Zum ersten Mal nahm ich an der zentralen Gedenkveranstaltung im Bundestag teil. In Anwesenheit der Repräsentanten der fünf Verfassungsorgane war es eine bewegende, klare und überzeugende Kundgebung für Frieden, Europa und die deutsch-polnische Freundschaft. Als Neumitglied des Volksbundes durfte ich einen Impuls beitragen.
DARUM EUROPA! Frieden braucht Mut!
Zentrale Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag 2019
am 17.11.2019 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages:
Würdiges Gedenken, klare Kante gegen Krieg, Hass und Nationalismus
Winfried Nachtwei (20.11.2019)
(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Ungeschminkte Erinnerung an den deutschen Angriffskrieg gegen Polen vor 80 Jahren, der von Anfang an ein Vernichtungskrieg war.
Bewegendes Gedenken an die Abermillionen Kriegstoten, an die Opfer des Nationalsozialismus, von politischer Gewalt und Terrorismus.
Dankbare Erinnerung an die Versöhnungsbereitschaft der polnischen Bischöfe schon 1965, 20 Jahre danach.
Klare, entschiedene Botschaften wider heutige Hasspropaganda und geistige Brandstifter, für die deutsch-polnische Freundschaft und die Europäische Integration.
Die Gedenkveranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wird live von 13.30-14.30 Uhr auf der ARD und bei Phoenix übertragen.
In der ersten Reihe des voll besetzten Plenarsaals die Repräsentanten der fünf Verfassungsorgane: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, Bundesratspräsident Dietmar Woidke, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Stephan Harbarth, zusammen mit dem Gastredner, dem langjährigen Stadtpräsidenten von Wroclaw (Breslau), Dr. Rafel Dutkiewicz, und dem Präsidenten des Volksbundes, dem ehemaligen Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan.
Im Publikum viele polnische Gäste, viele alte, aber auch viele junge Menschen sowie etliche Bundeswehrangehörige, darunter auffällig viele Generale.
Auf den beiden Videowänden an der Stirnseite des Plenarsaals das Grundmotiv des Volksbundes: Über dem stillen Meer von schattenwerfenden Grabkreuzen einer Kriegsgräberstätte die Worte „DARUM EUROPA!“
Erstmalig nehme ich heute an der zentralen Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag teil. Seit Mitte der 1990er Jahre lernte ich im Rahmen des entstehenden Riga-Komites einen Volksbund im Wandel kennen und seine Gedenk-, Versöhnungs- und Friedensarbeit hoch schätzen. Der äußerst beeindruckende Festakt zu 100 Jahren Volksbund am 16. September im Auswärtigen Amt und insbesondere die überzeugende Friedensrede von Präsident Schneiderhan veranlassten mich, Mitglied des Volksbundes zu werden. ( Bericht auf https://www.volksbund.de/meldungen/aktuelles-artikel/news/beste-friedensrede-seit-vielen-jahren.html ; http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1604 )
Heute bin ich eingeladen, als Wegbegleiter des Volksbundes kurz persönlich Stellung zu nehmen – zusammen mit dem 94-jährigen Kriegsüberlebenden Heinrich Pankuweit aus Bonn, dem 39-jährigen Mariusz Siemiatkowski, Wissenschaftlicher Leiter der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Golm auf Usedom, und der 20-jährigen Deutsch-Ukrainerin Emiliya Schwarz, Workcamp-Leiterin in Masuren. (Zehn Jahre nach meinem Ausscheiden aus dem Bundestag ist es heute meine 247. Rede im Plenarsaal)
Das Video der Live-Übertragung:
Der Bericht über die Veranstaltung: https://www.volksbund.de/meldungen/aktuelles-artikel/news/ich-glaube-an-die-freundschaft-zwischen-polen-und-deutschland.html
Begrüßungsrede von Wolfgang Schneiderhan, Präsident des Volksbundes
„(…) Heute, am Volkstrauertag, gedenken wir in Deutschland der Opfer der Kriege und
2. Gewaltherrschaft. Wir trauern mit den Familien und Menschen, denen Angehörige und Freunde entrissen wurden. Und wir besinnen uns auf unsere Verantwortung für Frieden und Aussöhnung.
Vor achtzig Jahren begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf die polnische Stadt Wielun. Diese Feststellung ist richtig, aber sie ist unvollständig. Kriege fangen nicht über Nacht an und schon gar nicht von selbst. Sie werden gemacht und sie werden vorbereitet. Das können wir am Beispiel des Zweiten Weltkriegs alle miteinander lernen.
Die vor genau 100 Jahren entstandene Weimarer Republik war der erste Versuch einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Sie stand unter dem ständigen Trommelfeuer der Extremisten. Die Wesensmerkmale von Demokratie – Kompromiss und Debatte – wurden schlecht geredet, die deutsche Geschichte und das deutsche Soldatentum heroisiert, jede europäische Kooperation geschmäht. Die Nationalsozialisten zeichneten das Bild einer deutschen Opfernation, die sich nun gegen den Rest der Welt zur Wehr setzen müsse. Schon damals haben sich die rechtsextremen Populisten als Opfer geriert und waren in Wirklichkeit doch Täter. Und die Mehrheitsgesellschaft ließ sie gewähren, bis aus der Splitterpartei NSDAP eine schlagkräftige und erfolgreiche Organisation geworden war.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten setzten die Kriegsvorbereitungen unmittelbar ein. Im Inneren wurde jede Opposition ausgeschaltet, das Militär wurde aufgerüstet und die Wirtschaft wurde auf Kriegsvorbereitung getrimmt.
So gesehen hat der Zweite Weltkrieg Jahre vor 1939 begonnen. Ein Ende aber fand er erst durch die militärische Niederlage Deutschlands. (…)
Zwischen 60 und 70 Millionen Menschen haben in diesem Krieg ihr Leben verloren, unter ihnen rund sechs Millionen Polen. Das waren jeweils zur Hälfte Menschen jüdischen und Menschen christlichen Glaubens, fast alle waren Zivilisten. In Polen hat sich die ganze Grausamkeit der Menschenverachtung der von der nationalsozialistischen Ideologie angetriebenen deutschen Kriegsmaschinerie gezeigt. Der Charakter des Zweiten Weltkriegs als nicht nur ein Angriffs-, sondern auch als ein Vernichtungskrieg ist hier deutlich zutage getreten. „Auschwitz“ ist die Signatur dieses Krieges und steht stellvertretend für die zahlreichen Vernichtungslager und Kriegsverbrechen der Deutschen in Polen und in vielen anderen Ländern.
Dass uns von dieser geschundene Nation nur 20 Jahre nach dem Krieg die Hand der Versöhnung entgegengestreckt wurde, ist der Ausdruck einer unermesslichen menschlichen Größe. „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung“, schrieben die polnischen katholischen Bischöfe 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder und luden sie in ihr Land ein. Indem Polen uns die Freundschaft anboten, haben sie auch einen späten Sieg über Adolf Hitler errungen. Hitler hat Millionen Polen töten, das Land besetzen, demütigen und zerstören lassen – aber er hat es nicht besiegt. Das Versöhnungsangebot von polnischer Seite ist für uns ein Geschenk, und zwar ein Geschenk, mit dem wir sorgsamst umgehen müssen.
In der täglichen Politik sind die polnische und die deutsche Regierung nicht immer einer Meinung. Das kann aber den Konsens, den es zwischen unseren Völkern gibt, nicht zerstören,
und dieser Konsens lautet: Nie wieder Feindschaft! Nie wieder Krieg!
Wir trauern um die Toten der Weltkriege, wir pflegen ihre Gräber. Wir wollen damit die Erinnerung an die Menschen wachhalten, die ihr Leben verloren haben.
Aber wir wollen auch dazu beitragen, dass die Toten, derer wir hier und heute gedenken, die letzten Kriegstoten in Europa bleiben.
Um das sicherzustellen, müssen wir in unseren Gesellschaften denen deutlich entgegentreten, die die Lehren und Erfahrungen der Geschichte revidieren wollen, die diesen ungeheuren Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs als kleinen Betriebsunfall einer tausendjährigen deutschen Heldengeschichte darstellen wollen. Wir erleben in unserem Land gerade wieder, dass aus Hasspropaganda Hass und aus Hass Mord wird. Und wir lernen aus der Geschichte, dass wir nicht nur die Straftäter verurteilen, sondern den geistigen Brandstiftern mutig entgegentreten müssen. Ihre Methode ist die Provokation, immer eingeleitet mit einem „Man wird doch wohl noch sagen dürfen ...“
Ja, man darf hier vieles sagen, auch Unsinniges. Aber die Anständigen in diesem Land, und das ist die große Mehrheit, sollten sich nicht abwenden und damit zulassen, dass die Grenzen des Sagbaren immer weiter ins Unmenschliche verschoben werden.
Die polnischen Bischöfe haben in den 1960er Jahren großen Mut bewiesen und sich auch von dem kommunistischen Regime, unter dem sie lebten und dem diese Geste nicht passte, nicht einschüchtern lassen. Sie können von uns erwarten, dass auch wir Mut und Eindeutigkeit zeigen.
Frieden und Freiheit brauchen Mut! Aber die Kriegsgräberstätten in Europa zeigen, wohin es führt, wenn uns dieser Mut verlässt.“
Stimmen aus 100 Jahren Kriegsgräberfürsorge in Deutschland und Europa von Wegbegleitern des Volksbundes aus drei Generationen:
Heinrich Pankuweit, 94, wurde 1944 eingezogen und kämpfte in Frankreich und Belgien:
„Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Heinrich Pankuweit. Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlebte ich als 13-jähriger Schüler in meiner Heimatstadt Bonn, sein Ende als 19-jähriger Kriegsgefangener in Remagen.
Im Sommer 1939 verbrachte ich die Ferien im damaligen Ostpreußen, der Heimat meines Vaters. Es drohte bereits der Krieg. So mussten wir früher abreisen.
Als wir durch den Polnischen Korridor fuhren, bewachten polnische Soldaten bereits die weichselbrücken. Erstaunt war ich, dass sie mir freundlich zuwinkten. Unbeobachtet konnte ich ihnen, ohne denunziert zu werden, zurückwinken.
Wie es diesen polnischen Soldaten ergangen sein mag? Eine Woche später marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Und das war erst der Beginn eines Weltenbrandes.
Meine Mutter hatte 1914 ihren ersten Ehemann als Soldat und 1943 ihren ältesten Sohn, meinen Bruder verloren. Beide wurden Opfer sinnloser Kriege. Weltweit mussten Millionen Mütter ähnliche Opfer bringen.
Mein Bruder ruht mit britischen und deutschen Soldaten in der englischen Hafenstadt Hull, die oftmals Ziel deutscher Bomber war. Seit vielen Jahren besuche ich mit englischen Freunden sein Grab – und spreche mit ihm. Sein Schweigen ist eine Anklage gegen den Krieg, der ihm sein junges. Hoffnungsvolles Leben raubte.
Nach dem Tod meines Bruders schrieb mir Vater: „Sei nicht feige, aber vorsichtig. Denk` daran, wie Mutter leiden würde, wenn auch Du nicht zurückkehrst!“ Diese mutigen Sätze gegen die Ideologie des Totalen Krieges hatten mich tief bewegt.
Ab 1943 musste ich als Funker der Fallschirmtruppe in Frankreich und Belgien bis zum „Ruhrkessel“ kämpfen. Wir ergaben uns den Amerikanern.
Wie glücklich waren meine Eltern, als ich lebend zurückkehrte!
Jedes Kriegsgrab ist ein Mahnmal für Frieden und Versöhnung. Ich danke dem Volksbund für die Pflege dieser Orte der Erinnerung.“
Mariusz Siemiatkowski, 39, Wissenschaftlicher Leiter der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Golm auf Usedom:
„Mein Name ist Mariusz Siemiatkowski. Ich komme aus Masuren in Polen.
Schon als Kind haben mich die Erzählungen meiner Großmütter geprägt.
Meine eine Oma Waltraut stammte aus Ostpreußen. Mei8ne andere Oma Eleonora war Polin. Als junge Frau wurde sie 1941 bei einer Razzia verhaftet und musste als Zwangsarbeiterin auf einem deutschen Hof bei Stolp in Pommern arbeiten. Nach der Besetzung durch die Rote Armee konnte sie nicht mehr in die Heimat zurück.
Meine Oma Waltraut hat das Grauen des Krieges erst im Januar 1945 erlebt. Als Siebzehnjährige musste sie sich mit anderen Dorfkindern nach Westen durchschlagen und landete ebenfalls in Stolp in Pommern. Nach dem Krieg gingen beide in das nun polnische Gebiet Ostpreußen zurück.
Meine ersten deutschen Wörter lernte ich von meinen Großmüttern. Später studierte ich Germanistik in Olsztyn. Als Freiwilliger kam ich zur Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Golm des Volksbundes auf Usedom. Direkt an der deutsch-polnischen Grenze befindet sich hier ein Friedhof, auf dm Tausende Kriegstote begraben liegen: Darunter Flüchtlinge und polnische Zwangsarbeiter. Viele sind bis heute unbekannt.
Der Golm ist ein Lernort der Geschichte. Wir sammeln die Erinnerungen von Zeitzeugen und vermitteln die leidvollen Geschichten dieser Menschen. Zugleich blicken wir auf gegenwärtige Konflikte.
Seit langem verfolge ich das Zusammenwachsen auf Usedom. Das Leben an und über siese offene Grenze hinweg ist besonders: Es entstehen viele Beziehungen auf beiden Seiten, beruflich wie privat.
Heute besucht mein Sohn den Kindergarten in Ahlbeck. Ich hoffe, dass wir weiter gute Nachbarn bleiben werden.“
Emilya Schwarz, 20, geboren in Mikolajew/Ukraine, Studentin und Workcam-Leiterin:
Ich heiße Emiliya Schwarz und studiere in Berlin. Mit vier Jahren bin ich aus meiner Heimat – der Ukraine – nach Deutschland gekommen.
Diesen Sommer habe ich ein Workcamp des Volksbundes geleitet. Junge und ältere Freiwillige aus Polen, Russland, der Ukraine und Deutschland kamen in Masuren zusammen – über Länder- und Altersgrenzen hinweg.
Gemeinsam haben wir eine deutsche Kriegsgräberstätte gepflegt. Dort liegen deutsche und russische Soldaten des Ersten Weltkrieges.
Wir machten uns daran, die Grabsteine zu reinigen und die von Zeit und Wetter zerstörten Schriftzüge zu entziffern.
Mit der Liste der militärischen Abkürzungen in der einen Hand und Pergament mit Bleistift in der anderen machten wir die Identitäten der Gefallenen wider sichtbar. Oft gab es nur ei9ne Inschrift wie „vier unbek. Russen“. Es war erstaunlich, dass die Deutschen die Feinde in ihren Reihenordnungsgemäß begruben, aber auch erschreckend, wie sie ihre Identitäten untergruben.
Krieg in Mitteleuropa – für uns ist das heute gar nicht richtig vorstellbar.
Aber nichts anderes geschieht doch gerade in der Ukraine! Es passiert direkt vor unserer Haustür. Als wir im Workcamp darüber sprachen, wurden die sonst so offenen Gesuchter unserer Teilnehmer besorgt und frustriert.
Wir fragten uns: Wie kann es sein, dass wir in diesen zwei Wochen gemeinsam Gutes bewirken, während sich unsere Heimatändere kämpfen? Wie kann es sein, dass wir hier unter uns da Menschsein über die eigene Nationalität stellen können – während anderswo die die Nationalität die Menschen im Krieg trennt?
In der Hoffnung, uns diese Fragen eines Tages nicht mehr stellen zu müssen, arbeiten wir gemeinsam für den Frieden.“
Winfried Nachtwei, 73 (gekürzte Passagen kursiv)
„Mein Name ist Winfried Nachtwei.
Sommer 1989, im Osten viel Neues: Im Baltikum erhoben sich die Menschen gegen die sowjetische Okkupation.
Gespannt reisten meine Frau und ich erstmalig nach Riga – und stießen dort auch auf die Spuren der deutschen NS-Okkupation ab Juli 1941:
- das ehemalige Ghetto, in das über 20.000 jüdische Menschen vor allem aus Deutschland (aus Deutschland. Österreich und der Tschechoslowakei) deportiert worden waren,
- die Massengräber in den Wäldern von Rumbula und Bikernieki, wo zehntausende Juden aus Riga und Deutschland erschossen worden waren.
An den namenlosen Gräbern erinnerte NICHTS daran, dass hier jüdische Menschen ermordet, verscharrt, verbrannt worden waren. Es waren verwahrloste und vergessene Orte.
Wenige Monate später in Münster die Gedenkfeier zum Volkstrauertag an einem Kriegerdenkmal: In stillem Protest erlebten wir „gespaltene Erinnerung“: beschränkt auf die „eigenen“ Toten, die gefallenen Väter, Brüder, Kameraden, viele zugleich – gezwungen oder freiwillig – Wegbereiter eines Völkermordes. Kaum Erinnerung hingegen an die Millionen wehrloser Opfer dieses Völkermordens.
(Das änderte sich, als in vielen deutschen Orten und in Wien die Erinnerung an die Riga-Verschollenen auflebte. Ausgehend von dem) Mit dem Deutsch-Lettischen Kriegsgräberabkommen 1996 wurde die Errichtung einer würdigen Gedenkstätte im Wald von Bikernieki zu einem zentralen Projekt des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. (Auf seine Initiative schlossen sich im Jahr 2000 13 Hauptherkunftsorte der Riga-Deportationen im Deutschen Riga-Komitee zusammen. 60 Jahre nach dem „Rigaer Blutsonntag“ konnte 2001 die besonders beeindruckende Gedenkstätte Bikernieki eingeweiht werden.) Diese wurde 2001 eingeweiht.
In unserer Zusammenarbeit (bei Erinnerungsreisen, gemeinsamen Veranstaltungen, internationalen Workcamps) lernte ich einen sich wandelnden Volksbund kennen und hoch schätzen. Bis dahin separatete Erinnerungskulturen fanden zusammen, Brücken der Erinnerungen wuchsen zwischen Nationen und Generationen.
Auf den Massengräbern von Bikernieki, auf dem Meer an Soldatengräbern in Ysselstein spürte ich mit den Jugendlichen, wie das unfassbare Leiden der fernen anderen persönlich nahe kam und auf politisches Handeln drängte. Darum Europa!
Darum bin ich Mitglied des Volksbundes geworden: Die Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit des Volksbundes ist elementare Friedensarbeit nach vorne und, wo persönliche Kriegserinnerungen verblassen, notwendiger denn je.“
(Das enge Zeitkorsett der Fernsehdirektübertragung begrenzt unsere Impulse auf weniger als drei Minuten pro Person und erfordert intensives Proben über etliche Stunden. Matteo Schürenberg vom Volksbund leitet uns und die anderen Mitwirkenden klar, ruhig und souverän. Schnell lernen wir vier uns näher mit unseren Lebensläufen können und werden zu einem europäischen Mehrgenerationen-Team. Besonders erfrischend ist dabei unser Heinrich mit seiner Zugewandtheit und rheinischen Frohnatur. Herzlich begrüßen ihn Saaldienerinnen und MusikerInnen des Bundeswehr-Musikkorps, die ihn von seinem letzten Auftritt bei der Gedenkveranstaltung 2012 kennen.)
Gedenkrede von Dr. Rafal Dutkiewicz, Stadtpräsident von Wroclaw (Breslau) a.D.
„(…) am 1. September 1939 überfielen deutsche Truppen Polen. Damit begann der Zweite Weltkrieg, der sechs Jahre dauerte und rund 60 Millionen Menschen das Leben kostete. Stellen wir uns vor, dass wir im Innern der „Neuen Wache”, der Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, sind. Schauen wir auf die Skulptur der Mutter, die ihren toten Sohn in den Armen hält. Nun schließen wir die Augen und vervielfältigen, verstärken wir dieses Bild 60 Millionen Mal. Stellen wir uns vor, dass die Pilger durch die Welt wandern und jeden Tag ein Grab eines Kriegsopfers besuchen. So müsste diese Pilgerfahrt beinahe 200 Jahre dauern. Gerade einmal sind 80 Jahre vergangen, seitdem 60 Millionen Menschenleben von einer Hekatombe vernichtet wurden. Ein Zehntel der Opfer waren Polen, die Hälfte von ihnen jüdischen Glaubens. Mein Vater hat mir erzählt, dass es Anfang September 1939 sehr warm war. In den ersten Tagen der so genannten Flucht vor den Deutschen hat ihm seine Mutter, meine Oma, kurze Hosen angezogen. Der Vater meines Vaters, mein Großvater, war am September-Feldzug beteiligt. Und als am 17. September 1939 der Krieg im Osten gegen Polen begann, wurde mein anderer Großvater, der Vater meiner Mutter, von den Sowjets nach Ostaszków deportiert und ermordet.
Alles, was ich von ihnen, von meinen Eltern und Großeltern (teilweise unbekannten) gelernt habe, ist das Denken über die Aussöhnung zwischen den Menschen. Füge deinen Mitmenschen keinen Schaden zu.
Als ich die „Neue Wache“ verlasse, und ich bin dort fast jeden Tag, lese ich den Text – auch meines Gebetes: „... Wir gedenken der Millionen ermordeter Juden. Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma. Wir gedenken aller, die umgebracht wurden, wegen ihrer Abstammung, ihrer Homosexualität oder wegen Krankheit und Schwäche. Wir gedenken aller Ermordeten, deren Recht auf Leben geleugnet wurde. Wir gedenken der Menschen, die sterben mussten, um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen. Wir gedenken aller, die Opfer der Gewaltherrschaft wurden und unschuldig den Tod fanden. ...” Dies sollte in den kommenden sechs Jahren folgen, nachdem... – hier zitiere ich Bundespräsident Steinmeier: „... über WieluÅ„ das Inferno hereinbrach, entfacht von deutschem Rassenwahn und Vernichtungswillen.”
Als ich in den sechziger Jahren zum ersten Mal nach WrocÅ‚aw/Breslau kam, und zwar in die Stadt, die ich später 16 Jahre lang regiert habe, fand ich dort die Überbleibsel des Kriegsendes vor: klaffende Lücken im städtischen Organismus, Ruinen und leeren Raum. Die Stadt, meine Stadt, wurde in den letzten Kriegswochen fast zu 80 Prozent vernichtet. Von Februar bis Mai 1945 starben 170 000 Zivilpersonen in Breslau. So viele wie in Hiroshima und Nagasaki, wenige Monate später. Breslau war vor dem Krieg eine deutsche Stadt. Heute gehört WrocÅ‚aw zu Polen. Das ist wahrscheinlich die einzige Großstadt der Welt, in der die Bevölkerung vollständig ausgetauscht wurde. Hunderttausende von Deutschen wurden aus
Stadt vertrieben. An ihre Stelle zogen die Polen ein, teilweise auch aus ihren Häusern in Ostpolen vertrieben.
Und in Zeiten des kommunistischen Regimes wurden die Gräber, in denen die Verwandten der Vertriebenen beigesetzt wurden, zerstört. In der Nachkriegszeit wurden in Breslau siebzig Friedhöfe planiert. Das ist genau der Grund, warum ich in unserer Stadt, ein „Denkmal des Gemeinsamen Gedenkens” errichten wollte. Und das haben wir auch getan. Zum Andenken an die Breslauer, die auf Friedhöfen beigesetzt wurden, die heute nicht mehr bestehen. (…) Eben an diesem Denkmal habe ich auch Richard von Weizsäcker und Fritz Stern gesehen, die Es gibt auch andere Denkmäler in Breslau – ein[e]s zu Ehren des Theologen Dietrich Bonhoeffer, aber auch ein anderes, mit zweisprachiger Aufschrift: „Wir vergeben und bitten um Vergebung!” / „Wybaczamy i prosimy o wybaczenie!” Der Autor dieser Worte ist Kardinal BolesÅ‚aw Kominek und das ist sein Denkmal. Diese Worte wurden 1965 in einem Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder geschrieben. Der Hirtenbrief fasst die komplizierten polnisch-deutschen Beziehungen der letzten 1000 Jahren zusammen.
Zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges schrieb dieser Einwohner der Stadt der Vertriebenen, ein Pole, dessen Familie, wie jede polnische Familie vom Zweiten Weltkrieg betroffen wurde, wie folgt: „Wir vergeben und bitten um Vergebung!” Auf die im Jahre 1966 gestellte Frage, warum die polnisch-deutsche Versöhnung so wichtig ist, erwiderte Kominek: „Die Sprechweise kann nicht nationalistisch sein, sondern muss europäisch in der tiefgreifendsten Bedeutung dieses Wortes sein. Europa ist die Zukunft – Nationalismen sind von gestern. (...) Eine Vertiefung der Diskussion darüber, eine föderative Lösung für alle Völker Europas zu schaffen, u. a. durch schrittweisen Verzicht auf die nationale Souveränität in Fragen der Sicherheit, der Wirtschaft und der Außenpolitik [ist sehr wichtig]..."
Machen wir uns Gedanken über die heutige Gestaltung Europas, gilt dann als ein markanter Punkt, der die Spuren des Zweiten Weltkrieges verwischt – der Fall der Berliner Mauer. Darüber schrieb Fritz Stern in seinem Erinnerungsband „Fünf Deutschland und ein Leben”: „So schaute ich etwa von Ferne zu, als Breslau in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine neue, noble Bedeutung gewann: Es wurde zu einer Hochburg der Solidarność, jener polnischen Bewegung, die zur Selbstbefreiung Osteuropas und zum wiedervereinigten Deutschland (meinem fünften) führte.“
Dem Vertrag über die Europäische Union, genauer gesagt dem Artikel 2 (Grundwerte der Union), ist zu entnehmen: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.” Die Europäische Union ist eine mögliche Antwort unseres Kontinents auf die Tragödie des Zweiten Weltkrieges. Der Entstehung der Europäischen Union liegt u. a. die Erinnerung und die Überlegung zugrunde, dass der Krieg so viele Millionen Menschenleben kosten sollte, unter ihnen Millionen polnische Bürger. Alleine während des Warschauer Aufstands wurden etwa 200 000 Menschen ermordet. Es ist bedeutend, dass Warschau, das so stark bei und nach dem Aufstand 1944 zerstört wurde, eine der Hauptstädte der Europäischen Union ist. Es ist bedeutend, dass Warschau diejenigen Werte beachten soll, die dem Vertrag über die Europäische Union zu entnehmen sind.
Diese Werte sollten uns dabei helfen, die Welle des Populismus und des Nationalismus zu brechen, die auch durch Europa rollt. Indem wir gegen Nationalismen kämpfen, wenden wir uns nicht gegen Nationen. Die Stärke der nationalen Vorstellungsverbindungen ist in der Menschheitsgeschichte so ausschlaggebend, dass sogar die linksorientierten Philosophen – wie etwa Habermas – bereit sind, Folgendes zu sagen: Würden die Nationalstaaten nicht entstehen, so müsste man sie erfinden. Die Gemeinschaft zieht aber immer weitere Kreise. National geht mit international einher. Die Nation heute und in Zukunft kann sich nur übernational verwirklichen, in unserem Fall – im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Ich sage dies und verneige mich vor den Opfern des Zweiten Weltkrieges, vor den 60 Millionen Kriegsopfern, die oft namenlos irgendwo ruhen. Die Mutter Erde wird sie alle ewig beschützen.
Und vielleicht liegt hier ein zusätzlicher und wichtiger Grund vor, die Mutter Erde zu pflegen, um sie zu retten. Ich denke, es gibt nichts Wichtigeres als diese zwei Aufgaben, welche uns Europäern noch bevorstehen:
Vertiefung der europäischen Integration – für den Frieden,
Klimaschutz – für unsere Existenz.
Ich glaube daran, dass Europa unsere Zukunft ist – und Nationalismen von gestern sind.
Ich glaube an die polnisch-deutsche Versöhnung. Ich glaube an die Freundschaft zwischen Polen und Deutschland, zwischen Polen und Deutschen.
Das sage ich heute hier als polnischer Europäer, als ein Breslauer. Das sage ich heute hier als ein Berliner.“
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung vom
Landesjugendchor Brandenburg in Kooperation mit dem Kammerchor Adoramus aus der polnischen Grenzstadt SÅ‚ubice unter Leitung von Claudia Jennings. Nach der Gedenkrede folgt als drittes Musikstück die international ausgezeichnete Komposition „Mironczarnia“ des jungen polnischen Komponisten Jakub Neske: Es beginnt flüsternd, spielt mit lautmalerischen Elementen und Sprechgesang, ist spannungsgeladen. Vorlage ist ein Gedicht von Miron Bialoszewski, der den Kampf eines Autors beim Schreiben eines Gedichts schildert – mit vielen Wortspielen und „Neuwörtern“, gut klingend, aber sehr schwer übersetzbar.
http://neske.eu/j/en/scores/Jakub%20Neske%20-%20Mironczarnia%20SATB%20-%20remarks.pdf
Das Bläsernonett des Musikkorps der Bundeswehr unter Leitung von Oberstabsfeldwebel Matthias Reißner spielte den zweiten Satz Andante Cantabile aus der „Petite symphonie pour vents“ von Charles Gounod (1818-1893).
Die Totensignale „Åšpij kolego“ (Ruhe in Frieden, Kamerad) und „Der gute Kamerad“ bliesen der Obergefreite Mateusz Rubajvom Repräsentations-Regiment der polnischen Streitkräfte und Oberfeldwebel Matthias Heßeler vom Musikkorps der Bundeswehr in Siegburg. Die Gedenkstunde endete mit der Europahymne und der Nationalhymne.
Schlussbemerkung
Die zentrale Gedenkfeier zum Volkstrauertag ist der einzige Gelegenheit, an dem der Plenarsaal des Bundestages, der sonst ausschließlich Bundestagsabgeordneten und Mitgliedern von Bundesregierung und Bundesrat zugänglich ist, einem externen Veranstalter zur Verfügung steht.
Angesichts des Anliegens des Volktrauertages – Wachhalten der Erinnerung an die deutsche und europäische Kriegsvergangenheit, Versöhnung über den Gräbern, Friedensauftrag, Freundschaft mit den Nachbarn und Europäische Integration – ist das völlig angemessen. Es ist Friedens-Grundlagenarbeit, die nicht als Sonntagsrede verpufft, sondern klar und konkret Kante zeigt gegen nationalistische Egozentriker und Hasspropaganda, entschieden für Europa, gemeinsame Friedenssicherung und unteilbare Menschenrechte.
Besonderer Dank gebührt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Volksbundes und der Bundestagsverwaltung: Die Herausforderung einer solchen Veranstaltung mit höchsten Staatsspitzen, vielen alten und ausländischen Gästen und einem strengen Zeitplan wurde verlässlich-perfekt und mit souveräner Ruhe gemeistert. Als Gäste des Bundestages konnte man sich richtig willkommen fühlen.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: