Dass 1990 bis 1994 in Münster einer der letzten NS-Kriegsverbrecherprozess lief, ist Jüngeren kaum bekannt. Das Auftauchen des Angeklagten 1988 in Münster wurde zu einem Anstoß für meine Spurensuche zum NS-Terror im deutsch besetzten Lettland: Täterspuren, Opferspuren. Hier Berichte zu unsere Prozessbeobachtung und -begleitung über vier Jahre.
Schon wieder vergessen? Vor 20 Jahren endete der NS-Kriegsverbrecherprozess gegen B. Maikovskis in Münster –
Bericht + Bilanz nach vier Jahren Prozessbeobachtung
Winfried Nachtwei (2014/1996)
Am 11. März 1994 endete nach 205 Sitzungstagen vor dem Landgericht Münster der Kriegsverbrecherprozess gegen Boleslav Maikovskis wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten. Der Prozess hatte im Januar 1990 begonnen. Der ehemalige Hauptmann der lettischen Hilfspolizei war angeklagt, Anfang 1942 maßgeblich an der Erschießung von 170 Bewohnern des Weilers Audrini in Ostlettland beteiligt gewesen zu sein. Die Auslöschung von Audrini war eine der ersten demonstrativen Dorfvernichtungsaktionen der Nazis und ihrer Helfer, lange vor Lidice und Oradour. Es war zugleich die Spitze eines Eisbergs an Massenmord, dem allein in der Kreisstadt Rezekne ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Als die New York Times im Oktober 1988 berichtete, dass B. Maikovskis in Münster, der „Hauptstadt der Exilletten“ lebte, wurde ich hellhörig – und beobachtete und begleitete das Verfahren über mehr als fünf Jahre.
In der vom NRW-Justizministerium herausgegebenen „Juristischen Zeitgeschichte“, Bd. 4 („NS-Verbrechen und Justiz“, Düsseldorf 1996) nahmen vier Prozessbeteiligte (zwei Richter, der Übersetzer und ich) aus ihren Perspektiven zum Prozess Stellung: „Die Vernichtung von Audrini, seine justizförmige Bearbeitung (1944-1994) und die Öffentlichkeit“. Hier meine Beiträge zu
- Außensichten des Verfahrens: Projekt „Prozessbegleitung“, Gerichtsszenen, an den Tatorten, Prozessbeteiligte, Öffentlichkeit
- Historischer Hintergrund: Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD, lettische Hilfspolizei, „Sommerexekutionen“, Ghettos
- Der Fall Audrini
- Maikovskis in den USA
Ojars Janis Rozitis: Justizförmige Bearbeitung und öffentliche Darstellung in Lettland, S. 39-128; Reflexionen des Dolmetschers, S. 187-205
Eberhard Groesdonk: Erläuterung der wesentlichen juristischen Problemstellungen in NS-Verfahren;
Das Verfahren gegen Maikovskis (LG Münster), S. 159-173; Reflexionen des berichterstattenden Richters, S. 175-184
Heinz Bernd Lange: Die Verfahren gegen Tabbert (LG Dortmund) und Eichelis (LG Landau), S. 147-157
Am 8. März 2014 in den Westfälischen Nachrichten großer Artikel von Karin Völker zum Thema: www.wn.de/Muenster/Vor-20-Jahren-wurde-der-Prozess-gegen-Boleslavs-Maikovskis-eingestellt-Verbrechen-ohne-Suehne
I Außensichten des Verfahrens
Projekt „Prozeßbegleitung”
Das Verfahren beobachteten und begleiteten meine Frau Angela Nachtwei-Hanak und ich von der ersten bis zur letzten Sitzung. Annegret Neuhoff machte im ersten Jahr bei der Prozessbeobachtung mit, andere sprangen als „Urlaubsvertretung” ein.
In die Rolle „freier” Prozessbeobachter gerieten wir durch Verkettung verschiedener Umstände. Bei einer Reise nach Belarus im Sommer 1988 erfuhren wir erstmalig von systematischen und umfassenden Dorfvernichtungen im Rahmen der deutschen Kriegführung. Als die Presse am 17. Oktober 1988von einem mutmaßlichen, in Münster lebenden Kriegsverbrecher berichtete, der beschuldigt wurde, maßgeblich an einer Dorfvernichtung in Lettland beteiligt gewesen zu sein, wurde ich, der ich im Rahmen der Friedensbewegung schon länger regionale „Spurensuche” betrieb, hellhörig. In der Literatur fanden sich schnell erste Hinweise sowohl auf den Komplex Audrini wie auch auf eine Judendeportation, die im Dezember 1941 von Münster ins Ghetto Riga gegangen war. Im Sommer 1989besuchten wir die lettische Hauptstadt, fanden Spuren des Ghettos, lernten erste Überlebende des Ghettos kennen, erfuhren persönlich und konkret vom Ausmaß des Naziterrors in Lettland. Aus der Reise erwuchs der Diavortrag „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga”, über den sich Kontakte zu in Deutschland wohnenden Überlebenden der Riga-Deportationen ergab. In den Folgejahren entwickelten sich so parallel Nachforschungen auf den Spuren von Opfern und Tätern.
Unmittelbare Motive, sich auf die Prozessbeobachtung einzulassen, ergaben sich aus Erfahrungen mit früheren NS-Prozessen und einem gewissen Misstrauen gegenüber der Justiz. Arie Goral, dessen Mutter im Rigaer Ghetto umkam, machte bei den Prozessen gegen Maywald und Arajs 1977/79 in Hamburg die Erfahrung: „Diese Prozesse spielen sich nahezu in dem gleichen luft- und menschenleeren Raum ab, in dem sich die Verfolgung der Juden abspielte: Man sah weg, man blickte darüber hinaus `in die größeren Perspektiven'. Auch diese Prozesse spielen sich außerhalb jeder Öffentlichkeit ab – auch der linken."1 Nicht wieder sollte ein solcher Prozess faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit laufen! Opfer durchleben als Zeugen besonders schmerzhaft die Leiden der Vergangenheit. Oft blieben sie damit allein. Dem wollten wir mit einer nachträglichen Zeugenbetreuung entgegenwirken. Ein Prozess gegen einen 86-jährigen – das konnte eine Art „Mitleid” fördern, das nur den Angeklagten sah, aber die Opfer vergaß. Ein solcher Prozess konnte Wasser auf die Mühlen derjenigen sein, die endlich einen „Schlußstrich” unter die Nazizeit ziehen wollen. Exilletten befürchteten, der Prozess werde – nach alter sowjetischer Methode – zur pauschalen Denunziation der antikommunistischen Exilletten als Faschisten instrumentalisiert oder zum Abwälzen deutscher historischer Schuld dienen. Solche kontraproduktive Wirkungen wollten wir auffangen.
Vor allem aber wollten wir helfen, dass der Prozess als Chance der Erinnerung wahr-genommen werden konnte! In unserem ersten Flugblatt vom Januar 1990 hieß es:
„Erinnern für die Zukunft! Wir rufen auf: Seht heute hin, nicht weg! Nutzt die Chance der Erinnerung, besucht den Prozess! Es ist auch ein Zeichen der Solidarität mit den Opfern des Nazi-Terrors. Mit einigen Freundlnnen aus der Friedensbewegung haben wir eine ständige Prozessbeobachtung organisiert und bieten einzelnen Gruppen (z.B. Schulklassen) und der Presse folgende Hilfestellungen an: (...)”
Hätten wir allerdings damals geahnt, wie lange der Prozess laufen würde, wir hätten uns wahrscheinlich nicht auf das Projekt eingelassen. Doch als es lief und lief, da waren unsere Beziehungen zu vielen Überlebenden des Rigaer Ghettos längst so freundschaftlich geworden, dass wir uns absolut in der Pflicht fühlten.
Elemente der Prozessbeobachtung und -begleitung waren:
Führung des Protokollbuches – insgesamt 1.511 Seiten;
eigene Recherchen u.a. bei mehreren Lettlandaufenthalten (im Sommer 1990 Besuch der Tatorte im Raum Rezekne), in New York bei der „Anti-Defamation League” of B'nai B'rith, in der Ludwigsburger Zentralstelle; hierbei fanden wir hervorragende Unterstützung durch Elliot Welles, Direktor der Task Force for Nazi War Criminals der ADL, der seit den 70er Jahren in Sachen M. ermittelte, und durch Margers Vestermanis, Leiter der Dokumentationsstelle „Juden in Lettland”;
Erstellung von Hintergrundmaterialien (z.B. einer 80-seitigen Materialienmappe) für Journalisten, Lehrerinnen, Schülergruppen und andere Interessierte; Herausgabe von insgesamt 13 Prozess-Infos über den aktuellen Verfahrensstand und bevor-stehende interessante Zeugenvernehmungen;
Information von Journalisten und NS-Opferorganisationen („Survivors of the Riga Ghetto" in New York, „Verein der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands” in Riga), Presseerklärungen und -gespräche; Dokumentation des Prozesses in einem laufenden Pressespiegel (66 Ausgaben);
ca. 20 Begleitveranstaltungen (Diavorträge) vor allem vor Schülergruppen. So viele „Erinnerungshilfen” anzubieten, war nur möglich, weil uns Kopierer, Faxgerät und Frankiermaschine im Büro der Münsteraner „Grünen” kostenlos und zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung standen.
Parallel zur Prozessbeobachtung begann ich 1991 eine Spendenkampagne für ein Ghetto-Mahnmal in Riga, der sich 1993 eine Spendensammlung für „vergessene” NS-Opfer in Lettland anschloss.
Gerichtsszenen
(nach Protokollnotizen der ProzessbeobachterInnen)2
1. Februar 1990: Zeuge Günter Tabbert, Ex-SS-Obersturmführer und Kriminalhauptkommissar a.D., kommt in Trenchcoat mit Lodenhut. Im Verfahren gegen ihn 1969 vor dem Dortmunder Landgericht war der Komplex Audrini ausgeklammert worden. „Nach der Verhandlung spreche ich ihn vor dem Gerichtssaal an und konfrontiere ihn mit der von ihm gezeichneten Bekanntmachung der KdS-Außenstelle Dünaburg über die von ihm angeordnete Erschießung der 47 Einwohner des lettgallischen Dorfes Morduki am 6.1.1942 (`... in konsequenter Anwendung des angekündigten Strafmaßes bei dem Vorfall von Audrini'). Ganz gelassen antwortet er: Sicher sei das sein Name, in Wirklichkeit habe die Bekanntmachung ein B. unterzeichnet. Im Prozess sei der Vorwurf schon entkräftet worden.” Angesichts der riesigen Aktenmengen und der damit für die Verteidigung gegebenen Verzögerungsmöglichkeiten könne der Prozess drei Jahre dauern, so der Staatsanwalt. Ich kann und will das nicht glauben.
12. Februar: „Der Richter liest heute schneller als sonst. (...) Ich komme nicht mehr mit, ich streike!”
22. Februar: „Und es gibt Sonderordner, Sonderbände, keiner weiß Bescheid, aber es wird sortiert. Und irgendwann, wenn alle durchblicken, steigen wir vielleicht auch durch.”
6. März: Brief von Sigi Weinberg: Als 22-jähriger war er zusammen mit seine Schwester Ruth Ende 1941 von Münster ins Ghetto Riga deportiert worden. Von ihm stammt der „Weinberg-Bericht” von 1944, der ausführlich die Verhältnisse in den Lagern von Riga schildert und 1987 veröffentlicht wurde. Unbekannt war bisher der weitere Lebensweg Weinbergs. Auf Anfrage stellte E. Welles den Kontakt zwischen dem heute in Brooklyn lebenden Weinberg und dem Autor her.
8. März: Zeuge A. Berzins, Ex-Obersturmführer der Lettischen Waffen-SS, der sich 1941 freiwillig zum „Kampf gegen den Bolschewismus” gemeldet hatte: `Von Judenerschießungen wusste jeder'. Kommentar: „Sehr oberflächliche Befragung. Will man von ihm nichts Genaueres wissen?”
9. April: Die erste Vernehmungsfahrt nach Riga wird allerfrühestens im Juni laufen können. Nach Eingang eines Rechtshilfegesuchs bei den sowjetischen Behörden vergehen in der Regel anderthalb Monate. Zurzeit nicht einmal bekannt, welche Zeugen noch leben und verhandlungsfähig sind. „Es dauert doch etwas länger, als wir optimistisch gedacht haben.”
19. April, 6 Zuschauer, WN, MZ, dpa, WDR: „Erst mein 3. Vormittag: ätzend, nervig die Verlesungen. Bekomme regelrechte Abneigung gegen Prozess. Wie haben das bisher Annegret und vor allem Angela nur durchhalten können!!!"(Protokollnotiz W.N.) Die Verhandlung dieses 19. Sitzungstages endet um 14.50 Uhr.
April, Anruf von E. Welles, New York: Bei seinem Besuch der ersten Gerichtsverhandlungen in Münster sei ihm ein Mann aufgefallen, den er in SS-Uniform beim E.K. 2 in Riga gesehen habe, wo er als Ghettoinsasse damals habe Wagen waschen müssen.
3. Mai: M. hat in der Mittagspause nichts zu essen bekommen. Richter: „Das gibt Krach!”
„Am Montag, 7. Mai, starb Adolfs Silde. Am Vormittag war er noch im Prozess gewesen. S. hat die Verteidigung bei Voruntersuchungen beraten und auch übersetzt. Am 12. Mai erscheint in WN (Westfälische Nachrichten) und MZ (Münstersche Zeitung) ein Nachruf – eine Presseerklärung `Einsatz für die Verfolgten'. Zum Kotzen angesichts dieses (...) prominentesten Exilfunktionärs mit NS-Vergangenheit.3 (...) Da auf den Nachruf eine öffentliche Reaktion nicht drin ist, schicke ich ihn wenigstens herum. Prof. Bernhard Press, Überlebender des Holocaust in Lettland und Autor von `Judenmord in Lettland', antwortet erschüttert, aber ohnmächtig.”
21. Mai: „Der Staatsanwalt reagiert zum wiederholten Male unwillig auf Besuchergruppe - `was wollen die denn hier – uninteressant!' Keinerlei Bemühen, die eigene Sache zu `verkaufen', zu vermitteln. Der MZ-Mann: Für die MZ sei der Prozess gestorben.”
Diavortrag zu Hintergründen und Stand des Prozesses im Rahmen der „Antifa-Woche” im Regenbogensaal: Verschiedene Beobachtungen zeigen, dass die Polizei – in Uniform wie in Zivil – besonderes Interesse an der Veranstaltung hat.
28. Mai: Klage des WDR-Vertreters über die völlig unzureichende Pressearbeit der Pressestelle des Landgericht: Von ihr komme keinerlei Information, man könne schließlich nicht immer da sein. Auch bei Nachfrage komme nichts. „Haarspalterische Prozessführung”, wo über die Klärung von Kinkerlitzchen völlig der Inhalt verblasse.
Ab August 1990 wird aus gesundheitlichen Gründen nur noch vormittags verhandelt.
26. November: „M. trat aus dem Saal, sah mich (?), lachte breit und grüßte. (Ich sah keinen hinter mir) Falls er tatsächlich mich meinte, war es `Siegeslachen', Freundlichkeit oder Zufall?”
30. Dezember, 9.10 bis 9.45 Uhr (104. Sitzung, keine Zuschauer): Verlesung des ca. 130. Vernehmungsprotokolls, hier des J. J. Melnis von 1946: „ ... Abends 10 Mann Erschießungskommando, die acht Schritte vor den Häftlingen, Kopfschüsse. Die einen weinten. Kinder, die nichts verstanden, spielten im Schnee. (Während der Übersetzer die lettische Fassung eines Protokolls verliest, schreibt der Angeklagte die ganze Zeit konzentriert mit, unterstreicht, schreibt weiter. Heute auffällig gesunde, leicht gebräunte Gesichtsfarbe, als habe er einige Urlaubstage an der Sonne hinter sich.) Sämtliche Polizisten waren betrunken und nicht in der Lage, die Menschen sofort zu töten. Dann gingen sie an die Grube und gaben den Menschen mit Pistole und Gewehr den Gnadenschuss. Oft krochen Säuglinge weiter, die mit der Pistole erschossen wurden. Habe bei fünf Gruppen mitgeschossen, fünf erschossen, auch Frauen. (...) Nach der Verhandlung wünscht M. dem Verteidiger und Übersetzer langsam `gutes neues Jahr', lächelt freundlich und entspannt auch zu mir.”
14. Januar 1992 (106.): Die ehemaligen KGB-Beamten Berzins, Gotthards und Revalds treten als Zeugen auf. Neben der Lokalpresse sind vertreten dpa, Reuter, WAZ, FR, RTL, SAT 1, Newsday.
„G. tritt sehr souverän und nicht ungeschickt auf; steht voll zu seiner früheren Tätigkeit; Ungesetzliches habe es nur beim KGB-Vorläufer gegeben – aber auch die erscheinen fast in mildem Licht. Sogar von den NKWD-Morden 1941 in Rezekne will er nichts gehört haben. An verschiedenen Stellen präsentiert er deutlich die Arroganz der Macht: Betonung des Juristen-Laien-Unterschieds ...” Vor dem Gerichtssaal: „Gestern und heute etliche Exilletten. Hauptthema immer wieder die Grausamkeiten des KGB (z.T. persönliche Erfahrungen); dass nur immer von Judenverfolgung die Rede sei, andere Opfer aber vergessen würden; dass das am jüdischen Einfluss liegen würde (...) Wohl wagt keiner, Naziverbrechen zu leugnen, aber die Aufrechnerei, vor allem Relativiererei dabei ist offensichtlich!! In mir steigt Wut hoch. Kleinere Auseinandersetzung mit dem Korrespondenten der Brivas Latvija über Aizsargi/Miliz und Juden, `die Druck machen'.(...) Wenn die Männer mit anderen reden, tun sie es meist eifernd, missionarisch, indoktrinierend, keineswegs dialogisch. M. scheint in ihrem Kreis wohl aufgehoben zu sein und gestützt zu werden. Unter ihnen zwei, die in Lettland im Gefängnis saßen und ausgewiesen wurden. Einer von Revalds vernommen.
M. fühlt sich sehr sicher, gibt sich immer lockerer, gewährt heute erstmalig einem Journalisten (Newsday) ein Interview, lässt sich von dpa fotografieren. Beim Abschied freundlich lachend, Händedruck, Winken."
Ein Tag wie viele andere: „Dienstags oder freitags gegen 9.00 Uhr treffen im Foyer des Landgerichts ca. zehn Personen ein. Man grüßt sich freundlich per Handschlag, plaudert ein wenig zur letzten Zigarette. Auf Signal hin betreten die Personen den großen Saal 23, nehmen ihre Plätze ein – die fünfköpfige Zweite Große Strafkammer samt Ersatzschöffen und Ersatzrichter, Staatsanwalt, Verteidiger, Übersetzer, ein bis zwei Zuschauern, ein alter Mann. Abwechselnd in Deutsch und Lettisch werden Vernehmungsprotokolle inzwischen verstorbener Zeugen verlesen. Nach 20 bis 30 Minuten wird die Verhandlung beendet und bis nächste Woche vertagt.”
1. Juni 1992 (126.) Kommentar: „Die KGB-Masche löst sich sang- und klanglos auf. 2. Kommentar: M. regelrecht urlaubsbraun, er erscheint so erholt wie niemand sonst im Saal. Am Ende geradezu lächerliche Stimmung auch bei uns. Das Thema geht verloren.”
17. Juli: „9.35 Uhr schwüle Atmosphäre in Raum 23, ein Licht flackert. Abgesehen von Ersatzschöffin S. ist der Angeklagte der mit der bräunsten Gesichtsfarbe – ob er sich wöchentlich meldet? Die Ankündigung, dass heute mehr geschafft werden soll, lässt schon jetzt bei mir erste körperliche Abneigung hochkommen, das Gefühl 'hoffentlich ist bald Schluss!' Langeweile steigt hoch, erstickt Interesse. V.Ri. fragt M., ob er eine Zwischenfrage habe. M.: `später'. – Sehr höflicher Wortwechsel mit freundlichem Lächeln!! (...) Während der Lettisch-Verlesung sieht V.Ri. nach rechts zum Schöffen, der zu schlafen scheint. Ist aber nicht. Fünf Minuten später: der zweite Schöffe.”
9. März 1993: „OSt. blättert in Illustrierte. 10.13 Uhr Saal 23 wird zum großen Schlafsaal.” 10.20. Uhr Vertagung.
16. März (169.): Kommentar: „Tendenzen/Anzeichen, dass der Prozess `ausläuft'?”
An den Tatorten
Im Sommer 1990 besuchten meine Frau und ich die Tatorte in Ostlettland: „Auf der Fahrt von Riga ins 240 km entfernte Rezekne nimmt das dünn besiedelte Lettgallen, das `Land der tausend Hügel und Seen', schnell für sich ein. Die lettische Nachrichtenagentur LETA hat für die Reise einen Kleinbus mit Fahrer zur Verfügung gestellt.
Unser erster Anlaufpunkt ist das Heimatmuseum. Die Direktorin und mehrere Mitarbeiterinnen empfangen uns. Etwas überrascht sie, dass wir nicht wegen einer Ausstellung zeitgenössischer lettgallischer Künstler, sondern wegen des lange zurück-liegenden Falls Audrini gekommen sind. Im Prozess sind bisher zig Namen von (Mit-)Tätern des Naziterrors gefallen. Die Ermordeten von Audrini sind bisher völlig namen- und gesichtslos geblieben. Wir fragen nach Namen-Fotos. Die Frauen reagieren skeptisch: Hier habe man die Namen nicht vollständig. Nach einigem Suchen finden sich aber doch zwei Listen: die der dreißig Männer aus Audrini, vorn 60-jährigen F. Glusnovs bis zum 13-jährigen V. Glusnovs; und die Gesamtliste der Ermordeten, darunter die 110 Jahre alte Vera Glusnova und Stepanida Glusnova mit einem Neugeborenen. Von wenigen existieren auch Fotos, zum Beispiel von den 1925 geborenen Freundinnen Klaudija Lisova und Anfisa Glusnova. Vertrauensvoll lassen uns die Frauen ohne jede Aufsicht mit den Archivalien zum Abfotografieren auf den Hof.
Ca. 500 Meter vom Marktplatz entfernt liegt am idyllischen Ufer der Rezekne das Gelände des früheren Leschinski-Gartens, der ersten Erschießungsstätte von 1941. Über dem Massengrab sind Baumstämme gestapelt, keinerlei Zeichen der Erinnerung. Wir überqueren das Wehr und gehen den Weg zum Gefängnis hinauf. Hierunter wurden damals die Gefangenen zur Erschießung getrieben. An der Hauptstraße liegen Kirche und das heute als Fabrik genutzte ehemalige Gefängnis einander schräg gegenüber. Die Gefängnismauer Richtung Marktplatz, an der die 30 Männer aus Audrini erschossen wurden, steht nicht mehr. Drei Kilometer vom Marktplatz finden wir hinter einem Bretterzaun den alten jüdischen Friedhof. An die Massaker erinnert – nur für Kundige erkennbar – ein Geviert von wenigen Metern. Eine unleserliche Inschrift „soll demnächst erneuert werden”. Unmittelbar hinter der heutigen Stadtgrenze beginnen die bewaldeten Ancupani-Hügel. Niemand begegnet uns auf der Gedenkstätte mitten im Wald. Zwischen jüngeren Bäumen die Grundmauern des Häuschens, wo sich die Todgeweihten entkleiden mussten. Einige Meter weiter erstreckt sich nach rechts und links eine Schneise durch den Wald: neben einer niedrigen Mauer und einem Weg ein einziges Massengrab. Am Kopfende des Riesengrabes eine Inschrift mit den Worten „Sie starben, damit Du lebst” – ein Hohn angesichts der sinn- und besinnungslos Hingemetzelten.
Einige Kilometer weiter direkt an der Straße auf einem Hügel weithin sichtbar das Mahnmal von Audrini, eine in sich verschmelzende Familie. Die Anlage ist auffällig gepflegt."4
Prozessbeteiligte
Anfängliche Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Die II. Große Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Hanno Badewitz verhandelte ruhig und sachlich, sehr rücksichtsvoll gegenüber dem alten Angeklagten und akribisch in der Sache. Opferzeugen wurden sensibel befragt, andere Zeitzeugen wie der ehemalige SS-Obersturmführer Tabbert aus Düsseldorf oder der ehemalige Obersturmführer der Lettischen Waffen-SS Berzins aus Münster wurden kaum weniger schonend vernommen. Äußerst penibel wurden immer wieder Übersetzungen und Vernehmungsprotokolle geprüft.
Anlässlich des 100. Verhandlungstages fragte ich bei einem Pressegespräch kritisch an, ob der Kammer von den Zuständigen genügend Entlastung geschaffen werde, um den unter besonderem Leistungs- und Zeitdruck stehenden Prozess zügig durch-zuführen. Der Pressedezernent des LG wies die angedeutete Kritik als unrichtig zurück. Offenkundig war allerdings, dass Bundesjustizministerium und Auswärtiges Amt mit ihrem bürokratischen Dienstweg das Verfahren verlangsamten. Die Staatsanwaltschaft war im gesamten öffentlichen Teil des Verfahrens eher unauffällig.
Der Angeklagte: Der kleine alte Mann machte einen erstaunlich rüstigen und wachen Eindruck. Konzentriert verfolgte er die Verhandlung und machte sich immer wieder Notizen. Äußerungen von Zeugen, auch schwere Vorwürfe, hörte er sich ohne jede äußerlich erkennbare Regung an. Seine Stellungnahmen zu Zeugenaussagen waren in der Regel präzise.
Anfang 1991 schrieb ich dem noch in der JVA Bochum einsitzenden Angeklagten einen ausführlichen Brief:
„Sie sind jetzt 86 Jahre alt. Sie stehen an Ihrem Lebensabend. Als gläubiger Christ werden Sie sich Gedanken machen, wie Sie Ihrem Schöpfer entgegentreten wollen. Könnten Sie ihm mit denselben Worten gegenübertreten wie Ihrem irdischen Richter? (...) Niemand von den Überlebenden des Naziterrors, die ich sprach, hat ihnen gegenüber Rachegefühle; nur den Funken einer Hoffnung, dass endlich mal die Wahrheit gesagt wird von einem, der verwickelt war, dass endlich mal jemand Schluss macht mit den Ausreden, mit den Ablenkungsmanövern, mit der fortgesetzten Quälerei der Gequälten von damals. Berichten, was war: Es würde denjenigen Mut machen, die gegen unmenschliche Verhältnisse und Systeme ankämpfen — wo auch immer. (...)
Von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen Kraft zur Wahrheit! (...) Zur Erinnerung an die Menschen von Audrini, die in diesen Tagen vor genau 49 Jahren grausam erschossen wurden und die bisher während des Prozesses so namen- und gesichtslos waren, lege ich Ihnen einige Fotos bei."
Der Brief blieb ohne Antwort. Irgendwann begann man sich zu grüßen.
Die Verteidigung nahm ihre Aufgabe korrekt und ohne jede falsche Identifizierung mit dem Angeklagten wahr. Die Notwendigkeit solcher Prozesse sieht sie. Im Unterschied zum Oberstaatsanwalt zeigte sich die Verteidigung offen und gesprächsbereit.
Öffentlichkeit
Dass dieser Fall mal die Gemüter in Lettland und den USA erregt hatte, war kaum noch zu spüren.
Zur Eröffnung, beim Auftritt der ehemaligen KGB-Beamten aus Riga, bei wenigen Zeitzeugen und bei der Verfahrenseinstellung fand der Prozess etwas mehr öffentliche Resonanz. Zwanzig Zuschauer waren schon viel, vierzig ungewöhnlich. Mehr als zehn Schülergruppen besuchten den Prozess. Bei ca. 70 Sitzungen war die Presse anwesend, bei einem Viertel der 206 Sitzungen saß die Prozessbeobachterin allein im Zuschauerraum.
Über weite Strecken wirkte der Prozess für Besucher völlig abweisend und „langweilig” — im krassen Gegensatz zu den Unmenschlichkeiten, um die es hier ging, und Welten entfernt von fernsehgeprägten Erwartungen gegenüber einem Mordprozess. Verhandlungsdauer und Verhandlungsführung machten es äußerst schwer, den Prozess als „Chance der Erinnerung” wahrzunehmen — auch für die ProzessbeobachterInnen.
Nichtsdestoweniger machten wir immer wieder auf die Möglichkeit eines „begleiteten” Prozessbesuches aufmerksam. Und da war es doch „bemerkenswert, wie wenig Münsteraner Geschichts- und Politikkolleginnen, wie wenige `Linke' die Chance nutzten, sich mit diesem Lehrstück über NS-Massenvernichtung und Kollaboration, über stalinistischen Terror, über die „Verarbeitung” dieser Geschichte in Ost und West und die Rolle von KGB, CIA und westdeutschen Behörden dabei auseinanderzusetzen. Wir spürten viel `wohlwollendes Desinteresse', die sanfte Variante der Schlußstrichmentalität."5
Die Lokalpresse verhielt sich durchweg offen und kooperativ, besonders lange hielten Journalistlnnen von Westfälischen Nachrichten und dpa beim Prozess aus – obwohl die Sitzungen vielfach keinen „Nachrichtenwert” hatten. Ausführliche Hintergrundartikel erschienen im „Stadtblatt” und im „Maulwurf”, der Zeitung der GAL Münster. Die Pressestelle des Gerichts hingegen war für uns praktisch nicht bemerkbar.
Bis auf taz, Westfälische Rundschau/Dortmund, Frankfurter Rundschau und stern zeigte die überregionale deutsche Presse trotz mehrfacher Angebote kein Interesse. Ausführlich hingegen berichteten Atmoda und Diena (Riga), der Pulitzer-Preisträger Roy Gutman für Newsday (Long Island/ USA), Rindert Paalman für Dagblat Tubantia (Enschede). In der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung” sowie dem „Aufbau”, der einzigen deutschsprachigen jüdischen Zeitung der USA, erschienen Prozessberichte. Die „Newsletter” der „Society of Survivors of the Riga Ghetto” in New York verbreitete Teile des Münsteraner Pressespiegels weltweit.
Vor allem der Westdeutsche Rundfunk berichtete mehrfach in Hörfunk und Fernsehen. Hierfür stellten die Prozessbeobachter Film-, Foto- und Dokumentenmaterial zur Verfügung. Die Deutsche Welle/TV sandte zum Prozessende einen Beitrag.
Die Befürchtung von exillettischer Seite, mit dem Prozess werde historische Verantwortung auf Letten abgeschoben, bewahrheitete sich nicht. Im Gegenteil: Bei den ProzessbeobachterInnen wuchs die Anteilnahme am Unabhängigkeitsprozess der baltischen Staaten, den wir aktiv in Münster und landesweit mit Protestschreiben an die sowjetische Botschaft, Teilnahme an Mahnwachen und Veranstaltungen zu unterstützen suchten. Einladungen zu Veranstaltungen im Lettischen Zentrum bzw. Gymnasium waren dafür ein Zeichen. In zugespitzten Konfliktsituationen im Baltikum betrieben wir die Öffentlichkeitsarbeit zum Prozess mit besonderer Zurückhaltung, um nicht ungewollt einer Distanzierung gegenüber den legitimen Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Bevölkerung Vorschub zu leisten.
„Als das überzeugende ärztliche Gutachten dem Prozess ein plötzliches Ende setzte, spürten wir etwas Erleichterung über das Ende einer inzwischen lästigen Pflicht.
Zusammen mit befreundeten Überlebenden des Rigaer Ghettos, mit Elliot Welles, Margers Vestermanis, David Garber fühlten wir aber vor allem Trauer und Zorn: Die Hoffnung, dieser (zu) späte Prozess könne die Tradition der notorischen Großzügigkeit gegen die Täter durchbrechen, war zerbrochen. Die Strafvereitler in hohen Ämtern aus den 70er und 80er Jahren hatten mit Hilfe der `biologischen Lösung' ihr Ziel erreicht. Die letzte Chance, das Massaker von Audrini und die NS-Massenmorde in Ostlettland juristisch aufzuarbeiten, ist vorbei. Dass einmaliges Material für die historische Forschung bleibt, ist ein schwacher Trost."6
II. Historischer Hintergrund
Über Jahrhunderte war die Geschichte Lettlands durch die Vorherrschaft fremder Mächte geprägt. In kurzer Folge wühlten Revolutionen (1905, 1917, 1919), Krieg und Bürgerkrieg (1918-1920) das Land auf. 1920 entstand zum ersten Mal ein unabhängiger lettischer Staat, der ab 1934 autoritär regiert und am 14. Juni 1940 durch den Einmarsch der Roten Armee liquidiert wurde. Im Juni 1941 erreichte die Sowjetherrschaft ihren traumatisierenden Höhepunkt: Eine Woche vor dem deutschen Überfall wurden 14.500 Menschen aus Lettland in die Sowjetunion deportiert. Kurz vor dem Rückzug der Roten Armee richtete die sowjetische Geheimpolizei NKWD in den Gefängnissen des Landes ein Blutbad an, dem nach Angaben von 1943 mindestens 900 Menschen zum Opfer fielen.
Als Verbände der deutschen Heeresgruppe Nord Ende Juni/Anfang Juli 1941 Lettland besetzten, als das westfälische Panzerregiment 11 bei Livani/Lievenhof die Daugava überquerte, wurden sie von erheblichen Teilen der Bevölkerung als „Befreier” begrüßt. Kurz später durchquert das Regiment im Rahmen der 6. Panzerdivision/Panzergruppe 4 den Raum Daugavpils/Rezekne.
Die „Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD”
Am 30 März 1941 hatte Hitler vor 250 Generälen den geplanten Krieg gegen die Sowjetunion als „Kampf zweier Weltanschauungen” charakterisiert. Gegenüber dem „asozialen Verbrechertum” des Bolschewismus müsse man „von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf."7 Die Wehrmachtsführung übernahm die Vernichtungsweisung und konkretisierte sie in einer Vielzahl von Befehlen. So der Befehlshaber der später im Baltikum zum Einsatz kommenden Panzergruppe 4, Generaloberst Hoepner, in seinem Befehl zur Kampfführung im Osten vom 2. Mai 1941: „Der Krieg gegen Rußland ist ein wesentlicher Abschnitt im Daseinskampf des deutschen Volkes. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung der europäischen Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Rußland zum Ziel haben und mit unerhörter Härte geführt werden. Jede Kampfhandlung muss in Anlage und Durchführung von dem eisernen Willen zur erbarmungslosen, völligen Vernichtung des Feindes geleitet sein. Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger des heutigen russisch-bolschewistischen Systems."8 Der Erlass des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Keitel, über die „Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet `Barbarossa' und über besondere Maßnahmen der Truppe” vom 13. Mai 1941 befahl eine Kriegführung ohne jede kriegsvölkerrechtliche Einschränkung:
„(..) Freischärler sind durch die Truppe im Kampf oder auf der Flucht schonungslos zu erledigen. (..)
Gegen Ortschaften, aus denen die Wehrmacht hinterhältig oder heimtückisch angegriffen wurde, werden unverzüglich auf Anordnung eines Offiziers in der Dienststellung mindestens eines Bataillons- usw. Kommandeurs kollektive Gewaltmaßnahmen durchgeführt, wenn die Umstände eine rasche Feststellung einzelner Täter nicht gestatten. (...) Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht (..) gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist."9 In seinen „Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Nr. 21 (Fall Barbarossa)” legte das OKW am 13. März 1941 fest:
„Im Operationsgebiet des Heeres erhält der Reichsführer SS zur Vorbereitung der politischen Verwaltung Sonderaufgaben im Auftrag des Führers, die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier Weltanschauungen ergeben."10 „Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD” sollten mit ihren Untergliederungen Sonder- und Einsatzkommandos diese „Sonderaufgaben” wahrnehmen. Ihr Auftrag wurde mit Zustimmung des Chefs der Sicherheitspolizei mit Befehl des Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall von Brauchitsch, näher beschrieben: Neben der Sicherstellung bestimmter Objekte „Erforschung und Bekämpfung der staats- und reichsfeindlichen Bestrebungen, soweit sie nicht der feindlichen Wehr-macht eingegliedert sind,” einschließlich Exekutivmaßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung.11
Der Heeresgruppe Nord war das „Einsatzkommando A von Sicherheitspolizei und SD” zugeordnet mit den Sonderkommandos 1 A (Estland) und 1 B (Weißrußland, am 9.7.41 in Rezekne) und den Einsatzkommandos 2 (Lettland) und 3 (Litauen). Im Herbst wurden die Kommandos in stationäre Stellen umgewandelt. Führer der E.G. waren zugleich „Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD” (BdS), Führer der E. K. wurden „Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD” (KdS) mit Außenstellen z.B. in Daugavpils (G. Tabbert).
Führer der Einsatzgruppe A war bis 23. März 1942 der SS-Brigadeführer Dr. Stahlecker, des Einsatzkommandos 2 bis Anfang November 1941 Rudolf Batz, vom 4. November bis 3. Dezember 1941 Dr. Strauch, ab 3. Dezember 1941 Dr. Rudolf Lange (zugleich KdS Lettland). Führer des Sonderkommandos 1 B war bis zum 3. Dezember 1941 Dr. Ehrlinger, dann bis Juni 1943 Dr. Strauch.
Im Oktober 1941 erreichte die Einsatzgruppe A eine Gesamtstärke von 990 Mann: 89 Stapo- und 41 Kripobeamte, 35 SD-Leute, 133 Ordnungspolizisten, 172 Kraftfahrer, 340 Waffen-SS-Angehörige, 87 aus dem besetzten Gebiet stammende Hilfspolizisten, 51 Dolmetscher und 42 Verwaltungsfachleute.
Das Einsatzkommando 2 (Lettland) umfasste 170 Mann.12 Der Chef der Sicherheitspolizei Heydrich dekretierte in der Richtlinie vom 2. Juli 1941, welche Personengruppen von den Einsatzgruppen „zu exekutieren sind”: „alle Funktionäre der Komintern, wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin, die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei (..), Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente, Saboteure, Heckenschützen (..)”. Dabei sei dem „Selbstreinigungsversuch antikommunistischer und antijüdischer Kreise in den neu zu besetzenden Gebieten keinerlei Hindernisse zu bereiten, sie sind im Gegenteil – allerdings spurenlos – zu fördern, ohne dass sich diese örtlichen Selbstschutzkreise später auf Anordnung oder gegebene politische Zusicherung berufen können."13 Die ersten Einsatzbefehle galten dementsprechend der „Förderung örtlicher Vernichtungsaktionen durch einheimische Kräfte.” (Scheffler)
Die Einsatzgruppen berichteten „über den Rahmen ihres Auftrages und über ihre Tätigkeit laufend nach Berlin an das Reichssicherheitshauptamt und erstellten zum Teil selbst eingehende Berichte über längere Einsatzräume und -zeiten. Im RSHA wurden die eingehenden Meldungen aller Einsatzgruppen zu den sogenannten „Ereignismeldungen UdSSR” zusammengestellt und den Referaten und Ämtern des RSHA und auch anderen Dienststellen zugestellt.” (Scheffler) Von Juni 1941 bis April 1942 erschienen insgesamt 195 „Ereignismeldungen”.
Im rückwärtigen Heeresgebiet setzte Himmler Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) als oberste Befehlsgeber ein. Im Vormarschraum der Heeresgruppe Nord war das der „HSSPF Ostland und Rußland Nord”. Als persönlicher Vertreter Himmlers hatte ein HSSPF den Oberbefehl bei zusammengefassten Einsätzen aller dem „Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei” unterstellten Kräfte. Dem HSSPF waren Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) und Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) zugeordnet und SS- und Polizeiführer (SSPF Lettland W. Schröder), schließlich SS- und Polizeistandortführer (Daugavpils: Vogels) untergeordnet.
HSSPF Ostland und Rußland Nord war bis zum 31. Oktober 1941 der SS-Gruppenführer Hans-Adolf Prützmann, der dann seinen Dienstposten mit dem bisherigen HSSPF Rußland Süd, dem SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, tauschte.
Die neubesetzten Gebiete rückwärts des Operationsgebietes erhielten eine politische Verwaltung, die baltischen Staaten und Weißrußland wurden im Reichskommissariat Ostland (Gauleiter Hinrich Lohse) zusammengefasst. An der Spitze des in vier Generalbezirke unterteilten Reichskommissariats standen Generalkommissare (Lettland Dr. Drechsler), denen Gebietskommissare unterstanden.
Lettische Hilfspolizei
Die relativ kleine Truppe der Einsatz- und Sonderkommandos war „Speerspitze eines polizeilichen Massenaufgebots, dass sich in zunehmendem Maße auf nichtdeutsche, nur oberflächlich gesiebte, wenig oder gar nicht ausgebildete 'Hilfspolizisten' stützte."14 Bevorzugt wurden „Angehörige von Opfern des stalinistischen Terrors als Hilfspolizisten engagiert und als Bluthunde zuerst auf alle eventuell noch im Lande befindlichen Kommunisten angesetzt."15 Antisemitismus und Antibolschewismus waren wichtigste Auswahlkriterien bei der Rekrutierung landeseigener Hilfskräfte. Der Führer der Einsatzgruppe A in seinem Bericht vom 15. Oktober 1941: „In Lettland hatten sich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen ein Selbstschutz gebildet, der sich aus Angehörigen aller Bevölkerungskreise zusammensetzte und daher für polizeiliche Aufgaben zum Teil völlig ungeeignet war. Es galt, aus diesem bunt zusammengewürfelten, mannigfaltig bewaffneten Trupps eine brauchbare Truppe herauszukristallisieren und vor allem diejenigen Elemente auszuschalten, die durch den Beitritt zu den Selbstschutzformationen ihre bisherige kommunistische Einstellung oder sonst belastete Vergangenheit tarnen wollten. In Riga wurde die erste Aufstellung der Sicherheitspolizei selbst in Angriff genommen, ebenso wie in den sonstigen größeren Städten Lettlands zunächst Sicherheitskommandos gebildet, die später in eine Hilfspolizei umgewandelt wurden, die jetzt durchweg aus ausgesuchten, souveränen, fachlich geschulten Kräften besteht. An der Spitze der lettischen Hilfspolizei wurde in den größeren Städten ein Präfekt gestellt. Die Hilfspolizeiformation gliedert sich in eine Sicherheits- und eine Ordnungspolizei. Die Sicherheitspolizei, die unter ständiger Aufsicht des Einsatzkommandos 2 arbeitet, von ihnen die Arbeitsrichtlinien erhält, und über ihre Tätigkeit laufend eingehenden Bericht erstattet, ist in eine politische Abteilung und in eine Abteilung Kriminalpolizei aufgeteilt."16
Laut Anlage 4 zum „Stahlecker-Bericht” umfasste die lettische Hilfspolizei im Oktober 1941 insgesamt 8.218 Beamte. Von den 415 Beamten der Politischen Polizei waren 217 in Riga, 33 in Daugavpils und 33 in Rezekne stationiert; von den 220 Kripo-Beamten 23 in Daugavpils; von den 1.947 Beamten der Kreispolizei 170 in Daugavpils, 160 in Rezekne, 11 in Ludza, 104 in Abrene.
Die Kreispolizei (hier: Rezekne) war in sicherheitspolizeilichen Angelegenheiten der KdS-Außenstelle unterstellt, in anderen Polizeiangelegenheiten dem Gendamerie- bzw. SS- und Polizeigebietsführer (hier: Daugavpils unter Tabbert bzw. Wimmer).
Der Polizeibezirk Rezekne umfaßte rund 17.000 Einwohner, unterstand seit 26. August 1941 dem Kreispolizeichef Eichelis und war in fünf Reviere aufgeteilt:
Revier Rezekne-Stadt unter Kerzums,
Rezekne-Land unter Maikovskis mit Sitz in der Darza-Str. 12 a,
Vilani unter Jaunrubenis,
Malta unter Puntulis und
Revier Varaklani unter Strautkalns.
Die Polizeikräfte waren jeweils unterteilt in A-Gruppen (Verwaltungsangestellte der Reviere, Polizisten und Rayon-Aufseher), B-Gruppen (Bewachungsaufgaben, Antipartisaneneinsätze) und C-Gruppen als Polizeireserve, die nur zu einzelnen Aktionen herangezogen wurde.
Laut Anklageschrift der Dortmunder Zentralstelle hatte der 1904 geborene M. nach seinem Abitur ab 1930 einen zweijährigen Militärdienst bei der lettischen Armee abgeleistet, die er als Leutnant verließ. Während seiner Arbeit bei einer Straßenbaubehörde in Riga schloss er sich der lettischen Selbstschutzorganisation „Aizsargi” an, „einer nationalen Gruppe, die eine aktive Lettisierung durchführte und stark gegen den Bolschewismus eingestellt war."17 In ihr erreichte er den Rang eines Hauptmanns. Nach der sowjetischen Besetzung Lettlands wurden die Aizsargi verboten, zugleich verlor M. seine Stellung bei der Baubehörde. Nach der deutschen Besetzung fand M. wieder eine Anstellung bei der Baubehörde in Rezekne und trat als Hauptmann der sich wieder bildenden lettischen Selbstschutzorganisation bei, aus der sich dann die Hilfspolizei rekrutierte. Zu M.'s 2. Revier gehörten die Amtsbezirke Berzgale, Driceni, Kaunata, Makaseni, Ozolaine, Rezna und die Ancupani-Hügel im Norden Rezeknes.
„Sommerexekutionen”
Zusammen mit der kämpfenden Truppe erreichte der Chef der Einsatzgruppe A, Stahlecker, schon am 1. Juli Riga, wo er sofort Kontakt mit dem lettischen Polizeimajor Viktors Arajs aufnahm und ihn mit der Aufstellung eines „Sicherungskommandos der Hilfspolizei” beauftragte. Binnen kurzem waren im ganzen Land „die Gefängnisse überfüllt mit versprengten Rotarmisten, Tausenden von Mitläufern und Sympathisanten der Sowjetmacht, in den Wäldern aufgegriffenen Flüchtlingen, die sich nicht ausweisen konnten (..) Zu Hunderten wurden in der ersten Hysterie an den verschiedensten Orten Menschen wegen ihrer angeblichen kommunistischen Vergangenheit erschossen; häufig lediglich aufgrund einer nicht überprüften Denunziation, ohne Verhör (..). Der Privatrache war Tür und Tor geöffnet."18 Schon vom 4. Juli an stützte sich die Einsatzgruppe A bei den Kommunisten- und Judenexekutionen fast ständig auf das „Sonderkommando Arajs”, dem bei „Aktionen” in ganz Lettland bis zum Herbst ungefähr 15.000 jüdische Menschen zum Opfer gefallen sein sollen.l9
In Daugavpils ergriff die Wehrmacht von sich aus schon am 29. Juni die Initiative: „Auf Anordnung der Ortskommandanten hatten sich alle jüdischen Männer von 14 bis 60 Jahren auf dem Marktplatz einzufinden, wo sie deutsche Offiziere verhöhnten, schikanierten, die kräftigsten Männer und die Intelligenz ins Gefängnis überführten wurden. Einen Teil der Inhaftierten ließ man danach (..) hinter dem Gefängnis erschießen."20
Erst wenige Tage später traf in Daugavpils das Sonderkommando 1 B ein, auf dessen Initiative Anfang Juli etwa 1.500 Juden ermordet wurden.
Der Wehrmachtspfarrer Walter S. kam am 6. Juli 1941 mit der Panzergruppe 4 nach Rezekne. Gerade waren die Leichen führender Letten gefunden worden, die die sowjetische Geheimpolizei kurz zuvor ermordet hatte. Nach seinen Tagebuchnotizen mussten Juden die Leichen ausgraben, sie wurden dabei von Angehörigen der „Organisation Todt” angetrieben. „Immer mehr, etwa 70 zusammengetrieben, manche unterwegs schon totgeschlagen, immer in Trupps zum Graben geschickt, immer wieder einzelne erschossen. Als sämtliche Opfer ausgegraben sind, Juden in das Loch im Schuppen getrieben und mit Revolvern zusammengeknallt. Mancher war in den Fluss gelaufen. Mit Karabinern und Revolvern geschossen. Nicht sofort tot. Warum nicht gleich die Kugel. Bemerkung von Offizier. Die haben andere genug gequält. Niemand hatte es in der Hand, auch nicht Feldgendamerie. Ein Haufen politischer Soldateska."21 Als 13-jähriger erlebte Jakov Israelit aus Rezekne, wie direkt nach Einmarsch der deutschen Truppen per Plakataushang allen jüdischen Männern von 18 bis 60 Jahren befohlen wurde, sich am nächsten Tag auf dem Marktplatz einzufinden. „Am 4. Juli war der Platz voll, alle wurden ins angrenzende Gefängnis getrieben, darunter mein Vater. Am Tag darauf wurden im Hof der sowjetischen Geheimpolizei NKWD die Leichen von zehn vor Abzug der Roten Armee Erschossenen ausgegraben und zur Schau gestellt. Danach wurden 30 Juden aus dem Gefängnis getrieben. Schwarzuniformierte erschlugen sie mit Knüppeln an Ort und Stelle. Sie wollten zeigen, wie man töten müsse. Von da an wurden von lettischen Bewaffneten immer wieder Gruppen aus dem Gefängnis geführt – zur Arbeit, zum Erschießen auf dem Jüdischen Friedhof oder im Garten der Leschinski-Mühle.” Jakov beobachtete, wie am 16. Juli sein Vater mit einem anderen Gefangenen einen Karren voller Leichen zum Jüdischen Friedhof bringen musste und dort von dem begleitenden Polizisten P. erschossen wurde.22 Laut Anklageschrift der Dortmunder Zentralstelle wurden im Raum Rezekne binnen mehrerer Wochen 1.700 – 1.800 Juden vom lettischen Selbstschutz „liquidiert".23
Ghettos
Die noch lebenden Juden waren – zum Teil auf vorauseilende Anordnung der Orts-Kommandanturen hin – inzwischen registriert, öffentlich gekennzeichnet und mit verschiedenen Ge- und Verboten belegt worden. In den größeren Städten entstanden bis Oktober Ghettos: In der „Moskauer Vorstadt” von Riga, wo vorher 10.000 Menschen gelebt hatten, wurden nun 30.000 Menschen zusammengepfercht. In ehemaligen Pferdeställen der alten Festung von Daugavpils entstand ein Ghetto, das offiziell zunächst „Juden-KZ der Wehrmacht in Dünaburg” genannt wurde.24 Im Oktober 1941 fiel die Entscheidung, die zweite Deportationswelle von Juden aus dem „Großdeutschen Reich” (insgesamt 50.000 Menschen) nach Riga und Minsk zu lenken. Der neue HSSPF Ostland, Jeckeln, erhielt Anfang November von Himmler den Befehl zur Liquidierung des Rigaer Ghettos. Jeckeln, vor dem Krieg HSSPF West in Düsseldorf, Ende September 1941 Organisator des Massakers von Babi Yar bei Kiew, sorgte für die Umsetzung des Befehls: Am 30. November, B. und 9. Dezember wurden in einer minutiös geplanten „Aktion” 27.500 Insassen des Ghettos erschossen – die meisten in großen Gruben bei der acht Kilometer entfernten Bahnstation Rumbula, Hunderte noch im Ghetto oder unterwegs. Deutsche und lettische Ordnungspolizei, darunter Teile des Reserve-Polizeibataillons 22 (Stettin), Mannschaften des Arajs-Kommandos, des 20. lettischen Schutzmannbataillons trieben die Kolonnen nach Rumbula und riegelten das Erschießungsgelände ab. 4.500 Männer und 300 Frauen waren vorher als „Arbeitsjuden” aussortiert worden und überlebten das Massaker. Nach Aussagen von Tatzeugen wimmelte es auf dem Erschießungsgelände regelrecht von Uniformierten: Den zwölf Schützen sahen Hunderte zu, auch Wehrmachts- und Polizeioffiziere sowie Angehörige der Zivilverwaltung. Dr. Lange, Führer des verantwortlichen Einsatzkommandos 2, wurde als einziger hoher SS-Offizier des Ostens zur Wannsee-Konferenz am 20.1.1942 hinzugezogen.
Nachdem die Insassen des ersten in Riga eintreffenden Deportationszuges aus Berlin am Morgen des 30. November noch vor den lettischen Juden erschossen worden waren, nachdem die Gefangenen der vier nächsten Transporte in das direkt an der Daugava liegende mörderische Auffanglager „Jungfernhof” gekommen waren, war nun „Platz geschaffen” für die weiteren aus dem Reich anrollenden Züge: Aus Köln am 10. Dezember 1941, aus Kassel am 12., aus Düsseldorf am 14., aus Münster/Bielefeld/ Osnabrück am 16. Dezember. Bis Anfang Februar 1942 trafen insgesamt zwanzig Deportationszüge in Riga ein, wo dann über 22 Monate das größte „Reichsjudenghetto” des ganzen Ostens bestand.
Im Raum Riga nahm die systematische Ermordung der westfälischen Juden ihren Anfang !25
Über die weitere Entwicklung in Daugavpils meldete am 11. November 1941 die KdS-Außenstelle Dünaburg:
„Am 9. November 1941 wurden in Dünaburg 1.134 Juden exekutiert. Die verbleibenden restlichen Juden sind zurzeit in verschiedenen Dienststellen in Dünaburg beschäftigt. Ich bitte dafür zu sorgen, daß in Kürze auch diese Juden zu Arbeitsleistungen nicht mehr benötigt werden. gez. Tabbert, SS-Obersturmführer” Am 1. Mai 1942 erschoss ein Exekutionskommando aus Riga die letzten 950 Insassen des Ghettos von Daugavpils im Wald bei Pogulanka. Angehörige der KdS-Außenstelle nahmen unter ihrem Leiter Tabbert Absperraufgaben war.26
In Rezekne notierte die damals 14-jährige Schülerin Anna Michailovskaja in ihrem als Schönschreibheft getarnten Tagebuch:
9. November 1941 : „Eben kam zu uns eine Nachbarin und erzählte, dass heute wie-der in den Antschupani-Bergen Massenerschießungen ablaufen.(..) Die Zeitungen sind jetzt voll mit Drohungen und Schmähreden gegen Leute, die Juden und Kriegsgefangenen was zu essen geben. Jetzt sind schon wieder irgendwo in der Stadt Schüsse zu hören. Wahrscheinlich ist schon wieder Menschenjagd. (..)
16. November Sonntag. Ja, oder geht es den Deutschen schlecht, oder sind im Blut die letzten Funken der Menschlichkeit erloschen. Gestern wurden die letzten Juden ermordet. Alle wurden versammelt, sogar Frauen und Kinder aus Ehen mit Christen. Auch Tanja und Vera Michailova haben kein Erbarmen gefunden. Schüsse knatterten den ganzen Tag aus Richtung Antschupani. Heute morgen sollen 22 gefangene Politkommissare erschossen worden sein. Es herrscht ein Blutrausch. Die Polizei verhamstert jetzt die den Erschossenen abgenommene Kleidung.(..) was bedeutet ein Mensch? Ein Schuss aus dem Gewehr — (..) Die Kriegsgefangenen sterben wie die Fliegen im Herbst. (..)
29. November: (..) Man schießt und schießt Menschen. Rezekne ist buchstäblich mit Blutströmen übergossen. Die Häuser stehen, bloß die Menschen sind nicht mehr da. (..)
9. Dezember: Es wird immer grauenhafter zu leben. Man sagt, dass auch in Riga mit den Juden Schluss gemacht wird. (..)
16. Dezember: Schon wieder Erschießungen. Das Gefängnis wird `ausgeräumt'. Seit 12 Uhr werden Menschen mit gebundenen Händen wie Ferkel vor dem Schlachten einer auf den anderen in Lastautos geworfen und nach Antschupani transportiert. Die Polizei ist total besoffen. (..)
24. Dezember: Heute werden zum Erschießen Bauern, Frauen und Kinder aus dem Dorf Audrini hereingebracht, bei denen man im Keller Rotarmisten gefunden hat.
(…)«27
Der Führer des Einsatzkommando 2 in einem undatierten, Anfang 1942 verfassten Geheimbericht: „Das Ziel, das dem Einsatzkommando 2 von Anfang an vorschwebte, war eine radikale Lösung des Judenproblems durch die Exekution aller Juden. Zu diesem Zweck wurden im ganzen Einsatzgebiet durch Sonderkommandos unter Mithilfe ausgesuchter Kräfte der lettischen Hilfspolizei (meist Angehörige verschleppter oder ermordeter Letten) umfangreiche Säuberungsaktionen durchgeführt. Etwa Anfang Oktober betrug die Zahl der exekutierten Juden im Einsatzgebiet des Kommandos etwa 30.000. Dazu kommen noch einige tausend Juden, die von den Selbstschutzformationen aus eigenem Antrieb beseitigt worden sind, nachdem ihnen entsprechende Anregungen gegeben worden sind.(..) Anfang November gab es im Rigaer Ghetto nur noch etwa 30.000, in Libau etwa 4.300 und in Dünaburg etwa 7.000 Juden. Von diesem Zeitpunkt an wurden etwa 4.500 Juden im Zuge der Bearbeitung von Strafsachen wegen Nichttragens des Judensterns, Schleichhandels, Diebstahls, Betruges usw. exekutiert. Darüber hinaus wurden die Ghettos von nicht voll arbeitsfähigen und nicht mehr benötigten Juden im Zuge größerer Aktionen gesäubert. So wurden am 9. November 1941 in Dünaburg 11.034*, Anfang Dezember 1941 durch eine vom HSSPF angeordnete und geleitete Großaktion in Riga 27.800 und Mitte Dezember 1941 auf Wunsch des Reichskommissars in Libau 2.350 Juden exekutiert."(..) Insgesamt sind bisher 19.000 Juden aus dem Reich und dem Protektorat nach Riga abgeschoben worden. (..) Von diesen reichsdeutschen Juden ist nur ein geringer Teil arbeitsfähig. Zu etwa 70-80% handelt es sich um Frauen und Kinder sowie alte arbeitsunfähige Männer. Die Sterblichkeitsziffer steigt bei den evakuierten Juden ständig. (..) Um jeder Seuchengefahr im Ghetto und in den beiden Lagern von vorneherein zu begegnen, wurden in Einzelfällen ansteckend erkrankte Juden (…) ausgesondert und exekutiert. Um ein Bekanntwerden dieser Maßnahmen bei den hiesigen Juden und bei den Juden im Reich zu vermeiden, wurde der Abtransport als Verbringung in ein jüdisches Alters- und Krankenheim getarnt."28
Bis zum 31. Januar 1942 meldete die Einsatzgruppe A die „durchgeführten Exekutionen” von 229.048 Juden, 8.359 Kommunisten, 1.044 Partisanen und 1.644 Geisteskranken. Weitere rund 100.000 Juden wurden im Gebiet der Einsatzgruppe A durch „Aktionen” der HSSPF, der Einsatzgruppe B, durch Einheiten der Wehrmacht und ihr unterstellten SS-Verbänden ermordet.29
1) Arie Goral: Dokumentation Vernichtung Ghetto Riga und Aufstand im Warschauer Ghetto, Hamburg o.J, S. 19
2) Angela Nachtwei-Hanak, Winfried Nachtwei, Annegret Neuhoff: Protokollbücher der ProzeßbeobachterInnen, Band I-VII, Münster 1990-1994
3) Leiter des Instituts für Antisemitismus, der 1942 im Jahrbuch von Zemgale seine „große Freude über die Lösung der Judenfrage” äußerte. Bernhard Press: Judenmord in Lettland, Berlin 1992, S.44
4) Winfried Nachtwei: Tatorte — Opferspuren, ein Reisebericht, in: Stadtblatt Münster 8/1990 (Auszüge)
5) Derselbe im Stadtblatt Münster 4/1994
6) Derselbe im Stadtblatt Münster 4/1994
7) Nach den Aufzeichnungen von Generaloberst Halder, zit. bei Gerd R. Überschär/Wolfram Wette (Hrsg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, Frankfurt/M., S. 248 f
8) Ebenda S. 251
9) Ebenda S. 252
10) Ebenda S. 24
11) Ebenda S. 250
12) Stellenbesetzung der Einsatzgruppe und des Einsatzkommando 2 abgedruckt bei Hans-Heinrich Wilhelm: Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42, in Helmut Krausnick/H.-H. Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges, Stuttgart 1981, S. 290 ff.
13) Gutachten Prof. Dr. Wolfgang Scheftler, Münster 19.2.1990
14) Wilhelm, a.a.O., S. 287
15) Derselbe S. 490
16) Nürnberger Dokumente L-180
17) Der Leiter der Zentralstelle im Lande NRW für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund: Anklageschrift gegen B. M., 45 Js 83/88 vom 2.8.1989, S. 34
18) Wilhelm, a.a.O., S. 490
19) Ezergailis, nach Margers Vestermanis: Der lettische Anteil an der „Endlösung”, in: Die Schatten der Vergangenheit, hg. von Uwe Backes u.a., Frankfurt/M. 1990, S. 43
20) Vestermanis, a.a.O., S. 430
21) Lothar Steinbach: Ein Volk, ein Reich, ein Glaube? Berlin 1983, S. 219
22) Jakov Israelit am 25.6.1990 gegenüber dem Autor in Riga
23) Zentralstelle, a.a.O., S. 68
24) Vestermanis, a.a.O., S. 431
25) Vgl. Winfried Nachtwei: Nachbarn von nebenan — verschollen in Riga, in: U. Bardelmeier/A. Schulte Hemming (Hg.): Mythos Münster, Münster 1993
26) Landgericht Dortmund: Urteil gegen G. Tabbert vom 19.6.1969, 45 Ks 1/68
27) Museum „Pulverturm” Riga, Inv. Nr. 760-VII. Aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt von M. Vestermanis, 1990
28) Historisches Archiv Lettlands, Riga, P-1026, 1/3, Blatt 262 ff,; *Schreibfehler: in Wirklichkeit 1.134
29) Wilhelm, a.a.O., S. 607 ff.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: