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"Frieden schaffen auch mit Waffen? Responsibility to protect oder Sündenfall?" Vortrag bei der Jahrestagung Entwicklungspolitik 2017 der Eine-Welt-Gruppen in Münster

Veröffentlicht von: Nachtwei am 30. Januar 2017 10:52:54 +01:00 (54343 Aufrufe)

Immer im Januar treffen sich die Eine-Welt-Gruppen im Bistum Münster und in der Evangelischen Kirche von Westfalen zu ihrer Jahrestagung Entwicklungspolitik, dieses Mal im Münsteraner Franz-Hitze Haus. Lauter Menschen, die sich meist seit vielen Jahren in Eine-Welt-Partnerschaftsprojekten engagieren. Viele anregende und spannende Vorträge, Workshops und Diskussionen. Ich hatte den Abschlussvortrag zu einem immer wieder strittigen Thema.

Frieden schaffen auch mit Waffen?

Responsibility to protect oder Sündenfall?

Winfried Nachtwei

Vortrag bei der Jahrestagung Entwicklungspolitik 2017 der Arbeitsgemeinschaft Eine-Welt-Gruppen im Bistum Münster und in der Evangelischen Kirche von Westfalen am 15. Januar 2017 in der Akademie Franz-Hitze-Haus in Münster

(Bericht von der Jahrestagung und die anderen Vortragsmaterialien, z.B. zu Syrien,  unter http://eine-welt-gruppen.de/jahrestagung/ )

(Dieser Vortrag ist illustriert. Kurzbeschreibung der Folien kursiv.)

Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre habe ich mit dem Thema zu tun – davon 25 Jahre in der außerparlamentarischen Opposition, acht Jahre in der parlamentarischen Opposition und sieben Jahre in der rot-grünen Koalition. Beteiligt war ich zwischen 1994 und 2009 im Bundestag an 70 Mandatsentscheidungen zu Auslands- und Kriseneinsätzen. Nach meinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Bundestag blieb ich an dem Thema dran, z. B.  im Beirat Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt.

Wo ich zeitweilig für deutsche Krisenengagements mitverantwortlich war, besteht jetzt das Risiko der Selbstrechtfertigung. Ich hoffe, bei meinem Vortrag die Chance der kritischen Selbstprüfung nutzen zu können.

Die Titelfrage des Vortrags versuche ich über die Stationen eines politischen Streit- und Erfahrungsprozesses zu beantworten – Balkan, Afghanistan, Kongo, UN-Friedenssicherung. Im letzten Teil gehe ich auf die aktuellen Krisenstürme ein und ziehe zentrale Schlussfolgerungen.

Frieden schaffen auch mit Waffen? Erste Antworten

(Coventry, Warschau, Rotterdam, Stalingrad – Ziele des deutschen Angriffskrieges) Der Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die europäischen Nachbarn – und deren Verteidigungskrieg, der Europa von einem völkermörderischen Regime befreite und Frieden ermöglichte.

(Britische Truppen vor dem Angriff auf den Irak 2003) Ein Bild geballter militärischer Macht, Auftakt zu einer besonders „erfolgreichen“ Regimechange-Intervention der USA und ihrer Alliierten: schneller Sturz der Saddam-Diktatur, kaum eigene Opfer, ungezählte Massen an irakischen Opfern – und dann die Chaotisierung der ganzen Region.

(UN-Hauptquartier mit Zentralaussagen der Präambel der UN-Charta) Die UN waren und sind DIE Konsequenz der Staatenwelt aus deutschem Angriffskrieg, Weltkrieg und Völkermord. Die UN-Charta mit dem internationalen Gewaltverbot und dem Willen, die Geißel des Krieges zu überwinden, die friedliche Streitbeilegung, der Einsatz von Waffen-gewalt nur im gemeinsamen Interesse, die Pflicht zur gemeinsamen Friedenssicherung.

Balkan

(Am Hang von Sarajevo Oktober 1996 der spätere Außenminister und Umweltminister) Im Herbst 1996, ein Jahr nach dem Friedensvertrag von Dayton, besuchten wir mit einer Grünen Spitzendelegation Bosnien & Herzegowina, weil wir uns uneinig waren, wie der Kriegsgewalt auf dem Balkan zu begegnen sei. Nicht im Hinblick auf humanitäre Hilfe und Umgang mit Flüchtlingen. Da waren wir uns einig. Uneinig waren wir bezogen auf die Rolle des Militärs. Im Bundestag hatte ich gegen ein militärisches Eingreifen geredet: die nichtmilitärischen Möglichkeiten wie Sanktionen waren zu wenig genutzt worden, ein Militäreinsatz sei unkalkulierbar, könne zu einer Eskalation führen, überhaupt stand die Bundesregierung für uns unter Verdacht, eine „Militarisierung der Außenpolitik“ zu betreiben.

Am Hang von Sarajevo, an dem Ort, von wo die Belagerer über drei Jahre lang immer wieder in die Stadt hineingeschossen hatten (mit über 10.000 Todesopfern), wurde für mich, für uns die Erkenntnis unumgänglich: Es gibt Situationen, wo zum Schutz vor Massengewalt der Einsatz militärischer Gewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann. Das war die erste Schlüsselerfahrung.

(Bischof Franjo Komarica mit Kerstin Müller und Joschka Fischer) Der katholische Bischof von Banja Luka, Franjo Komarica, nahm uns zur Brust: Was Europa auf dem Balkan habe geschehen lassen! Auch hartgesottene Politiker unter uns bekamen Tränen in den Augen. Hier  wuchs, was ich das „Gelöbnis von Banja Luka“ nannte: „Nie mehr ein zweites Bosnien im Einflussbereich europäischer Politik!“ Das war die zweite Schlüsselerfahrung. Die dritte ergab sich aus der Begegnung mit den Bundeswehrsoldaten bei IFOR unter General Friedrich Riechmann: Wir trafen auf Soldaten, die im UN-Auftrag überzeugt für Gewalteindämmung und Kriegsverhütung eintraten, 180° verschiedenen von den Soldaten der Wehrmacht.

Die vierte Schlüsselerfahrung war die Bestätigung und Bekräftigung unserer langjährigen Forderung, dass viel, viel mehr für zivile Krisenprävention und Friedensförderung getan werden muss.

(Zerstörte Häuser im Kosovo) In den europäischen Hauptstädten hatte man den Anstieg der politischen Gewalt im Kosovo über Jahre ignoriert, den breiten gewaltfreien Widerstand mit Ibrahim Rugova an der Spitze im Stich gelassen. Im Herbst 1998 warnte UN-Generalsekretär Kofi Annan vor einer riesigen humanitären Katastrophe: Hunderttausende Menschen drohten für humanitäre Hilfe unerreichbar zu sein. Mit dem Regierungsantritt von Rot-Grün erlebten wir zugleich einen elementaren politischen Rollenwechsel. In der internationalen Krisen-politik müssen Regierungen (und die sie tragenden Fraktionen) im Hier und Jetzt unter den bestehenden Bedingungen entscheiden und handeln; Ende mit Wunschdenken; da gibt es auch nicht die Option eines „Schiebens“ auf irgendwann mal. Gehandelt werden muss in Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns – und auch Unterlassens. Und schließlich das Dilemma, wenn nur problematische, gar schlechte Optionen zur Verfügung stehen. Ich habe damals die NATO-Luftangriffe bezeichnet als „großes Übel zur Verhinderung eines unerträglichen Übels“. Für politisch (Mit-)Verantwortliche gab es aus meiner Sicht damals nur schuldbehaftete Optionen.

(Schaubild Vertriebenenzahlen aus dem Kosovo März bis Juli 1999) Die Ergebnisse des Kosovo-Luftkrieges waren sehr zwiespältig. Serbischer Vertreibungsterror und humanitäre Katastrophe, die durch die (Androhung der) NATO-Luftangriffe verhindert werden sollten, beschleunigten sich zunächst. Letztendlich konnte die serbische Regierung zum Einlenken gebracht, konnte die Totalvertreibung der Kosovo-Albaner verhindert und rückgängig gemacht werden. Nicht verhindert wurde, dass im Gegenzug ein Großteil der Kosovo-Serben flohen bzw. vertrieben wurden.

(Südosteuropäische Uni in Tetovo/Mazedonien mit Blick auf die Berge) Die rot-grünen Minister sperrten sich damals gegen unsere Forderung nach einer ehrlichen Bilanzierung des Kosovokrieges. Nichts desto weniger wurden zentrale Lehren gezogen:

Erheblich anders ging die Staatengemeinschaft nun mit den Gewaltzündlern im Presevotal im Jahr 2000 und in Mazedonien im Frühjahr 2001 um: Begünstigt durch den Wechsel zur Demokratie in Belgrad gab es ein kohärentes internationales Krisenengagement, wo konsequent auf die Hauptverantwortung der Konfliktparteien bei der Konfliktbearbeitung und eine politische Lösung gedrängt und wo Eskalationskalküle von Gewaltakteuren durchkreuzt wurden. In beiden Fällen gelang es, eine Gewaltexplosion zu verhindern. In Mazedonien wäre es andernfalls mit ziemlicher Sicherheit zu einem Bürgerkrieg mit grenzüberschreitender Wirkung gekommen. Die UN-mandatierten Kriseneinsätze von NATO und EU stoppten die Kriegsgewalt auf dem Balkan. Dass daraus noch kein nachhaltiger Frieden entstand, lag an verschiedenen politischen Akteuren. Dieser „unsichtbare“ Erfolg der Kriegsverhütung ist hierzulande kaum bewusst.

(Absolventen von ZIF-Kursen) Eine zweite Ebene von Lehren war der verstärkte Aufbau neuer Instrumente der Zivilen Krisenprävention, die im Koalitionsvertrag von 1998 versprochen worden waren: der Aufbau des Zivilen Friedensdienstes (zusammen mit zivilgesellschaftlichen Trägern), des Zentrums Internationaler Friedenseinsätze in Berlin, das weltweit einen hervorragenden Ruf hat,

 

(Maßnahmen zur Förderung ziviler Konfliktbearbeitung 1998/99) des Projekts „zivik“, der Gruppe Friedensentwicklung FriEnt, der deutschen Beiträge zu Internationalen Polizeimissionen, der Deutschen Stiftung Friedensforschung, des 2004 vom Bundeskabinett beschlossenen Aktionsplans Zivile Krisenprävention. Das Projekt PeaceCounts, von dem heute hier die ausgezeichnete Ausstellung „Die Erfolge der Friedensmacher“ zu sehen ist, bekam damals eine mehrjährige Starthilfe durch das Auswärtige Amt.( http://www.peace-counts.org/buchen/ausstellungen/ )

Afghanistan

(Solidaritätskundgebung am 14. September 2001 mit 200.000 Menschen am Brandenburger Tor) Erstes und ausschlaggebendes Motiv für die deutsche Beteiligung an der US-geführten Antiterror-Operation „Enduring Freedom“ und am Afghanistaneinsatz war die Solidarität mit den USA nach den Terrorangriffen von New York und Washington. Hinzu kam als zweites Motiv die Beseitigung der Ausbildungsstrukturen für internationale Kämpfer und Terroristen in Afghanistan – laut früheren Resolutionen des UN-Sicherheitsrates eine Bedrohung von internationaler Sicherheit und Weltfrieden. Als das Taliban-Regime schneller als erwartet zusammenbrach, kam als drittes Motiv die Aufbauhilfe und Sicherheitsunterstützung für das seit mehr als 20 Kriegsjahren zerrüttete Land hinzu. Während der Antiterror-Einsatz sehr umstritten war und die rot-grüne Koalition dabei knapp an ihrem Bruch vorbeischrammte, fand das ISAF-Mandat der Aufbauabsicherung eine sehr große Zustimmung.

(Unterwegs mit einer leichten Bundeswehrpatrouille auf einem Markt in Kabul 2003) Diese Szene 2003 im Gewusel der Hauptstadt Kabul ist in mehrfacher Hinsicht exemplarisch: Die Soldaten so leicht bewaffnet unterwegs, wie man sich das schon seit Jahren nicht mehr vorstellen kann. Ausdruck des „light footprint“-Ansatzes: „Ja nicht Besatzer sein!“ In Berlin und anderen Hauptstädten war sehr bewusst, dass es aussichtslos und selbstmörderisch wäre, den Afghanen mit Militär einen fremden Willen aufzwingen zu wollen. Das britische Weltreich scheiterte damit verheerend im 19. Jahrhundert, die sowjetische Supermacht in den 80er Jahren. Ein zweites: Bei eine solchen Patrouille waren US-Soldaten zu dem Zeitpunkt nie zu sehen. Aufbauunterstützung galt in den Augen der Bush-Administration als unnötig und als Feld schwacher Nationen. Die USA konzentrierten sich auf rein militärische Terrorbekämpfung und hatten ihren Schwerpunkt längst auf den Krieg gegen das Saddam-Regime verlagert. Der hierbei zutage tretende strategische Dissens zwischen Verbündeten gegenüber Afghanistan, gepaart mit Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung auf US-Seite, wurde auf der politischen Ebene jahrelang nicht ausgetragen.

Auch wenn die „Aufbauunterstützer“ deutlich mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahmen, auch sie unterschätzten die Herausforderung des Aufbaus Afghanistan gewaltig.

(Aufruf von 79 internationalen Organisationen vom 17. Juni 2003) Im Juni 2003 forderten 79 internationale humanitäre Organisationen (darunter CARE Int., Caritas Int., Global Action to Prevent War, Human Rights Watch, International Crisis Group, Oxfam Int., Pax Christi Int., Save the Children USA/GB, World Vision AFG/USA) ein umfassendes NATO-Mandat für Afghanistan. Vermehrt war es inzwischen in Außenprovinzen zu Kämpfen zwischen Warlords und ihren Truppen gekommen.

(Region Nord mit den wichtigsten Warlords und Power Brokers) Die Region Nord (1.200 x 400 km) mit ihren Machthabern und Gewaltakteuren: Mit einigen Hundert ISAF-Soldaten gab es da von vornerein nicht die Option militärischer „Friedenserzwingung“. Den Offizieren war klar, dass sie keine militärische „Lösung“ erzwingen, sondern nur Zeit für eine politische Konfliktlösung „kaufen“ konnten.

(Auftrag des PRT Kinduz) Der Auftrag der Provincial Reconstruction Teams (PRT) war von vorneherein multidimensional angelegt: sicheres Umfeld, Beratung + Ausbildung von Sicherheitskräften, Aufbau demokratischer Strukturen, Maßnahmen zu Aufbau und Entwicklung.

Der fundamentale Mangel hierbei war: Die Ziele waren nicht in ein Gesamtkonzept/Strategie eingebettet, nicht konkretisiert und überprüfbar.

Die Träger der verschiedenen Teilaufträge waren höchst unterschiedlich aufgestellt. Die militärische Seite – trotz ihrer strategischen Schwäche – bei weitem am besten; die Entwicklungszusammenarbeit mit ihren relativ vielen Ortskräften mit der Zeit aufwachsend; die Polizei und Diplomatie bis 2008/9 quantitativ äußerst schwach.

(Besuch in eine Koranschule in Kunduz im Mai 2007) Fast jedes Jahr besuchte ich seit 2004 Kunduz. Sehr hoffnungsvoll war, was sich bis Mai 2007 getan hatte, mit den Straßen, Märkten, Schulen, Wasserversorgung etc. Auf die Frage, wie sich die Bundeswehrsoldaten verhalten würden, antwortete ein Koranschüler: „Die verhalten sich anständig!“ In einem Land, wo Ehre und Respekt eine zentrale Rolle spielen, ist ein solches Urteil über ausländische Soldaten ein überraschendes, ein Besturteil.

(Umfrageergebnisse: Wirkungen der EZ und internationalen Truppen 2005-2009) Eine seriöse sozialwissenschaftliche Umfrage eines Forscherteams der FU Berlin in den Provinzen Kunduz und Takhar ergab, dass 2005 80% der Befragten die Verbesserung der Sicherheitslage den internationalen Truppen zuschrieben. Tatsächlich wirkten ISAF/Bundeswehr bis 2007 erfolgreich als Pufferkraft. In den ersten vier Jahren des ISAF-Einsatzes war die Bundeswehr in einen (!) Schusswechsel verwickelt (bei sieben Angriffen mit Sprengfallen fielen aber acht Soldaten, wurden 40 verwundet). Zwei Wochen nach unserem Besuch wurden auf dem Markt von Kunduz bei einem Selbstmordanschlag drei Bundeswehrsoldaten und sieben afghanische Zivilisten zerfetzt. Danach zeigte sich, dass vor Ort erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit keinen Schutz bewirkte gegenüber verstärkt einsickernden Gewaltakteuren.

(Blick im Oktober 2008 vom „Plateau Kunduz“ auf eine Landschaft, aus der immer wieder ungelenkte Raketen auf das Feldlager gefeuert wurden) Der PRT-Kommandeur eröffnete uns, den Obleuten des Verteidigungsausschusses, im Oktober 2008, man habe gegenüber den Aufständischen die Initiative verloren. Bei Politiker ist sowas begrenzt schlimm, da lässt sich die Initiative ggfs. im nächsten Jahr zurückgewinnen. Für einen Kommandeur im Umfeld eines steigenden Gewaltniveaus an Anschlägen, Hinterhalten, Raketenbeschuss bedeutet der Verlust der Initiative hingegen eine äußerst bedrohliche Lage. Zurück im Verteidigungs-ausschuss berichteten wir davon. Die „erste Reihe“ des Ministeriums antwortete, dass sei die Sicht „von unten“. Diese „Antwort“ stand exemplarisch für die jahrelange Realitätsverweige-rung in der politischen Führung gegenüber der Konfliktverschärfung in Afghanistan. Ab April 2009 waren die Bundeswehrsoldaten zunehmend mit komplexen Hinterhalten und Gefechten konfrontiert. Unabhängig vom unveränderten, friedlich klingenden strategischen Ziel der Stabilisierung standen die Soldaten vor Ort im Krieg. Mit dem Luftangriff von Kunduz am 4. September 2009 zerplatzte die regierungsoffizielle Realitätsverleugnung.

(Schaubild sicherheitsrelevante Vorfälle landesweit/Region Nord 2009-2011) Der von den USA unter dem neuen Präsidenten Obama angestoßene Wechsel zur umfassenden Counterinsurgency-Strategie brachte wohl erstmalig seit vielen Jahren einen Rückgang der Sicherheitsvorfälle, aber keinen Durchbruch zu einer nachhaltigen Besserung der Sicherheitslage. Der Abzug der ISAF-Kampftruppe Ende 2014 (und der Übergang zu der wesentlich kleineren Beratungsmission Resolute Support) hinterließ kein sicheres Umfeld, im Gegenteil: Die Zahl der Zivilopfer, aber auch der Opfer unter den afghanischen Sicherheitskräften, sind so hoch wie nie zuvor seit 2002. (vgl. Zusammenfassung UNAMA-Report Zivilopfer 1. Hj. 2016, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1421 )

(Demo der 20.000 am 11. November 2015 in Kabul gegen die Ermordung der Zabul-Seven)

Inzwischen formiert sich zunehmend öffentlicher Protest gegen die Massaker-Anschläge der Aufständischen. Die Demonstration in Kabul und vielen anderen Städten gelten als die größten in Afghanistan seit mehr als 40 Jahren. Hierzulande wurden sie auch wegen der Terrorangriffe in Paris am 13. November nicht wahrgenommen.

 

(Überreste der Anschlagsopfer vom 23. Juli 2016) Mehr als 10.000 Menschen, insbesondere schiitische Hazara, demonstrierten in Kabul gegen den Verlauf einer geplanten Stromtrasse, als sich zwei Selbstmordattentäter kurz vor der Gebetspause in die Luft sprengten, 85 Menschen töteten und 413 verwundeten. Es war der erste Anschlag auf eine friedliche Demonstration. Daesh/IS bekannte sich zu dem Massenmord.

(Blick auf die fertig gestellte Berufsschullehrerakademie in Takhta Pul bei Mazar-e Sharif) Trotz alledem: Erstaunlich ist, wieviel immer noch an Aufbauprojekten läuft. Das merkte ich bei meinem letzten Afghanistanbesuch im November 2016. Afghanistan ist tatsächlich weiterhin  d a s  Schwerpunktland deutscher Aufbauhilfe und Entwicklungszusammenarbeit!

Kongo

(Bild am Sonntag am 1. Juni 2003 zu Ituri/Ostkongo) Im Frühsommer 2003 wurde bekannt, dass sich in der kongolesischen Nordostprovinz Ituri der Milizen-Terror immer mehr radikalisierte, dass die UN-Mission MONUC viel zu schwach war, um ein drohendes Großmassaker zu verhindern. Entsandt wurde eine von Frankreich geführte, u.a. von Deutschland unterstützte überbrückende EU-Mission („Artemis“). Landeskenner berichteten später, dass wohl ein Großmassaker erfolgreich verhindert worden sei.

(Besuch bei kongolesischen Wahlhelfern) Im Sommer 2006 sollten in der Demokratischen Republik Congo die ersten Parlaments- und Präsidentenwahlen seit der Unabhängigkeit 1960 stattfinden, nach jahrelangem Krieg mit mehreren Millionen Opfern. Wahlen beinhalten in solchen Situationen ein besonderes Eskalationspotenzial, eine Absicherung war nötig. Diese sollte neben MONUC auch eine EU-Mission sicherstellen. Mit den MdB Elke Hoff (FDP) und Hans-Christian Ströbele erkundete ich die Lage in Kinshasa. Wir erfuhren, wie enorm stark die kongolesische Zivilgesellschaft und die katholische Kirche sind – bei einem durch und durch kaputten Staat – und wie sehr sie auf die Wahlen hofften. Das Missionsziel eines einigermaßen regulären Wahlablaufs wurde erreicht.

(SZ-Artikel nach meinem Besuch im Ostkongo 2008) Viele hatten gehofft – und wir hatten politisch gedrängt -, dass die deutsche Teilnahme an EUFOR DRC ein Türöffner würde für ein stärkeres deutsches und europäisches Engagement insbesondere gegen die Hölle auf Erden, die der Milizen-Terror im Osten gerade für Frauen bedeutet. Die politische Wirklichkeit war: Schnell wieder wegsehen! Verweigerte Schutzverantwortung!

UN-Friedenssicherung

(UN-Generalsekretär Kofi Annan nach der Verleihung des Westfälischen Friedenspreises in Münster) Im Jahr 2005 stellte Kofi Annan fest: In den vergangenen 15 Jahren seien so viele Bürgerkriege durch Verhandlungen und mit wesentlicher Unterstützung der UN beendet worden wie in 200 Jahren zuvor nicht. Eine große Bilanz! Aber: Die Hälfte dieser Länder sei binnen fünf Jahren wieder in die Gewalt zurückgerutscht. Deutlich werde damit, wie dringlich eine internationale Unterstützung bei der post-conflict-Stabilisierung sei.

(Übersicht der UN-Missionen, Stand Juni 2015) Von den zzt. 16 UN-geführten Missionen zzt. (zu unterscheiden von bloß UN-mandatierten Missionen) sind nur noch drei des ursprünglichen Modells des Auseinanderhaltens von Konfliktparteien. Die anderen sind für ein breites Aufgabenspektrum mandatiert (multidimensional), darunter inzwischen fast immer auch der Schutz der Zivilbevölkerung. Sie stützen sich neben Soldaten zunehmend auch auf Polizisten und Zivilexperten. Ihre Kernprobleme sind unklare Mandate und ihre unzureichende personelle und materielle Ausstattung. Trotzdem gelten UN-Missionen insgesamt als die erfolgreichsten Instrumente der Friedenssicherung in Konfliktländern.

Von Dag Hammarskjöd, dem zweiten UN-Generalsekretär stammt der Satz: Die UN wurde „nicht gegründet, um der Menschheit den Himmel zu bringen, sondern um sie vor der Hölle zu bewahren.“ In dieser Hinsicht hat die UN enorm was geleistet.

(General a.D. Romeo Dallaire „Accountability Inaction is an action“) Der kanadische General Dallaire leitete 1994 eine Blauhelmmission in Ruanda. Er warnte, er drängte – und bekam keine Verstärkung. Binnen drei Monaten wurden mehr als 800.000 Menschen wurden abgeschlachtet. Vorhergesagt, verhinderbar! (vgl. Völkermord in Ruanda – auch wir sahen weg! http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1279 )

(Die Artikel 138 und 139 der Abschlusserklärung des UN-Weltgipfels 2005) Die vom Weltgipfel beschlossenen zentralen Sätze der Responsibility to Protect (RtoP): Die Verantwortung der Staaten zum Schutz ihrer eigenen Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Pflicht der Staatengemeinschaft, dabei behilflich zu sein. Die Bereitschaft der Staatengemeinschaft in Einzelfällen, wo dieser Schutz nicht geleistet wird, auch mit kollektiven Maßnahmen einzugreifen. (Wolfgang Heinrich ging in seinem Eröffnungsvortrag ausführlich auf die Schutzverantwortung ein. Also fasse ich mich hier dazu kurz. Vgl. mein umfassender Beitrag von 2012 http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1145 )

(Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über die Libyen-Resolution am 17. März 2011) Die Operationalisierung, gar Umsetzung der Schutzverantwortung geschah lange Zeit nur zögerlich. In den Grundlagendokumenten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik (zuletzt dem Weißbuch zur Sicherheitspolitik von 2016) verpflichtet sich die Bundesregierung bisher nirgendwo auf die Schutzverantwortung. Angesichts der von Nazi-Deutschland betriebenen Völkermorde ist das unbegreiflich.

Überraschend aktiviert wurde die Schutzverantwortung am 17. März 2011, als der UN-Sicherheitsrat im Hinblick auf Libyen unter expliziter Bezugnahme auf die RtoP die Mitgliedsstaaten zu allen notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ermächtigte. Was zunächst als Bekräftigung der RtoP erschien, wurde mit der Zeit zu einem gigantischen Rohrkrepierer. Die in Libyen mit ihren Luftstreitkräften intervenierenden 16 Staaten, angeführt von Frankreich, USA, Frankreich und Großbritannien, beließen es nicht beim unmittelbaren Schutz der Zivilbevölkerung, sondern weiteten ihren Einsatz aus auf den Sturz des Gaddafi-Regimes. Gegen das wachsende Chaos der Nach-Gaddafi-Zeit wurde keinerlei Vorsorge getroffen. Der im September 2016 vorgelegte Untersuchungsbericht des Auswärtigen Ausschusses des britischen Unterhauses kam zu dem Ergebnis, dass die britische Regierung auf der Grundlage unzureichender Geheimdienstinformationen und einer mangelhaften Lageeinschätzung eine undurchdachte Militärintervention beschlossen habe, die zu mehr politischer Instabilität, wirtschaftlichem Zusammenbruch und dem Erstarken des Islamismus führte.

Am 30. März ermächtigte der UN-Sicherheitsrat in einer zweiten RtoP-Resolution die UN-Mission in der Elfenbeinküste und die sie unterstützende französische Truppe zum Schutz der Zivilbevölkerung. Dieser RtoP-Einsatz mit Truppe am Boden gilt als erfolgreich. Er soll eine Bürgerkriegseskalation gestoppt haben.

Krisenstürme (nur angedeutet)

(Karte der Nordhälfte Afrikas: Krisenherde, Drogenhandel, Militäroperationen, Friedensmissionen) Exemplarisch der Nordteil des afrikanischen Kontinents: Die Gleichzeitigkeit von grenzüberschreitenden Krisen und Kriegen, in Ursachen und Wirkungen vielfach verknüpft.

(Übersicht der humanitären Großkrisen 2016) Die Zahl der größeren Bürgerkriege stieg von vier im Jahr 2007 auf elf in 2014. 2016 gab es weltweit elf humanitäre Großkrisen Level 3, sieben weitere Länder galten als hoch gefährdet. De Bedarf an humanitärer Hilfe stieg seit 2004 um 600%.

(Sowjetischer Einmarsch in Lettland Juni 1940, Okkupationsmuseum Riga) Seit der Annexion der Krim und der hybriden russischen Kriegführung in der Ukraine brechen in Osteuropa traumatische kollektive Erinnerungen auf. Bedrohungsängste wachsen angesichts des „Schutzversprechens“ der russischen Führung für die russischen Minderheiten. Wo die kleinen baltischen Länder über keine relevante Verteidigungsfähigkeit verfügen, sind sie als NATO- und EU-Mitglieder umso mehr auf „Rückversicherung“ angewiesen.

Zentrale Schlussfolgerungen

1. (Bundespräsident a.D. Horst Köhler am 15. Oktober 2015 als Festredner zu 70 Jahre UN) Eine Rückbesinnung auf die UN, ihre Werte und Normen, stärkere Unterstützung ihrer (Unter-)Organisationen, ihrer Missionen. Wo in der Welt so viel aus den Fugen ist, ist die praktische Zusammenarbeit auf vielen Ebenen der UN-Welt umso wichtiger. Köhler rief in seiner Festrede dazu auf, die Weltpolitik in dem Boot zu koordinieren, in dem die Völker schon längst sitzen. Deutlich sprach er sich für die Beachtung des „globalen Allgemeinwohls“ aus.

2. (OSZE-Parlamentarierversammlung im Plenarsaal des Bundestages) Die Organisation für Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat gerade in den 90er Jahren Enormes für die friedlichen Übergänge in vielen Ländern geleistet. Sie nach jahrelanger Schwächung wieder zu stärken, ist gerade angesichts der gestörten Friedensordnung in Europa von besonderer Dringlichkeit. Seitdem der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) keinen wirksamen Beitrag mehr zu militärischer Zurückhaltung und Berechenbarkeit leistet und Gefahren einer militärischen Konfrontation wachsen, ist eine Neubelebung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa dringend notwendig. Der Vorschlag von Außenminister Steinmeier eines strukturierten Dialogs zur Wiederbelegung der konventionellen Rüstungskontrolle war ein richtiger Vorstoß.

3. (Schaubild The Transformation Timeline“: die verschiedenen Handlungsfelder auf der Zeitachse) Drittens: Friedens- und Sicherheitspolitik braucht ganzheitliche, strategische Ansätze, Abstimmung und Kohärenz der verschiedenen Politikfelder.

4. (Globale Spitzen-Vermittler: UN-Sondergesandte) Friedlicher Interessenausgleich und Streitbeilegung brauchen immer wieder Vermittler, Mediatoren, Dialog. Kofi Annan, Lakhdar Brahimi, Mary Robinson, Heile Menkerios, Staffan de Mistura, Martin Kobler sind besonders erfahrene und bekannte Friedensstifter.

(Dialogprojekte, gefördert durch zivik, sichtbar gemacht durch PeaceCounts) Dialog und Vermittler werden auf verschiedenen Ebenen von Politik und Gesellschaften gebraucht. Gut ist, dass die Bundesregierung inzwischen Mediationsfähigkeiten systematisch aufbaut.

5. (Liste problematischer Empfängerländer von deutschen Rüstungsexporten) Do no harm, bei eigener Politik ungewollte negative Folgen zu vermeiden, ist ein Grundsatz der Entwicklungszusammenarbeit, der aber für alles Ressorts und Politikfelder gelten muss. Rüstungsexporte in Krisengebiete stehen beispielhaft für kontraproduktive Wirkungen und Inkohärenz in der Sicherheitspolitik.

6. (Schaubild von Common Effort – zwanzig Akteure ziehen an einem Strick) „Keiner schafft es allein“ ist die Grunderfahrung aller Krisenengagements und Friedensförderung, kein Land, kein Ressort, kein Akteur. Wo die Ziele auf operativer Ebene zusammenpassen, da ist ressortübergreifendes, ressortgemeinsames Analysieren, Ausbilden, Üben, Planen, Auswerten angesagt. Die Interaktion zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren klappt dann am besten, wenn man sich und die jeweiligen Stärken und Schwächen näher kennt und unterschiedliche Rollen respektiert.

7. (SZ-Artikel „Krisenhelfer ohne Waffen“, 11.2.2015) Anfang 2015 lud Bundespräsident Gauck zivile Friedensexperten ins Schloss Bellevue ein. Die Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit solcher Fachleute ist inzwischen unbestritten, offensichtlich ist aber auch, dass es noch viel zu wenige davon gibt. Überfällig ist ein „Aufholprogramm für zivile Friedensförderung“!

8. (AA-Maßnahmen zur Syrien-Stabilisierung) Gerade wo sich Krisen und Konflikte häufen, kommt es darauf an, Möglichkeiten und Chancen der Friedensförderung zu identifizieren, zu fördern. Ein Beispiel: Von Auswärtigem Amt und Entwicklungsministerium geförderte Projekte für Stabilisierung und Aufbau in gerade vom IS befreiten Gebieten in Syrien.

9. (Tag des Peacekeepers 2016) Das Gedränge näher rückender Großkrisen und Kriege, gepaart mit der Zunahme an politischen Geisterfahrern in Spitzenpositionen, kann einen wahrlich deprimieren. Umso wichtiger sind solche Frauen und Männer, die alljährlich bei Tag des Peacekeepers in Berlin auf Einladung der Ministerien für Äußeres, Verteidigung und Entwicklung zusammenkommen. Es sind in Kriseneinsätzen erfahrene Profis und Kollegen  mit Leidenschaft, Bodenhaftung, Nüchternheit, langem Atem – und erstaunlich viel Humor.

Sie sind Mutmacher! Hartnäckig für Frieden in unfriedlichen Zeiten. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=81&aid=1406 )

Winfried Nachtwei, Münster, MdB 1994-2009, ( www.nachtwei.de ), Ko-Vorsitzender Beirat Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt,  Vorstand Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen und „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, AG „Gerechter Friede“/Justitia et Pax


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch