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Schutzverantwortung akut gegenüber dem Terrorkrieg der IS-Milizen: Anmerkungen zur militärischen Nothilfe ("Mass Atrocity Response Operations")

Veröffentlicht von: Nachtwei am 13. August 2014 23:08:03 +01:00 (21534 Aufrufe)

Die bedrohte Autonome Region Kurdistan, die von Völkermord bedrohten Jesiden und Christen im Nordirak brauchen akute Überlebenshilfe: politisch, humanitär, militärisch. Hier einige Anmerkungen zu Möglichkeiten und Problemen militärischer Nothilfe.

 

Schutzverantwortung akut gegenüber dem Terrorkrieg der

IS-Milizen: Anmerkungen zur militärischen Nothilfe

(„Mass Atrocity Response Operations“)

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (13.08.2014)

Der Terror- und Vernichtungskrieg  der Milizen des „Islamischen Staates“ (IS): Verteidigungsfall für die Autonome Region Kurdistan, beginnender Völkermord an Jesiden und Christen im Nordirak. Die kurdischen Peschmerga, die bedrohten Volksgruppen brauchen – neben einer politischen Lösung in Bagdad und humanitärer Hilfe – akut, binnen Tagen militärische Unterstützung.

Was ist notwendig, was kann helfen, wie können konfliktverschärfende Neben- und Langzeitwirkungen begrenzt werden?

Zu den Möglichkeiten und Problemen von Militäroperationen zum Schutz von Zivilbevölkerung hier Passagen aus meinem Artikel zur Schutzverantwortung vom Juni 2012:[1] (www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1145 ) Darin Ausführungen zu „MARO - Mass Atrocity Response Operations: A Military Planning Handbook“, hrsg. vom Carr Center for Human Rights Policy, Harvard Kennedy School, und dem US Army Peacekeeping and Stability Operations Institute, 2010. (www.hks.harvard.edu/centers/carr/programs/mass-atrocity-response-operations )

„(5) Schutzverantwortung in der Kontroverse

(a) Missbrauchsrisiko und Kriegslegitimation (…)

(b) Nichthandeln/Unzureichendes Handeln als Hauptproblem (…)

(c) Mangelnde Glaubwürdigkeit vieler Staaten, ja der Staatengemeinschaft (…)

(d) Fixierung auf Militärinterventionen, Prävention und nichtmilitärische Maßnahmen im Wahrnehmungsschatten (…)

(e) Operationalisierungslücke: Gute Absicht allein reicht nicht!

Das fängt an bei der mittelfristigen und strukturellen Krisenprävention und dem Verzicht auf kontraproduktive Politiken und Aktivitäten („Do no harm“). (…) Auf der Ebene der operativen Krisenprävention fehlt es an internationalen und integrierten Frühwarn- und Frühaktivierungssystemen zu schwersten Menschenrechtsverbrechen und Völkermord.[2] Im Unterschied zu den Nationalstaaten verfügen die Vereinten Nationen außerhalb ihrer Missionsgebiete über keine „Augen und Ohren“ der Früherkennung. Trotz einiger Fortschritte seit Ende der 90er Jahre ist der Rückstand an Fähigkeiten und Kapazitäten der zivilen Krisenprävention und Unterstützungskräften weiterhin erheblich. (…)

Harvard-Professorin Sarah Sawell und Ex-General Anthony Zinni kritisierten, dass es auf militärischer Seite keine Doktrinen für Operationen zur Beendigung von Massenverbrechen, ja eine „Allergie von Militärs gegenüber Planungen für den Schutz von Zivilisten“ gebe.[3] Dies bestätigt der ehemalige UN-Untergeneralsekretär für Friedenssicherungseinsätze, Alain Le Roy: „Keine Armee der Welt ist dafür ausgebildet, Zivilisten zu schützen“.[4]

(f) „Mass Atrocity Response Operations“ (MARO)- Kriterien für militärische React-Maßnahmen: Neben diplomatischen humanitären und anderen friedlichen Mitteln kann der UN-Sicherheitsrat in Zusammenarbeit mit den zuständigen Regionalorganisationen auch Zwangsmaßnahmen über Sanktionen bis zum Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen beschließen. Diese sind das äußerste Mittel.

Für das Ob militärischer Zwangsmaßnahmen sind Orientierungspunkte die fünf Entscheidungskriterien des ICISS-Berichts, die aber nicht im Gipfeldokument von 2005 übernommenen wurden: „Ernst der Bedrohung“, „Redlichkeit der Motive“, „Anwendung als letztes Mittel“, „Verhältnismäßigkeit der Mittel“, „Angemessenheit der Folgen“.[5] (…)

Die differenziertesten Kriterien für Krisen- und Militäreinsätze haben in Deutschland bisher Bündnis 90/Die Grünen mit dem Abschlussbericht ihrer Friedens- und Sicherheitspolitischen Kommission 2008 vorgelegt.[6] Nach aller Erfahrung mit internationalen Friedenseinsätzen betont Winrich Kühne, Gründungsdirektor des Zentrum Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin und Peacekeeping-Experte, insbesondere eine „Verantwortung zur Wirksamkeit – und kein Chaos anzurichten“.

Das Wie militärischer Operationen zum Schutz bedrohter Bevölkerungsgruppen muss ausgehen von den Besonderheiten solcher Szenarien. Vorstellungen, Militäroperationen gegen Massenverbrechen seien so was wie Geiselbefreiung im großen Stil, zeitlich und räumlich klar begrenzbar, führen in die Irre! Durch Luftwaffeneinsätze können bedrohte Bevölkerungsgruppen nur begrenzt geschützt werden. (Im Kosovo nahm unter den NATO-Luftangriffen 1999 der serbische Vertreibungsterror erst richtig Fahrt auf.) Die Risiken einer Entgrenzung des Einsatzes, von mission creep sind erheblich. Und wo ein Staat nicht nur in seiner Schutzverantwortung versagt, sondern selbst Verursacher und Täter von schwersten Menschenrechtsverbrechen ist, da kann eine Intervention zur Großgefahrenabwehr schnell in Richtung Regime Change eskalieren und danach in einen Stabilisierungseinsatz münden.

Eine enorme Kluft besteht zwischen den Erwartungen, die in eine Militärintervention „zum Schutz“ gesetzt werden, und der realen Nichtvorbereitung von Streitkräften auf einen solchen Auftrag.

Vor diesem Hintergrund ist das im Mai 2010 erschienene „Mass Atrocity Response Operations / MARO Military Planning Handbook“, herausgeben vom Carr Center for Human Rights Policy an der Harvard Kennedy School und dem US Army Peacekeeping and Stability Operations Institute von besonderer Bedeutung.

Ausgangsthese des Handbuches ist, dass Massenverbrechen und Missionen zu ihrer Verhinderung einzigartige operationelle Herausforderungen mit sich bringen, die der sorgfältigen Vorbereitung und Planung bedürfen. Wesentliche Merkmale eines MARO-Kontextes sind: komplexe Vielparteien-Dynamiken; Illusion von Unparteilichkeit; einzigartige Eskalationsdynamik. Zu den zentralen operationellen und politischen Implikationen gehört die kritische Rolle verschiedener Informationen von Anfang an, frühe Interagency-Planung, Geschwindigkeit vs. Masse, die Macht der Zeugenschaft (high-tech und low-tech), Vorgehen gegen Symptome oder Konfliktursachen, sofortige nichtmilitärische Anforderungen, moralische Dilemmata, politische Führung. Ergänzend zu diplomatischen, wirtschaftlichen und Informationsmaßnahmen sollen Military Flexible Deterrent Options (FDOs) vorbeugend wirken. Bleibt die Krisenbewältigung erfolglos, stellt sich die Frage einer umfassenden MARO-Intervention. Hierbei werden folgende Ansätze unterschieden:

- Saturation

- „Oil Spot“

- Separation

- Safe Areas

- Partner Enabling

- Containment

- Defeat Perpetrators.

Die Übersicht der sieben Ansätze mit Charakteristika und Anmerkungen unter www.hks.harvard.edu/cchrp/maro/pdf/MARO_2_page_overview.pdf

(g) Spannungsverhältnis zwischen kurzfristiger Großgefahrenabwehr und der Bekämpfung der Konfliktursachen (mittel- bis längerfristigen Prävention): Während sich Regierungen oft auf kurzfristiges Agieren konzentrieren und dabei immer wieder bei Symptombehandlung landen, haben entwicklungspolitische und zivilgesellschaftliche Akteure ihren Schwerpunkt oft eher bei der Bearbeitung von Konfliktursachen, wo aber die Wirkzusammenhänge komplex und schwer fassbar sind. In der politischen Auseinandersetzung werden Gefahrenabwehr und Ursachenbekämpfung immer wieder gegeneinander gestellt, obwohl sie zusammen angegangen werden müssen – mit den möglichen Widersprüchen und Dilemmata im konkreten Fall. Realistischer Weise ist dabei zu berücksichtigen, dass verschiedene externe Akteure sehr unterschiedliche Wirkungsmöglichkeiten gegenüber akuten Konfliktdynamiken und tieferen Konfliktursachen haben.“



[1] Winfried Nachtwei: Die Schutzverantwortung zwischen Notwendigkeit, Tücken und Umsetzung – Herausforderung für deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik, S. 10 f.

[2] Die Anweisung von US-Präsident Obama vom August 2011 zur Einrichtung eines „Atrocities Prevention Board“ benennt deutlich diese und die folgenden Defizite. Näheres darüber unter http://www.genocide-alert.de

[3] Washington Post 21. April 2011. Sarah Sawell war hohe Pentagon-Beamtin in der Clinton-Administration. Sie verfasste eine Einführung zum Counterinsurgency Field Manual No. 3-24 der US Army von 2006 und gründete das „Mass Atrocity Response Operations (MARO) Project“ der Harvard Kennedy School/Carr Center for Human Rights Policy und dem Peacekeeping and Stability Operations Institute der US Army. Anthony Zinni war vormals u.a. Kommandeur des US Central Command.

[4] Interview mit Alain Le Roy in: VEREINTE NATIONEN, hrsg. von der DGVN, 6/2011, S. 250-256

[5] Vgl. Andrea Böhm, Retter ohne Regeln – Irak, Afghanistan, Libyen, Uganda: Die Einmischung in fremde Konflikte wird zur Gewohnheit. Mitleid allein reicht nicht aus. Erforderlich sind klare Kriterien, DIE ZEIT 22. März 2012

[6] Im Kontext der grüninternen RtoP-Debatte habe ich diese Kriterien, die nicht als Checkliste, sondern als Orientierungshilfe zu verstehen sind, weiterentwickelt. An erster Stelle steht dabei „strategische Klarheit und Nüchternheit“ auf Grundlage einer sorgfältigen Konfliktanalyse Weitere Kriterien sind: Ziele und Interessen offen legen, Primat der Zivilen Krisenprävention und „äußerstes Mittel“, völkerrechtliche Legitimität und UN-Mandat, Primat der Politik/Wirksamkeitsorientierung und ausgewogene Fähigkeiten, verantwortlicher Multilateralismus, Leistbarkeit und Verantwortbarkeit, Parlamentsbeteiligung und gesellschaftliche Akzeptanz.


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch