Eine Minsk/Weißrussland-Reise vor dreißig Jahren brachte bei mir einige Steine ins Rollen: vier Jahre Prozessbeobachtung, Riga-Deportationen, "Entschädigung", würdige Erinnerung + Riga-Komitee, friedens- und sicherheitspolitische Operationalisierung des doppelten "Nie Wieder!"
Begegnungsreise nach MINSK in Weißrussland vor
30 Jahren – Anstoß zu weiterer Erinnerungsarbeit und
friedenspolitische Konsequenzen
Winfried Nachtwei, August 2018
Am 12.-19. August 1988, vor genau 30 Jahren, unternahm die Friedens-AG von GAL/GRÜNEN Münster eine Begegnungsreise nach Minsk im noch sowjetischen Weißrussland. Es war die Zeit von Perestroika und Glasnost, der Umgestaltung und Öffnung des sowjetischen Systems unter Michail Gorbatschow. Nach Gesprächen u.a. mit Stadtplanern, Deutschlehrerinnen, einem bekannten belarussischen Geschichtsprofessor diskutierten wir intensiv bei einem Tagesseminar mit Mitgliedern des Belorussischen Friedenskomitees über das Wettrüsten, das aktuelle Mittelstreckenabkommen und ökologische Fragen.
Als eine der ersten Reisegruppen aus Westdeutschland nahmen wir die Spuren des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion auf. Am 14. August besuchten wir die Gedenkstätte Chatyn ca. 60 km von Minsk entfernt. Das Dorf Chatyn war am 22. März 1943 von einer SS-Einheit mit seinen 149 Einwohnern, darunter 75 Kindern, verbrannt worden. Insgesamt 186 Dörfer mitsamt ihrer Bevölkerung verbrannten die deutschen Besatzer. Dass diesem Vernichtungskrieg ein Viertel der weißrussischen Bevölkerung zum Opfer fiel, war in Deutschland damals nahezu unbekannt. Auch heute ist es noch ziemlich wenig bekannt.
Den sowjetischen Veteranen und Mitgliedern des Friedenskomitees übergaben wir die Dokumentation „Spuren des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und anderer Kriege gegen Russland im Münsterland“, die ich vorher zusammengestellt hatte. Hierin sind die 14 Wehrmachtsdivisionen mit ihren Marschstrecken sowie 16 Polizei-Bataillone aufgelistet, die allein im Wehrkreis VI (Rheinland und Westfalen), Stab in Münster, für den Krieg gegen die europäischen Nachbarn aufgestellt worden waren. (Ihre Geschichte ist bis heute nicht erforscht!)
Der Bericht von dieser Pioniereise ist jetzt öffentlich zugänglich unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1540 , Fotos unter www.facebook.com/winfried.nachtwei , die Dokumentation unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1541
Für mich als Geschichtslehrer und friedensbewegten Grünen wurden die aufwühlenden Reiseerfahrungen zum Anstoß für weitere Spurensuche und Erinnerungsarbeit:
Maikovskis-Prozess: Am 17. Oktober 1988, zwei Monate nach Besuch der Gedenkstätte Chatyn, berichtete die Tagesschau von dem mutmaßlichen, in Münster lebenden Kriegsverbrecher Boleslavs Maikovskis. Dem ehemaligen Hauptmann der lettischen Hilfspolizei wurde vorgeworfen, maßgeblich an der Ermordung von 170 Einwohnern des ostlettischen Dorfes Audrini im Januar 1942 beteiligt gewesen zu sein. Ich wurde hellhörig, fand in meinem Archiv Dokumente zu Audrini und gab sie an den WDR weiter. Kurz später machte mich Paul Wulff, NS-Opfer und Antifaschist, auf den Bericht des Münsteraners Siegfried Weinberg aufmerksam, der im Dezember 1941 mit 390 jüdischen Menschen aus Münster und dem Münsterland im sog. „Bielefelder Transport“ ins Ghetto Riga deportiert worden war. So kamen Steine ins Rollen:
„Reichsjudenghetto“ Riga: Im Sommer 1989, bei aufbrandender Unabhängigkeitsbewegung im Baltikum, besuchten meine Frau Angela und ich erstmalig die lettische Hauptstadt Riga. Hier stießen wir auf die weitgehend erhaltenen Straßenzüge des früheren Ghettos, auf Dutzende Massengräber – vergessene, verlorene Orte. Wir begegneten Überlebenden des lettisch-jüdischen Ghettos, gewannen Freunde.
Am 12.12.1989, am 48. Jahrestag der Riga-Deportationen, hielt ich im Regenbogensaal der Grünen an der Bremer Straße erstmalig den Vortrag „Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga“, dem bis 2018 rund 200 weitere folgten. Im Dezember 1991 fanden zum 50. Jahrestag der Deportationen erstmalig bundesweit an verschiedenen Herkunftsorten Gedenkveranstaltungen an die nach Riga Deportierten statt.
Parallel erlebten wir über unsere Freunde in Lettland den bewundernswert gewaltfreien, singenden und erfolgreichen Unabhängigkeitskampf und die Befreiung von über 45 Jahren Sowjetherrschaft, von über 50 Jahren sowjetisch-deutsch-sowjetischer Okkupation. (Rede von 1991 www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1533 )
1990 bis 1994 beobachteten und begleiteten Angela, Anna Neuhof und ich den Maikovskis-Prozess am Landgericht Münster, der schließlich nach 206 Sitzungen wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt wurde. (http://www.wn.de/Muenster/2014/03/1479397-Vor-20-Jahren-wurde-der-Prozess-gegen-Boleslavs-Maikovkis-eingestellt-Verbrechen-ohne-Suehne )
Villa ten Hompel und Polizei-Bataillone: Bei Forschungen zu den Riga-Deportationen begegnete mir in den Aktenbeständen des Staatsarchivs Münster erstmalig die Adresse Kaiser-Wilhelm-Ring 28, "Höherer SS- und Polizeiführer beim Oberpräsidenten von Westfalen, Hannover, Rheinprovinz und beim Reichsstatthalter in Lippe und Schaumburg-Lippe im Wehrkreis VI, i.V. BdO Dr. Lankenau", und seine Verwicklung in die Bewachung der Deportationszüge und Aufstellung von Reserve-Polizei-Bataillonen für den Kriegs- und Vernichtungseinsatz. Von den insgesamt 16 Polizeibataillonen aus dem Wehrkreis VI waren elf ab Sommer 1941 in Polen und der Sowjetunion im Einsatz. Verfahren der westdeutschen Justiz gegen ehemalige Angehörige von neun dieser Bataillone ergeben zweifelsfrei, dass diese dort umfassend am Holocaust beteiligt waren. Das Polizeibataillon 309 (Köln) verbrannte und erschoss am 27. Juni 1941 in der Synagoge Bialystok über 2000 Jüdinnen und Juden. Es war schon sehr auffällig: Während die Forschungen zu den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft inzwischen auf eine gute öffentliche Resonanz stießen, liefen Forschungen und Vorträge zu Polizei- und Wehrmachtsverbänden, also zu potentiellen (Mit-)Täterspuren vor der „eigenen Haustür“, weitgehend ins Leere. So kann es nicht verwundern, dass die Geschichte der Villa ten Hompel im NS-Terrorsystem fünfzig Jahre verborgen blieb.
Erst als sich 1994 für den Regierungspräsidenten in Münster die Frage der weiteren Verwendung der Villa ten Hompel stellte und ich eine Historische Skizze zu ihrem Hintergrund und ihrer möglichen Verwendung vorlegte, kam der Stein ins Rollen. Im Sommer 1996 beschloss der Rat der Stadt Münster, vom Land NRW die Villa ten Hompel zu kaufen und in ihr eine Erinnerungs- und Studienstätte zum Nationalsozialismus einzurichten. Diese wurde am 13. Dezember 1999, am 58. Jahrestag der Riga-Deportation, eröffnet. Vorher war von der Opposition der historische Stellenwert des BdO-Sitzes bezweifelt und waren die Projektkosten kritisiert worden. Dank der hervorragenden Arbeit des Teams der Villa mit den Leitern Alfons Kenkmann und Christoph Spieker ist die Villa seit Jahren hoch anerkannt: in Münster, bundesweit und international. (http://nachtwei.de/downloads/beitraege/Pol-Btl-Artikel.pdf )
Solidarität mit Holocaust-Überlebenden: Bei der ersten, von Münster aus organisierten Erinnerungsreise nach Riga stießen wir 1993 auf den Skandal, dass ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS aus Deutschland eine Kriegsversehrtenrente beziehen konnten, ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge aber keinen Pfennig bekamen. Den Aufruf für eine würdige „Entschädigung“ von Holocaust-Überlebenden im Baltikum unterstützten viele Oberbürgermeister und Stadträte, darunter die von Münster, Osnabrück und Bielefeld. Während einzelne BürgerInnen in Göttingen, Leipzig, Bremen, Münster, Freiburg für eine Soforthilfe für die Holocaust-Überlebenden sammelten, kam im Bundestag unser „Gruppenantrag“ von einzelne Abgeordneten der Union, SPD, Grünen und FDP gegen den Finanzminister nicht durch. Erst eine internationale Skandalisierung mit Hilfe des Amercan Jewish Committee brachte die verstockte Bundesregierung 1997 zum Einlenken.
Der andere Skandal war die verdrängte Erinnerung: Mit Hilfe eines sich öffnenden Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge entstand im Jahr 2000 das Deutsche Riga-Komitee als Zusammenschluss von zunächst 13 Herkunftsorten der Riga-Deportationen, darunter auch Münster. Das Komitee sollte die Errichtung einer würdigen Gedenkstätte an Stadtrand von Riga im Wald von Bikernieki, wo die Nazis und ihre Helfershelfer mehr als 35.000 Menschen erschossen hatten, unterstützen und die Erinnerung an die hier ermordeten Menschen lebendig halten. Mit heute 56 Mitgliedsstädten ist das Riga-Komitee ein in der deutschen Erinnerungskultur einzigartiges Netzwerk. Inzwischen sind dabei Brücken der Erinnerung zwischen Nationen (Deutschland, Lettland, Österreich, Tschechien), zwischen Generationen und Erinnerungsmilieus entstanden. Engagierte Jugendliche in Schulprojekten, in Workcamps des Volksbundes übernehmen den Stab der Erinnerung. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1490 )
Viele Jahrzehnte der Verdrängung – endlich nachholende Erinnerung: 50/60 Jahre brauchte es, bis in würdiger Weise an die Opfer des Naziterrors in Riga dort und in Deutschland erinnert wurde.
Über 70 Jahre brauchte die Öffnung der Erinnerung in Minsk in Belarus, wo am 30. Juni die Gedenkstätte Malyj Trostenez eröffnet wurde, am Ort der größten NS-Vernichtungsstätte in der ehemaligen Sowjetunion, im Beisein der Präsidenten von Belarus, Deutschland und Österreich. Als Kuratoriumsmitglied des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) Dortmund und in der Delegation des Volksbundes nahm ich an der Gedenkfeier statt. Mein Bericht zur Trostenez-Eröffnung unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1534
Politische Konsequenzen: Diese Spurensuche und Erinnerungsarbeit seit 1988, die menschlichen Begegnungen mit vielen Dutzenden ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlingen, die Konfrontation mit den Tausenden Experten, Vollstreckern und Helfershelfern der zahllosen Massenmorde im Osten – das alles wurde zum entscheidenden Motivationsgrund meiner weiteren friedens- und sicherheitspolitischen Arbeit - Operationalisierung des doppelten „NIE WIEDER!“
- zur Verhütung und Eindämmung von Kriegsgewalt, insbesondere Zivile Krisenprävention und UN-Friedenssicherung,
- zum Schutz vor Massengewalt (Schutzverantwortung, Responsibility to protect)
- zur Friedensförderung.
Vortragsangebote (alle illustriert)
- „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga“: http://nachtwei.de/downloads/Angebot-70-Riga-homepage.pdf
- „Anstöße zur Erinnerung und zum Nachdenken: Münster, Riga, Stalingrad, München“ in Erinnerung an die Medizinstudenten, Sanitätsfeldwebel und Widerstandskämpfer Hans Scholl, Alexander Schmorell und die „Weiße Rose“: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1535
- „Nie wieder!“ Nie wieder? Verantwortung zum Schutz vor Kriegs- und Massengewalt“: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=108&aid=1378
- „Grüne Bosnien-Reise vor 20 Jahren: Schlüsselerfahrungen und was daraus wurde – Bilanz und Lehren angesichts aktueller Krisenstürme“: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1426
- „Zivile Krisenprävention und Friedensförderung - ihre Entwicklung, Erfahrungen und Perspektiven“: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1531
- „Deutsche Beteiligungen an internationaler Krisenbewältigung: Erfahrungen, selbstkritische Bilanz, Perspektiven“ (Balkan, Afghanistan, Afrika): http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=108&aid=1395
- „Friedensbewegung im Münsterland“ – Bericht und Bilanz eines Beteiligten: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1529
Münster, 16. August 2018, Winfried Nachtwei
Vorstand „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Mitglied in den Beiräten Zivile Krisenprävention/Auswärtiges Amt, Innere Führung/Verteidigungsministerium und der Katholischen Friedensstiftung
winfried@nachtwei.de , www.nachtwei.de , www.facebook.com/winfried.nachtwei
0251-86530, 0170-3148779
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: