dezember 2016 bis 31. Mai 2017) gab es 4.806 gegnerische Aktivitäten, d.h. im Monatsdurchschnitt 801. Im Vorjahrszeitraum lag der Monatsschnitt bei 788.

Im Januar 2017 meldeten die UN 1.877 bewaffnete Zusammenstöße – die höchste Zahl, die je von der UN für Januar gemeldet wurde.

High-profile attacks (HPA) regierungsfeindlicher Kräfte gab es zwischen dem 1.12.2016 und dem 31.5. 2017 in Kabul acht (Zunahme um 20%), im übrigen Afghanistan 42 (+11%).

Gebiete unter Kontrolle bzw. Einfluss im Februar 2017

- der Regierung 243 der 407 Distrikte (233 im November 2016) mit 21,4 Mio. Einwohnern/65% der Bevölkerung (ggb. Nov. 2016 -2,7%)

- der Taliban 45 Distrikte (41) mit 3 Mio. Einwohnern/11% der Bevölkerung (+7,1%);

- die restlichen Distrikte sind umkämpft.

(Bill Roggio kritisierte das NATO-Assessment am 2. Nov. 2016 auf „Long War Journal“ als unzureichend, http://www.longwarjournal.org/archives/2016/11/analysis-us-military-assessment-of-taliban-control-of-afghan-districts-is-flawed.php )

Resolute Support Mission der NATO: Im April 2017 13.400 (Juni 2016 12.930) Militärangehörige aus 39 Ländern (26 NATO),

davon 7.000 USA, 1.037 Italien, 980 Deutschland, 870 Georgien, 588 Rumänien, 558 Türkei, 500 Großbritannien, 270 Australien..

US Operation Freedom`s Sentinel (OFS) mit 8.700 Militärpersonal (2016 9.800) für Counterterrorism-Operationen gegen Al Qaida und Verbündete sowie Islamic State- Khorasan (ISIS-K), Basen in Kabul und Baghram, regionale Außenstationen in Nangarhar, Kandahar, Herat und Balkh. Die Anti-ISIS-.K-Operationen von Afghan Special Operation Forces und OFS-Kräften waren auf Nangarhar fokussiert. Die Zahl der IS-Kämpfer sei hier von 2.-3.000 in 2015 auf 1.000 im Nov. 2016 und 700 im Feb. 2017 reduziert worden. (Quartalsbericht des Lead Inspector General for Overseas Contingency Operations an den US Congress,   https://oig.state.gov/system/files/lig_oco_ofs_mar2017_508_1.pdf  zur Provinz Nangarhar („Base of the Islamic State“) S. 18-20, zu Helmand S. 14.

Der Kommandeur von Resolute Support, General Nicholsen, äußerte zunehmende Besorgnis über “externe Akteure”, die gewalttätige, extremistische Gruppen in Afghanistan und dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet unterstützen würden. Als primäre externe Akteure nannte er Russland, Iran und Pakistan.

Der Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction/SIGAR im Quarterly Report to the US Congress, 30. April 2017 https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2017-04-30qr.pdf  

Die USA wandten seit 2002 über 71 Mrd US-$ (61% der Gesamtausgaben für Reconstruction) für Training, Unterbringung, Ausrüstung und Unterhalt der über 300.000 ANDSF-Angehörigen auf. Die wachsende Zahl und Kampfkraft der ANDSF habe es den USA erlaubt, ihre militärische Präsenz in Afghanistan um über 90% zu reduzieren.

Aber die ANDSF seien mit vielfältigen Problemen konfrontiert: untragbare Opferzahlen (in 2016 mehr als doppelt so viele Gefallene wie die der USA mit über 2.400 Gefallenen seit 2001!), zeitweilige Verluste von Provinz- und Distriktzentren, Schwäche in der Logistik und anderen Funktionen, Analphabetismus  bei Dienstgraden, häufige Korruption, ineffektive Führung, Überbeanspruchung hochtrainierter Spezialkräfte durch Routineaufgaben.

Allein im Jahr 2016 schieden 35% der Soldaten und Polizisten aus verschiedenen Gründen aus den ANDSF aus. Lt. Mitteilung des Afghanischen Verteidigungsministeriums vom 28. März 2017 wurden 2016 1.394 Personen wegen Korruption aus dem Dienst der ANDSF entlassen.

The Asia Foundation: Afghanistan in 2016: A Survey of the Afghan People

http://asiafoundation.org/where-we-work/afghanistan/survey/

“The national mood in Afghanistan is at a record low, and Afghans are pessimistic because of insecurity, corruption, and rising unemployment and slow job growth. At the same time, more Afghans, particularly rural Afghan men, now support women’s right to vote and women’s right to work outside the home than ever before. The 2016 Survey of the Afghan People polled 12,658 Afghan respondents from 16 ethnic groups across all 34 provinces, including insecure and physically challenging environments. The annual survey is the longest-running and broadest nationwide survey of Afghan attitudes and opinions. Since 2004, the Survey has gathered the opinions of more than 87,000 Afghan men and women, providing a unique longitudinal portrait of evolving public perceptions of security, the economy, governance and government services, elections, media, women’s issues, and migration.”

Weitere aktuelle Beiträge

- „Realitätsverleugnung und Schönrednerei“, Leserbrief in der SZ am 26. Juni 2017 zum SZ-Schwerpunkt Afghanistan „Krieg im toten Winkel“ – womit politisches Führungsversagen anfing und weiterging, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1479

- Mörderische Woche in Kabul – Mittwoch Lkw-Bombe in Rush Hour im Zentrum, Freitag Demo mit Toten, Samstag 3 Selbstmordattentäter bei Beerdigung, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1475

- Mai 2007: Unser Besuch in der Hoffnungsprovinz Kunduz, 14 Tage später Selbstmordanschlag auf dem Markt von Kunduz – Wendepunkt des deutschen AFG-Einsatzes, 14. Mai 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1471    

- Massakerangriff auf afghanische Soldaten beim Freitagsgebet: Hierzulande keine Anteilnahme, kein Interesse?1.5.2017,http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1468   

- Abschiebungen nach Afghanistan: Wichtigste aktuelle Berichte zur Sicherheitslage dort und zur Situation Abgeschobener (+ zum Großanschlag gegen die ANA bei Mazar), 1. Mai 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1464

- UNAMA-Jahresbericht 2016 Zivilopfer Afghanistan: Im Norden Zunahme um 58%, bei Kindern um 24%, Zivilopfer durch Daesh/IS fast verzehnfacht – neuer Höchststand insgesamt, 7.2.2017, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1454

- „Kampfeinsatz – Stell dir vor es ist Krieg und du gehst hin“, Bericht zu einem hochintensiven Stück des Axensprung Theaters Hamburg, 11. Januar 2017, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1448

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch