Mit dem Überfall auf Polen begann zugleich ein Vernichtungskrieg. Die erste systematische Massenmordaktion der Nazis im besetzten Europa geschah ab September 1939 in Piasnica bei Danzig.
Deutscher Überfall auf Polen vor 80 Jahren – Vernichtungskrieg von Anfang an! Ein Flugblatt/1989, Reisenotizen aus Pommern
(Piasnica, Stutthof) 1993, Presseerklärung/2009
von Winfried Nachtwei
(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Seit 1957 erinnern die deutschen Gewerkschaften am 1. September, dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen und „Antikriegstag“, an die Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs und bekräftigen ihre Grundhaltung für Frieden, Demokratie und Freiheit. Jahrzehntelang schien der Jahrestag des Überfalls auf Polen und Weltkriegsbeginns außerhalb von Gewerkschaften und Friedensbewegung kaum der Erinnerung wert zu sein. So auch noch Ende der 1980er Jahren, als die Rolle der Wehrmacht im Angriffs- und Vernichtungskrieg vielfach noch sehr weichgezeichnet wurde.
Dass aus dem rheinisch-westfälischen Wehrkreis VI (Münster) allein 13 Heeresdivisionen und 16 Reserve-Polizeibataillone in den Krieg gegen die europäischen Nachbarn befohlen wurden, entdeckte ich in Vorbereitung der Minsk-Reise unserer Friedens-AG im Sommer 1988. ( http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1540 ) Bis heute gibt es zu diesen Divisionen aus Rheinland und Westfalen keine historisch-kritischen Untersuchungen – im Unterschied zu etlichen Reserve-Polizeibataillonen, wo Strafverfahren umfassend Quellen erschlossen.
Erstmalig nahm am 1. September 2019 mit Frank-Walter Steinmeier ein deutscher Bundespräsident an der Gedenkveranstaltung im polnischen Wielun teil. Mit dem Luftangriff auf die militärisch unbedeutende Kleinstadt ab 4.37 Uhr vor 80 Jahren und wenige Minuten vor der Beschießung der Westerplatte in Danzig begann der Angriffskrieg gegen Polen. Der erste Angriff der Wehrmacht war ein ausdrücklicher Terrorangriff. Mehr als 1000 Menschen, ein Großteil Zivilbevölkerung, fielen ihm zum Opfer.
(1) „Flucht vor der Vergangenheit oder Erinnerung für die Zukunft?“ Auszug eines Faltblatts der LAG Frieden der Grünen NRW zum 1. September 1989 von Winni Nachtwei
Vor 50 Jahren „brach der Krieg aus“ – etwa wie eine Naturkatastrophe?
Vor 50 Jahren „überfiel Hitler Polen“ – etwa allein und mit bloßen Händen?
Eröffnet wurde der Krieg gegen Polen am 1. September um 4.40 Uhr mit einem Bombenangriff auf das Städtchen Wielun, in dem keinerlei Militär lag. Die ersten Bomben trafen das Krankenhaus und den Marktplatz. Ein Kompaniechef des westfälischen Panzerregiments 11:
„Unser Radio bringt im Wehrmachtsbericht: Wielun wurde genommen! Für uns war das ein besonderes Erlebnis, als wir es im Feuerschein der Stadt Wielun hören. Wir waren mit dabei!“ Und: „Wielun bot einen grauenhaften Anblick. Die Stadt war durch Fliegerbomben und Artilleriebeschuss fast völlig zerstört. Der Markt war ein wilder Trümmerhaufen mit zahlreichen Toten.“ („Die Truppentraditionsteile des PzBtl 194, Lünen 1987, S. 63 f.)
Die deutsche Luftwaffe bombardierte und beschoss vom Anfang an die Flüchtlinge auf verstopften Straßen, jede Menschenansammlung, sogar Schlangen vor Geschäften. Auf Menschen, die sich schwimmend über die Weichsel zu retten versuchten, wurden aus Tieffliegern Handgranaten geworfen.
Aus der Chronik des westfälischen Panzerregiments 11 (Paderborn/Sennelager), hrsg. 1981 von seinem Traditionsträger, dem Panzerbataillon 194 aus Münster-Handorf:
„Nach pausenloser, überholender Verfolgung der im raschen Rückzug befindlichen polnischen Armee über zumeist unbefestigte Sandstraßen im dichten Staub, über 310 km innerhalb 50 Stunden, gewannen die Panzer das Weichselufer und sperrten dort die Übergänge. Die Vernichtung der polnischen Kräfte und unermessliche Beute waren die Folge. (…) Nach dieser Frontbewährung mit einer Marschleistung der Panzer von mindestens 600 km in Polen kehrten die erfolgreichen „11er“ voller Stolz in ihre Friedensstandorte zurück.“ (S. 76)
Am 6.9. erklärt die Heeresführung Geiselnahmen und Geiseltötungen als „Notstandsmaßnahmen“ für zulässig. Am selben Tag werden von der 10. Armee (zu ihr gehört auch das Panzerregiment 11) in Tschenstochau 5000 männliche Zivilisten verhaftet und 120 erschossen. Versprengt hinter der Front kämpfende polnische Soldaten gelten als Partisanen und werden von der extra dafür eingerichteten Schnelljustiz der Wehrmacht zum Tode verurteilt. In der ersten Septemberwoche werden schon 200 Polen täglich hingerichtet.
Die Wehrmacht führt von vorneherein auch Krieg gegen die Zivilbevölkerung – und schießt der nationalsozialistischen Verfolgungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik den Weg frei. Die 10. Armee ist die Einsatzgruppe 2 von Sicherheitspolizei und SD zugeordnet, die sofort mit der Erfassung und Verhaftung der polnischen Führungsschicht, von katholischen Proestern, Juden und Kommunisten beginnt. Den „Septembermorden“ fallen tausende Polen und tausende Juden zum Opfer; an den Massakern beteiligt sich der „Volksdeutsche Selbstschutz“ ganz besonders. Im Dezember sind schon 90.000 Polen aus den dem Reich angeschlossenen Teilen Polens ins „Generalgouvernement“ vertrieben worden.
Der Oberbefehlshaber Ost Blaskowitz kritisiert Anfang 1940 so die deutsche Herrschaft in Polen:
„Es ist abwegig, einige Zehntausend Juden und Polen, so wie augenblicklich geschiegt, abzuschlachten; denn damit werden angesichts der Masse der Bevölkerung weder die polnische Staatsidee totgeschlagen noch die Juden beseitigt. Im Gegenteil, die Art und Weise des Abschlachtens bringt größten Schaden mit sich, kompliziert die Problemee und macht sie viel gefährlicher, als sie bei überlegtem und zielbewusstem Handeln wären.“
Um die „Fremdvölkischen“ zu einem „führerlosen Arbeitervolk“ (Himmler) zu machen, proklamierten die Nazis eine Politik der Aufspaltung und gesellschaftlichen „Enthauptung“. 2,5 Millionen Polen wurden als Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt.
Der Polenfeldzug bringt zwei Millionen Juden unter deutsche Herrschaft. Er legt das Fundament für as größte Menschenschlachthaus der Geschichte, das mit Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek …. Im Generalgouvernement errichtet wurde.
Der Überfall vom 1.September 1939 hatte Polen unter deutsche Herrschaft gebracht und der Sowjetunion ermöglicht, am 18.9.1939 in den Ostteil Polens einzumarschieren und dort bis 1941 mit Massendeportationen und Hinrichtungen zu wüten.
In sechs Jahren deutscher Terrorherrschaft wurden über sechs Millionen Polen umgebracht, mehr als ein Fünftel der ganzen polnischen Bevölkerung! In Warschau, das 1939 1,3 Millionen Einwohner hate, hielten sich bei der Befreiung noch 800 Menschen in den Trümmern versteckt.
Anstoß zu Weltkrieg und Holocaust
Der Überfall vom 1. September war der Auftakt zum 2. Weltkrieg, der 1941 mit dem Überfall auf die Sowjetunion zu dem „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg“ eskalierte, den die Geschichte kennt.
Der rheinisch-westfälische Wehrkreis VI stellte hierfür allein 14 Heeresdivisionen und 16 Reserve-Polizeibataillone, letztere vor allem für den besonders grausamen Partisanenkrieg. Die Rüstungsschmieden des Ruhrgebiets hatten Hochkonjunktur, ihre Herren Flick, Krupp, Röchling usw. machten Riesengewinne mit Sklavenarbeit und Plünderung besetzter Länder (Flick-Urteil des Nürnberger Gerichtshofes).
Der von Deutschland ausgegangene Krieg kehrte sich mit den Luftbombardements, mit Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung gegen die Deutschen.
Wege in den Krieg
Wer „Nie wieder Krieg!“ will, darf sich nicht mit diesem, oft zur Parole erstarrten Ruf begnügen, muss fragen: Wie war das möglich, dass innerhalb einer (!) Generation wieder Weltkrieg von deutschem Boden ausging?
Der Krieg brach nicht aus heiterem Himmel aus, in ihn führte ein Weg über viele Stufen:
Offen zutage lag seit Hitlers „Mein Kampf“ die Absicht der Nazis, „Lebensraum“ im Osten zu gewinnen – und zwar mit Gewalt. Zurecht warnten die Arbeiterparteien schon vor 1933 „wer Hitler wählt, wählt Krieg!“
Ab 1933 ließen sie den Worten Taten folgen: Die Ausschaltung aller politischen Gegner und Konkurrenten, die totale Gleichschaltung und Militarisierung der Gesellschaft (bis auf Kirchen und Wehrmacht); der rasante Aufrüstungskurs (im Jahr der Olympischen Spiele gingen 68% der öffentlichen Investitionen in die Rüstung); die immer aggressivere Außenpolitik(Einmarsch ins Rheinland, Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg, Besetzung Österreichs, des Sudentenlandes und der Rest-Tschechei).
Interessenten und Betreiber dieses Kurses waren die deutsche Wirtschaft und die Wehrmacht, er versprach ihnen jahrzehntelang erhoffte Gewinne und Macht. Carl Duisberg, Vorsitzender des Reichsverbandes der deutschen Industrie, 1931: „Ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa wird Europa das Rückgrat geben, dessen es zur Behauptung in der Welt bedarf.“
Das deutsche Volk war in seiner Mehrheit berauscht und von den „Erfolgen“ der Hitlerschen Politik, die Deutschland binnenweniger Jahre aus den Tiefen von Versailles, Weimar und Weltwirtschaftskrise herausgeführt zu haben schien. Über die im Schatten, die hunderttausenden Verfolgten, sah man hinweg.
Und Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion? Die Westmächte ermutigten den deutschen Expansionismus lange Zeit, indem sie die vielen deutschen Verstöße gegen Versailles (Durchbrechen der Rüstungsbeschränkungen) nahezu reaktionslos hinnahmen, indem sie bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei aktiv mitmachten – und zugleich Angebote der UdSSR zu einem antifaschistischen Bündnis zurückwiesen, ja sogar Hitler gegenüber Verständnis für den „deutschen Drang nach Osten“ äußerten! Die Sowjetunion, mit ihrem jahrelangen antifaschistischen Bündnisbemühungen aufgelaufen, machte schließlich it dem Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 (und der geheimen Aufteilung Polens und Osteuropas) den Weg frei für den Überfall auf Polen. Die eigene Haut auf Kosten anderer retten, war die Haltung der maßgeblichen europäischen Mächte gegenüber Nazi-Deutschland. Sie war dann auch eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der deutschen Blitzkriege.
Warum sie marschierten
Im Unterschied zu 1941 gab es 1939 keine allgemeine Kriegsbegeisterung in Deutschland, war die Stimmung eher gedrückt. Doch nichtsdestoweniger war der Großteil des deutschen Volkes bereit zum Krieg, bereit zum Mitmarschieren. Seit Generationen waren vor allem den deutschen Männern „Deutschland“, Gehorsam und Pflichterfüllung, Tapferkeit und Kameradschaft als höchste Werte eindressiert worden – ein Bewusstsein von der Unantastbarkeit der Menschenwürde, von unteilbaren Menschenrechten hatte in dieser konservativen Wertordnung nie Platz.
Geheimen Stimmungsberichten zufolge war zu Kriegsbeginn die Meinung vorherrschend, die „Polacken“ hätten zu viel provoziert, dass Deutschland sich das nicht mehr gefallen lassen dürfe: Polen habe Deutschland den Krieg „aufgezwungen“. Und außerdem glaubte man – in Erinnerung an die Tschechoslowakei – an einen kurzen Krieg.
Seit Monaten hatte die Reichsregierung diese Form der Kriegsbereitschaft systematisch gefördert: Indem sie sich selbst in eine „Friedensoffensive“ als Unschuldslamm präsentierte und zugleich durch fingierte „polnische“ Überfälle und Anschläge auf „Volksdeutsche“ eine „polnische Bedrohung“ aufbaute. Diese Übergriffe wurden entweder frei efunden oder von SS bzw. Angehörigen der deutschen Minderheit ausgeführt. 223 solcher Aktionen sind SS-amtlich verbürgt.
Die Kirchen, von niemandem dazu gezwungen, gaben dem Überfall schließlich ihren patriotischen Segen: „Erfüllt Eure Pflicht gegen Führer, Volk und Vaterland!“ oder „Gott sei mit allen, die die schwere Kriegsarbeit auf sich nehmen und verleihe ihnen Mut und Kraft, für das teure Vaterland siegreich zu kämpfen und mutig zu sterben!“ (aus den Hirtenbriefen von Diözesanbischöfen)
Zusammen mit der staatlichen Terrordrohung gegen jeden Verweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ (im August 1938 war ein Kriegssonderstrafrecht erlassen worden) reichte diese konzentrierte Propaganda voll und ganz, auch Nicht-Nazis und Nichtbegeistere marschieren zu lassen.
(Anm.: Die deutschen Sturzkampfbomber starteten am 1. September 1939 im oberschlesischen Oppeln. Am 1. September 2019 fand zwischen dem heutigen Opole und dem 92 km entfernten Wielun ein Lauf der Versöhnung statt, an dem neben vielen polnischen Jugendlichen auch drei deutsche SchülerInnen des Osterburger Gymnasiums teilnahmen. Osterburg/Landkreis Stendal und Wielun sind Partnerstädte. https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/stendal/stendal/zweiter-weltkrieg-staedtepartnerschaft-wielun-osterburg-100.html )
(2) Spuren des deutschen Vernichtungskrieges in Polen 1939 (Notizen von einer Polenreise 1993)
Stationen waren u.a. Leba/Ostsee, Gdansk/Danzig, der Landkreis Wejherowo/Neustadt mit den Dörfern Godetewo/Gotenow, Chynowie/Chinov , Rybno/Rieben (Kaschubei), Stegna/ Danziger Bucht, das ehemalige KZ Stutthof und Endpunkte von Todesmärschen.
1. August Tour durch`s nördliche Kaschubien mit dem Filmemacher Mierek Bork vom Video Studio Gdansk (mit ihm hatten wir 1991 in Riga bei den Dreharbeiten zu „Verschollen in Riga - Bilder einer Erinnerungsreise“ von Jürgen Hobrecht zusammengearbeitet und Irmgard Ohl und Ewald Aul, Überlebende des Rigaer Ghettos aus Osnabrück, begleitet)
Nach telefonischer Vereinbarung treffen wir Mierek um 16,00 Uhr am Ortseingang von Wejherowo/Neustadt, der uns zu seinem Haus (…) führt. Töchter und Frau begrüßen uns, Kaffee und Kuchen, gutes und munteres Gespräch (u.a. zur Einschätzung des Rechtsextremismus in der BRD, wo die beiden nicht so recht wissen, ob ihre hiesigen Medien ein Propagandabild auftischen).
Von Wejherowo auf der 217 hinauf in das waldige Hügelland. Halt vor Piasnica: Links neben der Straße Mahnmal zur Erinnerung an die Erschießung von 12.000 Menschen ab September 1939 (!). Hier, nach von ansässigen Nazis vorbereiteten Listen Ermordung der polnischen Führungsschicht, zunächst aus der unmittelbaren Umgebung und Weijherowo, dann auch aus Gdingen und Gdansk, später sogar aus Deutschland, Tschechoslowakei. 1946 wurden 27 Massengräber gefunden. 305 Leichen in zwei Gruben, die anderen wurden im Sommer/Herbst 1944 verbrannt. Hierfür wurden Stutthof-Gefangene eingesetzt, die anschließend auch erschossen wurden. Rund 20% wurden erschlagen, viele ohne Kleidungsstücke.
Am 11. Oktober 1939 Ermordung von 900 polnischen Menschen. Immer wieder trafen hier Nachbarn aufeinander – als Täter und Opfer.
Mahnmal von 1955. Einige hundert Meter tiefer im Wald die ersten Gräber: Erstes Gräberfeld von 28 identifizierten Toten (Priester, Schulinspektor, Bürgermeister eines kleinen Ortes) – gepflegt von einer Privatperson.
Dann ein Stein für zwei KP-Mitglieder. Ein dritter für alle Erschossenen der Forstverwaltung. Ein vierter für 116, zum Teil Unbekannte (Zahnarzt, Chef der Post von R., Lehrer, Geschwisterpaar, Mutter und Sohn) – gepflegt von der Kaufmannschaft Gdynia/Gdingen.
(Anm.: Das Massaker von Piasnica gilt als erste, systematisch durchgeführte Mordaktion der Nationalsozialisten im besetzten Europa. Danzigs NSDAP-Gauleiter Albert Forster war ein Hauptverantwortlicher für das Massaker. Er wollte seinen Gau als erster nicht nur „judenfrei“, sondern auch „polenfrei“ melden.
Nach von Volksdeutschen zusammengestellten Namenslisten wurden Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister, Kaufleute, Richter, Künstler aus dem Landkreis, dann auch Danzig und Gdingen verhaftet, im Gefängnis von Wejherowo gesammelt, mit Lkw`s in die Wälder um das Dorf Piasnica gefahren und dort erschossen. Historikergehen von 10.-13.000 Ermordeten aus, davon um 2.000 Angehörige der kaschubischen Minderheit und viele tausend Deportierte aus dem Reich. In Deutschland wie auch in Polen war das Massaker von Piasnica lange weitgehend unbekannt.)
Krokowa, ehemaliger Sitz des Grafen von Krokow. Totalrenovierung. Die Stiftung Europäische Bewegung errichtet hier mit deutschen Geldern ein kaschubisches Kulturzentrum. Fotos berichten von Begegnungstreffen hier. (…)
Vom ehemaligen Grenzflüsschen aus laufen wir über den sehr leeren Strand der Abendsonne entgegen. Mierek erzählt von der Zeit des Kriegsrechts, als viele führende Oppositionelle hier in Ferienwohnungen lebten und Soldaten in voller Montur die Nackten am Strand kontrollierten.
2. August: Besuch im Video Studio Gdansk: modern, lebendig, gute Ausstrahlung. Der Prospekt macht endgültig klar, dass wir es hier offenkundig mit einem soliden und sehr bekannten Unternehmen zu tun haben. Entstanden 1981 wurde es das TV-News-Zentrum der ersten freien Gewerkschaft des Ostens! Weiterarbeit auch unter Kriegsrecht mit Hilfe der katholischen Kirche. Eines der größten Archive zur jüngsten polnischen Geschichte.
Mit dem Wagen zur Westerplatte, die zur deutschen Zeit Strandbad, ab 1925 polnisch zu einem Militärstützpunkt ausgebaut wurde. Hartnäckiger Widerstand vom 1. Bis 7. September 1939. Faire Begegnung zwischendeutschem General und polnischem Festungskommandeur erregte Hitler.
Auf der Rückseite des Video Studios die ehemalige polnische Post in Danzig, der andere Brennpunkt des polnischen Widerstandes zu Kriegsbeginn.
3. August: Ehemaliges KZ Stutthof
… Richtung Stegna (30 km östlich Danzig an der Danziger Bucht). Schon vorher erinnert uns die Weichselniederung an den Niederrhein, jetzt kommt sogar mal eine Zugbrücke. 1,4 km nach dem Ortsschild Stegna links ein großer Eingangsstein „Stutthof (dahinter die ehemalige Villa des Kommandanten). 200 m vor Sztutowa.
Auf der Übersichtskarte sieht man, wie entlegen der Lagerstandort ist: Ostsee im Norden und Osten, im Westen Weichsel, im Süden Wasserläufe und Sumpfiges. Heure von Stegna aus eine proppere und gemütliche Urlaubsregion.
Die Absicht, ein Lager für „unerwünschte polnische Elemente“ zu schaffen, gab es schon seit 1936 bei NS-Behörden in Danzig: Seitdem Anlage von Kartotheken. Ab Juli 1939 SS-Einheit „Sturmbann Eimann“ zur Vorbereitung von Internierungen; Mitte August Auswahl des Platzes von Stutthof.
Am ersten Kriegstag in Danzig schon 1.500 Verhaftungen, von denen schon am 2. September 150 nach Stutthof. Zweck des Lagers: vor allem Ausrottung der polnischen Führungsschicht und Intelligenz in Danzig und Westpreußen.
Seit 1942 hierher auch Transporte aus anderen besetzten Gebieten … internationales Konzentrationslager. Ab Juni 1944 Einbeziehung in die „Endlösung der Judenfrage“. Vom Kleinen Lager für 3.500 Häftlinge mit 12 ha (1940) bis 1944 für 57.000 Häftlinge mit 120 ha und 39 Außenlagern. Insgesamt kamen hierher 110.000 Häftlinge, von denen 65.000 starben (einschließlich Todesmärsche). Befreinung am 9. Mai 1945.
Rundgang:
1. Neben dem Tor links Verwaltungsbaracke und Kantine; riesiger Schuhhaufen.
2. Verwaltungsbaracke und „Bunker“ rechts: die Einzelzellen, dann Dunkelzellen. Dokumente vergrößert an den Wänden. Krass das Formular über Strafen, wo jede Möglichkeit akribisch aufgeführt ist, incl. ärztliche Vorschriften zur Prügelstrafe auf dem Bock. Hier wird das Verwaltungsmäßige, keineswegs Willkürliche der Lagerquälerei extrem deutlich!
Anschließend Ausstellung mit Werken mehrerer Künstler. Gnadenlose Skulpturen!
3. Häftlingsbaracken 8 und 8a im Alten Lager (seit 1939) mit Ausstellung zu Leid und Widerstand der polnischen Bevölkerung in Westpreußen. Ausbauphasen des KZ Stutthof. Das Lagermodell zeigt die enormen Ausmaße.
4. „Frauenblock“ (ab 1939): Lagergeschichte und Existenzbedingungen der Häftlinge
5. Die Gaskammer, später – weil vom Lager aus einsehbar – von Bahngaswagen ersetzt.
6. Krematorium mit Ausstellung zur Vernichtung in Stutthof, zur Evakuierung und zu Prozessen.
7. Gedenkstätte (seit 1968): senkrechter Block aus rohem Beton, in waagegerechtem Block Verbrennungsreste vom Scheiterhaufen. Davor Versammlungsplatz.
8. Im „Neuen Lager“ symbolische Giebelwand mit Blocknummer. (Gertrude Schneiders Transport vom 9.08.1944 (ab Riga 6.08. mit der „Bremerhaven“) kam in die Blöcke 19-22, die „Judenbaracken“.
9. Der Scheiterhaufen 500 m in den Wald rein, heute durch ein Oval großer Steine symbolisiert.
Das Museum ist sehr übersichtlich und eindringlich gestaltet, nicht überfrachtet und auch für Deutsche noch gut verständlich.
Das Drumherum ist außerordentlich gepflegt – bis zu Blumen auf dem Klo und unbewachter Geldschachtel.
Besucher: eine größere Gruppe Jugendliche, ein holländischer Bus, Einzelbesucher, ganz wenig Deutsche.
Im Archiv treffen wir auf Janina Grabowska, die Direktorin des Museums, und Romuald Drynko, Autor des deutschsprachigen Begleitheftes. Sie erinnern sich an Gisela Möllenhoffs Besuch vor einem Jahr und vermitteln uns sofort freundlich an eine Archivdame weiter, die für Transporte zuständig ist.
In der Ausstellung werden folgende Transporte der Sicherheitspolizei Riga nach Stutthof genannt:
09.08. 1944 mit 6.832 Häftlingen
23.08.1944 mit 4.408 Häftlingen
01.10.1044 mit 3.155 Häftlingen
14.10.1944 mit 190 Häftlingen
Aus dem Eingangsbuch (Politische Abteilung des KZ Stutthof, ca. 500 Seiten, nur eines erhalten) notieren wir 21 Namen weiblicher Häftlinge des Transports vom 01.10. vor allem aus Westfalen, vereinzelt aus Köln und anderswo (nicht z.B. aus Hannover oder Lettland, gar Rositten).
Auf einer Doppelseite liniiert Spalten zu Häftlingsnummer, Name/Vorname, Geburtsdatum, Wohnort, Nationalität/Jude, freie Rubriken, Austräge.
Sehr sorgfältige Schrift, Austragungen bei Verlegungen (z.B. Buchenwald) oder Tod (Datum, letzte Spalte mit laufender Nummer im Sterbebuch).
Eintragungen mit Tinte, vereinzelte Schreibfehler (z.B. München-Gladbach, Trensteinfurt). Wo kein Austrag, lebten die Häftlinge zumindest wohl bis zur Evakuierung – oder waren in Nebenlagern.
Der Einband (Leinen) defekt. Zerrissen, muffeliger Geruch. Das ganze in beschichteter Originalpappmappe mit Bindeschnüren.
Relativ viele Verlegungen nach Auschwitz Birkenau. Zählung des Sterbebuches offenbar monatlich: Berta Wolff aus Dülmen/Münsterland (Nr, 94.865) gestorben am 10.12.1944, Sterbebuch-Nr. 850, Berta Grünberg aus Osnabrück (Nr. 95.043) gest. am 19.12.12944, Sterbebuch-Nr. 1.754, Grete Wolff, Dülmen, gest. am 28.12.1944, Sterbebuch-Nr. 3.060.
Weitere weibliche Häftlinge im Eingangsbuch (S. 256):
J. Heimbach, Henny Heimbach, Helga-Miriam Cohen, Marga Cohen, Bernhardina Löwenstein/Fürstenau, Marta Markus/Recklinghausen, Meta Metzger/Bocholt, Selma Salomons/Münster, Ruth Weinberg/Münster, Fanny Blumenthal/Münster, Paula Falke/ Wolbeck, Elisabeth Baermann/Köln, Ruscha Leffmann/Münster, Else Salomon/ Drensteinfurt, Anna Cahn, Anna/Münster, Lene Gerson/Münster, Jenny Heilbronn/Münster, Lene Lentschützki/Münster.
(…)
Von Leba nach Gdansk: Kurz hinter Lebork (Lauenburg) auf der Nr. 6 fällt mir plötzlich ein Ortsname auf, tatsächlich: Godetowo, früher Gotenov, das ich lange vergeblich viel weiter westlich gesucht habe: Station auf dem Evakuierungsmarsch von Stutthof-Häftlingen (vorher Bytow/Bütow), 17.02.-09.03.1945 (s. Gertrude Schneider, The unfinished Road, S. 22-24). Auf der Karte finden wir schnell auch den nächsten bei G. Schneider genannten Ort in 15 km Entfernung: Chynowie/Chinov (Landkreis Wejherowo, 55 km nordwestlich von Danzig) und fahren durch angenehmes und einsames Hügelland dorthin. Wir finden beschriebenen großen (Vieh-)Stall auf einem ehemaligen Gutshof, später Kombinat. Ein Beschäftigter kommt uns entgegen, er spricht deutsch, wohnt mit Familie schon immer hier, wir erklären unser Anliegen. Zunächst hält er sich was bedeckt, wird dann aber offener. Der Gutsherr Bloch sei erst seit 1957 weg.
Der einzige, sehr große, lange Viehstall ist offenkundig älteren Datums, z.T. aber erneuert, mehr als 50 m vom Ex-Gutshaus entfernt, das 1922 seinen letzten Anbau erhielt. (…) Vom Geschehen in der Scheune weiß er – wie er zu verstehen gibt – nichts Genaueres, lässt dann aber doch einiges heraus: Wo jetzt Geräte untergestellt seien, waren früher Pferdeställe aus Holz. In einer Scheune etwas weiter weg seien Typhuskranke (?), -tote (?) verbrannt worden. In einem Wäldchen, vom großen Stall ca. 300 m weg nach Süden – seien Menschen begaben worden. (…) Durch das mal wieder so friedliche erscheinende und offenbar auch als Erholungsregion geltende Hügelland nach Kostkowo, wo an einer Straße ein Gedenkstein steht: „In Kostkowo starben während des Todesmarsches 89 Gefangene aus dem KZ Stutthof.“
Erst später realisiere ich, dass wenig weiter Rybno/Rieben liegt, wo Josef Katz (aus Lübeck) mit seiner Kolonne in ein verlassenes Arbeitsdienstlager kam (Januar 1945) und am 08. März die Befreiung erlebte: „Ein russischer Tank nach dem anderen rollt auf dem Appellplatz auf. Die meisten Russen fangen bei unserem Anblick an zu weinen.“ (Josef Katz, Erinnerungen eines Überlebenden, Kiel 1988, S. 237 ff.)
(3) Zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, 1. September 2009, Presseerklärung von Jürgen Trittin, stellvertretender Fraktionsvor-sitzender, und Winfried Nachtwei, sicherheitspolitischer Sprecher:
Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 war der Auftakt zu einer beispiellosen Überfallserie auf die europäischen Nachbarn, zu einem Vernichtungskrieg gegen Polen und später die Sowjetunion, zur Massenvernichtung der europäischen Juden, zum 2. Weltkrieg, in dem Konfliktherde in Europa und Ostasien zum ersten globalen Krieg verschmolzen. Mit dem Überfall auf Polen begann, was in der Zerstörung Europas und Deutschlands endete.
Die Lehren von damals sind elementar und unverändert aktuell: Die Ächtung des Krieges durch die UN-Charta und die Verpflichtung auf gemeinsame Friedenssicherung im Rahmen der Vereinten Nationen; das Friedensgebot des Grundgesetzes; die europäische Integration, transatlantische Partnerschaft und kooperativer Multilateralismus; den Anfängen zu wehren durch Gewalt- und Krisenprävention und Abrüstung.
„Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus! Nie wieder Auschwitz!“ gilt unbedingt weiter – nicht als Politik des „Ohne-Mich“, sondern als aktives Eintreten für gemeinsame Sicherheit, Frieden und Menschenrechte, gegen Angriffskriege und Völkermord in Europa und weltweit.
Der deutsche Angriffskrieg brach nicht aus heiterem Himmel aus. Hauptverantwortung trugen die Nazis und ihre willigen Helfer, Mitmarschierer und Mitläufer in Wehrmacht, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, Kirchen. Mutige Widerständler blieben einsam und ohne Wirkung.
Dem Aggressor Vorschub leisteten europäische Regierungen, die den Charakter des NS-Regimes verkannt hatten und ihm gegenüber keine gemeinsame internationale Sicherheitspolitik zustande brachten.
Dem Widerstand in den besetzen Gebieten sowie den Truppen der Roten Armee, der USA und der anderen Alliierten verdanken wir die Befreiung Europas und Deutschlands vom Nazi-Terror.
70 Jahre danach hat sich die Welt grundlegend verändert, wüten Kriege vor allem innerhalb von Staaten, verblassen die Erinnerung an das Menschenschlachten des 2. Weltkrieges, wachsen mit dem Klimawandel, Ressourcenverknappung, zerfallender Staatlichkeit und Weiterverbreitung von Atomwaffen gigantische andere Konfliktursachen.
Balkan, Tschetschenien, Ruanda, Kongo, Somalia, Sudan, Afghanistan und andere Kriegsregionen sind kein Anlass zur Rehabilitierung des Krieges als „Mittel der Politik“, sondern eine Herausforderung für multilaterale Friedenspolitik.
Seit 1998/1999 entstanden in Deutschland (mit Rot-Grün) und in der EU neue Fähigkeiten der zivilen Friedensförderung. Die Bundesrepublik trägt seit Jahren mit militärischen, zivilen und polizeilichen Kräften zu UN-mandatierten Stabilisierungseinsätzen bei. Die Kriseneinsätze im Rahmen und Auftrag der UN haben heute einen historischen Höchststand erreicht – und befinden sich zugleich in einer umfassenden Krise. Besonders deutlich zeigt sich das in Ost-Kongo, Sudan und Afghanistan.
Die Bundesregierung betreibt hierzu eine Politik der Beschönigungen und Halbherzigkeit. Kollektive Friedenspolitik, die wirksam sein soll, braucht jetzt einen neuen Schub, sie braucht zuerst Ehrlichkeit und Konsequenz.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: