April 1968: Mein zweites Studienjahr an der Uni Münster. Als Aktiver der Fachschaft Geografie erlebte ich die damalige Ordinarien-Uni von unten. Schilder mit "Hier verlassen Sie den demokratischen Sektor" hätte ich damals für passend gehalten.
Tagebuchnotizen April/Mai 1968 des
Studenten W. Nachtwei in Münster (Geographie, Geschichte, 3. Sem.)
(07.06.1967: Am 7. Juni Sondersitzung des Studentenparlaments in der überfüllten Mensa zur Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg bei der Anti-Schah-Demo in Berlin. Anschließend:
»Als sich herausstellt, dass der Fackel-Schweigemarsch der 6.000 Studenten tatsächlich nicht über den Rahmen der Trauer hinausgeht, gliedere ich mit H.J. dort ein, wo wir – trotz Transparentverbot – zusammengerollte Transparente entdecken. Als diese entrollt werden, inszenieren wir ein Buh- und Zischkonzert. Beifall, als ein Ordner das Einrollen befiehlt.“)
Mo, 15.04.: ertragreicher Geburtstag, der neben 100,- für Schreibmaschine und Fotoalbum viele Bücher einbringt: „Die amerikanische Herausforderung, „Triebstruktur und Gesellschaft“, „Einführung in die Logik“, „Siehe, er kommt hüpfend über die Berge“. Während mir Mutti „trotz alledem Gottes Segen“ wünscht, heißt es bei Papi „nur“, ich möge bewusst und verantwortlich meinen Weg gehen. Um 9.30 letztes Winken zu Angela auf dem Hbf-Bahnsteig, während ich im Oster-Sonderzug nach Berlin presche, als Delegierter des Quickborn-Arbeitskreises zum Weltkongress der Weltbünde der Katholischen Jugend „Jugend will Frieden“. (..) Vor dem Bahnhof Zoo und dann am Kranzler-Eck gerate ich sofort in Massen von Diskussionsgruppen. Man redet, debattiert über Gewalt in er politischen Auseinandersetzung der Demokratie, die Bedeutung, die Gefahr der Pressekonzentration durch den Springer-Konzern, die Rechtsstaatlichkeit unserer staatlichen Organe. Dies immer und immer wieder, oft noch geladen von Emotionen der Osterunruhen. Studenten, ältere Herren und Damen, Jung-Arbeiter (wer Arbeiter ist, wird eher akzeptiert), Gewerkschaftler, Durchschnittspassanten liefern sich heiße Wortgefechte, in denen sich beide Seiten gut darstellen, so dass ich, als ich selbst eingreife, mit fast jedem gemeinsame Voraussetzungen finden kann. Nur wenn hitzige Polemik aufsteigt, , werden nur noch Parolen geschleudert und altbekannte Phrasen aus jeder Richtung.
Schnell den Koffer im Joh.-Haus, Wilhelmstr. 122, abgestellt eile ich zum Hauptkrisenpunkt der letzten Tage, zum nahen Springer-Hochhaus an Kochstraße/Mauer. Die Polizei aber ist auf der Hut. In einem günstigen weiten Umkreis sind die Straßen abgesperrt, im Sperrgebiet rasen Mannschaftswagen, Kradfahrer. Springer-Fahrzeuge durchfahren die Sperren nur in hohem Tempo. Sehr aufschlussreich ist hier das Meinungsspektrum, vertreten durch einige prägnante Personen.
Rechts- bis Nazistimmen: Man will in Ruhe seine Arbeit machen und dabei nicht gestört werden, die Polizeisollte Holzknüppel mit Nägeln bekommen, die dreckigen Studenten seien mit MG`s in Viehwaggons zu treiben und über die Mauer zu fahren.
Viele Stimmen der Mitte, die durchweg viele Mängel sehen, Gewaltanwendung aber für ungerechtfertigt halten. Mehrere Arbeiter scheinen zum persönlichen Schutzeinsatz für den Notfall gekommen zu sein. Viele Schaulustige, die wenig engagiert, aber anti-links sind. Ein Ex-DDR-Politischer, der die Realität der Gewalt von oben in beiden deutschen Staaten gegenüberstellt.
Schließlich nicht besonders zahlreiche Linke, unter denen sich aber keine Köpfe zeigen: simple Argumentation, die durch Oberflächlichkeit nicht mal Dialektik benötigt, um ihre Thesen zumindest vor sich selbst glaubwürdig zu vertreten. Einige herumbrüllende Rocker, die mit Schlagworten infiziert sind und nun die starken Revolutionäre spielen. Elemente, die diese Bewegung diskreditieren können. Ein offensichtlicher Aufputscher („ihr steht hier noch rum, dabei knüppelt die Polizei schon wieder herum“), der hysterisch wird, als ihm die Umstehenden mit Skepsis begegnen.
In den Thesen, die ich vertrete, versuche ich beide Seiten einzubeziehen und zu erstehen: Genese der Unruhen: es geht im Grunde um eine tiefe Kritik an unserer Gesellschaft, an unserem Staat, nicht um eine Negation von vorneherein. Diese wirklich äußerst begründete Unzufriedenheit mit den politischen Realitäten (die Initiativlosigkeit unserer mittelmäßigen Politiker, die traditionell autoritär-repressiven Tendenzen in der Gesellschaft, die Schönrednerei und Selbstkritiklosigkeit …..) wird gefördert durch mehrere soziologische psychologische Faktoren: das Faktum einer sich an den Gegebenheiten stoßenden idealistischen, weil erfahrungsloseren (deshalbweniger resignierten, zurücksteckenden) Jugend; die Vorbild-, Vaterlosigkeit; durch wachsende Information zunehmende Kritikbereitschaft; das tiefe Unbehagen als unbedeutendes Element der Masse total den Herrschenden ausgeliefert zu sein; das Gefühl der Hilflosigkeit
(…)
Di, 16.04.: (…) Begrüßungsmarathon im Vortragssaal er Kongresshalle: über 300 Delegierte, oft auch Ältere (sogar zwei Omas) aus 35 Nationen müssen viele Dankadressen und Mengen hoher Worte über sich ergehen lassen. (…) Doch in den beiden Einführungsreferaten stürmt die Unruhe von heute mit südlichem Temperament zwischen die Jugendvertreter: Prof. Phil Farine, Vorsitzender des kath. Komitees gegen den Hunger und für Entwicklung (Frankreich)
(…)
Dann der als Sozialbischof bekannte und Kommunist in Südamerika verschriene Erzbischof von Olinda und Recife (Brasilien), Dom Helder Camara, ein zerbrechlicher kleiner Opa mit gütigen Augen, ein einem fast schäbigen schwarzen Rock mit Eisenkette und Holzkreuz., der aber in der Rede ein feuriges Temperament mit viel Humor beweist. Er richtet sine Botschaft an die Jugend aus Kapitalismus und Sozialismus. Denn von ihr erwartet er mehr als von den meist angepassten, in ihrem Idealismus abgekühlten Erwachsenen. Die Situation iun Lateinamerika sei nichts anderes als Sklavenhalterei, wozu der Neokolonialismus der Industrie und die Komplizenschaft der Kirche mit den Herrschenden kommen. Dass die USA Hilfe zur Entwicklung betreibe, sei absurd, sie habe in diesen Ländern nur gute Verdienstmöglichkeiten. Der Sozialismus, der sich auf menschliche Werte gründet und einen wissenschaftlichen Humanismus darstellt, hat jedoch mindestens genauso versagt; denn er hat neben noch geringerer Hilfe nicht einmal die Pluralität im Volk geduldet. Hier versteht er den Wunsch nach Gewalt bei vielen; denn die Kälte und Nonchalance der Mächtigen regt auf. (…)“
Sa, 11.05.: Auch wenn die anderen nicht können; ich bundesbahne in meinem Revolutionsdress nach Bonn zum Sternmarsch der Notstandsgegner, um als Befürworter beobachtend die Anti-Massen zu erleben. Das sehr leere, ganz spärlich von Passanten durchzogene Bonn ist voll von 30-40.000 Notstandsgegnern. (…) Eine Invasion ist angerollt, eine neue Jugendbewegung zeigt sich. Aussehen: von mir an im Schnitt aufwärts, meist bärtig oder Militärjacke, nicht wenige langhaarig, alles wetter- und wasserwerferfest, nicht sorgfältig gekleidet. Viele Bauhelme, diafreudige Massen roter Fahnen, Transparente, auch Bundesfahnen, die Personen selbst auch oft beklebt, behängt, besteckt mit mehr oder weniger allgemeinen, schlagwortartigen Stellungnahmen zum Demonstrationsobjekt, den „Nazi“-Gesetzen, neuem Ermächtigungsgesetzen.
Mein karnevalsbunten Westfalenzug, in dem ich auch einige Münsteraner Linke recht unscheinbar andere nachmachen sehe, beginnt am Beueler Rheinufer mit einem Teach-In. Ein jüngerer Anti-Pfarrer klagt in verletztem Stolz über des Bundeskanzlers fehlende Gesprächsbereitschaft, die Kirchenglocken läuten heute zur Warnung; ein merklich kampf- und redeerprobter Berliner verkündet aufputschend Beseitigungsabsichten gegen Kiesingers System; rheinische SDS`ler sind mäßiger, schon wegen Springers hier nicht so großer Macht, und bringen eindringlich einen mäßigenden Verhaltenskatalog, der auch als Flugblatt verteilt wird, Lobesworte sogar für die Polizei darin.
Aber so verträglich wie die sich arrangierenden Spitzen ist nicht die größtenteils junge Masse in ihren Schriften und Sprechchören: „Kapitalismus führt zum Faschismus!“ (wohin der Sozialismus?) „Benda wir kommen!“ „Nazi-Kiesinger!“ „Macht aus Polizisten gute Sozialisten!“ „Die das Grundgesetz versauen, muss man auf die Finger hauen!“ Wir sind eine kleine radikale Minderheit!“ „Wir kommen aus dem Osten, Ulbricht zahlt die Kosten!“ „No, no, Notstand no!“
Alles in einem Demonstrationsstil der Lückenbildung, so dass die untergehakten Zehnerreihen mit wehenden Fahnen unter rhythmischen Schlachtrufen vorwärts stürmen können, so eine große Gemeinschaft bilden können. Aggressiv ist sie aber nicht, nein bunt, sehr individualistisch und fröhlich, Witze und Gag-Sprechchöre sind beliebt. Ein sympathischer Zug junger Outsider heutigen Zuschnitts: Den Bürgern und Abgeordneten , sich befriedigten Gewissens abzuwenden. Denn man hat`s ja offensichtlich mit intellektuellem Proletariat zu tun, unter roten Fahnen von Kommunisten unterwandert.
Ich sehe einige ältere Typische am Zug; aber die sind meist unter sich in Gruppen, erscheinen unschlüssig, erfreut oder befremdet von der Art ihrer jungen Mitdemonstranten.«
In rationaler Beziehung bringt aber auch die eindrucksvolle „Campus“-Schlusskundgebung im Hofgarten nichts ein, trotz Böll, Ridder, Fried, Baum bleibt alles eine relativ isolierte Demonstration – nur für die Presse.
Die Polizei, heute von Innenminister Weyer selbst geführt, , ist so spärlich und dann so zuvorkommend und sonntäglich zu sehen, , dass es nirgendwo zu irgendeiner Konfrontation, Beleidigung usw. kommt. Disziplin und Zurückhaltung auf beiden Seiten . Die Polizei gut in ihrer Nachgiebigkeit und Versteckkunst.
Mi, 15.05.: Um 10 Uhr im proppenvollen H 1, wo bis nach 16 Uhr sehr unergiebige Schläge abgetauscht werden.
Auf linker Seite (das Präsidium und Hauptredner) viel hohe Intelligenz oft mit Sinn für Unverständlichkeit und unrealistische Vorstellungen und ziemlich übereinstimmender Ablehnung des Jetzt-Systems. Auf Rechts sich anbiedernde NHB-Notstandsgegner , die sogat am Lamberti-Brunnen eine symbolische Barrikade errichten wollen. Dieser rechte Umarmungsversuch wird sofort entlarvt. In der Mitte nur zwei RCDS`ler, die sich die sich durch Linkstendenzen, aber mehr Realismus und eine grundsätzliche Bejahung unseres Systems auszeichnen. Gegenüber diesen (meiner Meinung nach sehr vernünftigen) Abweichlern zeigt sich der Entwicklungsstand des demokratischen Bewusstseins der auf bloße Reizworte reagierenden Masse und der Versammlungsleitung, die offensictlich und gerne manipuliert, z.B. in der Verteilung der Redezeit.
Am Nachmittag entartet die Versammlung völlig, indem die Versammlungsleitung Meinungsmache betreibt, indem der Rechte Herwarth wegen seiner unbequemen, sehr oft treffenden, leider fanatischen Worte eindeutig faschistisch behandelt wird.
Solche Versammlungen sagen sehr viel über die Berechtigung der Angriffe auf unser angeblich präfaschistisches System mit einigen demokratischen Feigenblättern. Untereinander, in der Masse zeigen die Verfechter einer echteren Demokratie auch nicht gerade viele demokratische Tugenden, Emotionalität gibt`s immer noch, Toleranz und Geduld wenig, dafür viel Kritikbereitschaft, wenig Kritikempfänglichkeit.
Meine große Hoffnung ist diese autoritäre, sehr kritische Jugend auch nicht. Denn bringt sie genügend Selbstkritik auf?
Nur eine demokratische (Un-)Art scheint sehr stark ausgeprägt zu sein: Vor lauter Diskussion, in der man aber nur verschieden Programme gegen den andersdenkenden Kopf knallt, kommt man nicht zur Tat. Erst der clevere, leicht demagogische realistische Godehard N. bringt die Aktion zustande, einen spontanen Protestzug (von ca. 2.000) zur leichten Durchschüttelung Münsters. Ich mache mit wegen der Münsteraner Situation: Demonstration nicht gegen die Notstandsgesetze (auch wenn`s für jeden Außenstehenden so scheint), sondern als politisierende Provokation für`s müde, zufriedene Münster. Eingehakt zwischen zwei anderen Fachschaftlern fühle ich mich schnell pudelwohl – im anstrengenden Laufschritt, im mutigen anstimmen von Bonn`schen Schlachtrufen und auch selbstgemachten. Wie in alten (Bundeswehr-)Tagen darf ich mich voll in mein Organ stürzen, ich bin ein Hauptschreier und zuweilen ein Solo-Gag-Macher. Es macht mir nichts aus. Zur kräftigen Störung des Verkehrs geht es durch dichte Zuschauerspaliere – so was hat Münster noch nie gesehen – über Prinzipalmarkt, Bahnhofsvorplatz zum Lambert-Brunnen, wo man die Diskussion mit Bürgern versucht. Hierbei huldigt man doch demokratischen Gepflogenheiten. Aber man bleibt unter sich.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: