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Vor 10 Jahren: "Anforderungen an eine Kabul-Schutztruppe"

Veröffentlicht von: Nachtwei am 8. Oktober 2011 07:56:32 +01:00 (36846 Aufrufe)

Anlässlich der Bundestagsentscheidung über die - damals viel weniger umstrittene - deutsche Beteiligung an der UN-mandatierten Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF am 21.12.2001 verfasste W. Nachtwei die folgende Stellungnahme.

Anforderungen an eine Kabul-Schutztruppe

(1) Nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes und des Al-Qaida-Netzwerkes und der Petersberg-Konferenz besteht die historisch einmalige Chance einer friedlichen Entwicklung in Afghanistan nach 22 Jahren Krieg. Die Fernsehnachrichten berichten von hoffnungsvoller Stimmung in der Bevölkerung.

Trotz dieser enormen Fortschritte sind die Voraussetzungen für einen Friedensprozess äußerst schwierig und unsicher. Mit den vielen zerstrittenen warlords und ihren Truppen, mit Banden und versprengten Taliban- und Al Qaida-Kämpfern, mit Waffen und Minen in Überfülle, ohne Verwaltungs-, Staats- und Sicherheitsstrukturen und der teilweise katastrophalen humanitären Lage bestehen zugleich „gute" Voraussetzungen für ein Post-Taliban-Chaos. Die einzige Alternative dazu ist der durch das Petersberg-Übereinkommen angestoßene Prozess.

(2) Damit die Interimsregierung als prekäre Koalition überhaupt eine Chance hat und nicht zur Beute ihrer militärisch starken Teile wird, ist neben umfassender humanitärer und Aufbauhilfe (und den damit gegebenen positiven Einfluss-/Druckmöglichkeiten) eine internationale und VN-mandatierte Sicherungstruppe unbedingt notwendig.

Lt. Anlage I des Petersberg-Übereinkommens soll sie die Sicherheit in Kabul und Umgebung gewährleisten (bei Abzug afghan. bewaffneter Kräfte) und ggfs. in anderen Städten und weiteren Gebieten zum Einsatz kommen und den Wiederaufbau unterstützen. Es geht also um einen militärischen Beitrag zu Friedenskonsolidierung und nation building, also ausdrücklich um einen Friedens- und nicht um einen Kriegseinsatz. Wer gegen Krieg und für die Stärkung der VN ist, kann grundsätzlich nur für eine solche Truppe sein. (Auch die PDS kann ihre programmatisch-prinzipielle Ablehnung von „Auslandseinsätzen" in diesem Fall nicht mehr vertreten.)

Mit der Entsendung kann nicht bis Abschluss der letzten Kampfhandlungen der US-Streitkräfte und Anti-Taliban-Truppen gewartet werden, die einige hundert km von Kabul entfernt stattfinden. Alles andere liefe auf unterlassene Hilfeleistung und Begünstigung vor allem der Nordallianz und der Kräfte hinaus, die nur ihr eigenes Süppchen kochen wollen.

(Rolf Paasch am 18.12. in der FR: Die Widerstände gegen eine rasche Stationierung reiche von Rumsfeld bis Ströbele. „Beide hätten die Realitäten gerne ihren jeweiligen Wünschen angepasst, ehe sie die Vereinten Nationen losmarschieren lassen. (...) Beide Haltungen nutzen nur den Falschen in Afghanistan. Dabei müssten alle Friedensbewegten für eine sofortige Verabschiedung eines robusten Mandats nach Artikel VII der UN-Charta werben, damit das Pentagon eben nicht seinen Krieg fortführen kann, ohne auf den politischen Schaden zu achten.")

(3) Nach den Erfahrungen mit VN-Missionen (vgl. Brahimi-Report von 2000) kommt es entscheidend auf folgende Punkte an:

-         Klares und eindeutiges Mandat, klare Kommandostrukturen, keine Vermischung verschiedener Operationen (abschreckendes Beispiel Somalia)

-         Robustheit von Auftrag und Befugnissen (über das Blauhelm-Recht auf Selbstverteidigung auch Befugnis, zum Schutz von Zivilbevölkerung und der öffentlichen Sicherheit Gewalt anzuwenden- also polizeiliche Befugnisse mit militärischen Mitteln; nicht zu verwechseln mit Kampfauftrag; dazu Kapitel VII-Mandat erforderlich), was sich in Umfang und Ausrüstung der Truppe angesichts zu erwartender Risiken niederschlagen muss.

-         Ausgewogene zivil-militärische Fähigkeiten (gut ausgebildete und schnell verfügbare Polizeikräfte und zivile Experten; zivil-militärische Kooperation).

-         Zeitfaktor: Die ersten Wochen einer Friedensmission sind entscheidend für ihre Akzeptanz und Autorität. Deshalb kommt es auf den schnellen Einsatz kompetenter Kräfte an. Ein für Militärinterventionen typisches „schnell rein, schnell raus" ist mit den Anforderungen einer friedensunterstützenden VN-Mission allerdings nicht verträglich. Der Zeithorizont muss realistisch sein!

-         Die Einigkeit der Internationalen Gemeinschaft entscheidet über ihre Autorität. Deshalb gilt grundsätzlich „gemeinsam rein, gemeinsam raus".

-         Gerade bei so riskanten und unwägbaren Einsätzen wie einem in Afghanistan müssen Exit-Strategien klar und vereinbart sein: Wann würde die Truppe abgezogen? Wie könnte sie abgezogen werden? Wer würde den Rückzug (immer besonders riskant) unterstützen? (Extraction Force)

(4) Das vom VN-Sicherheitsrat am 20.12. verabschiedete Mandat setzt einen auf Kabul und Umgebung begrenzten Auftrag mit „robusten" Befugnissen für den Zeitraum von sechs Monaten. Die Mitgliedsstaaten der „Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe" ISAF . sollen der afghanischen Übergangsregierung dabei helfen, neue afghanische Verteidigungs- und Sicherheitskräfte zu bilden und einzusetzen.

Damit sind wesentliche Anforderungen angenähert. Zugleich bleibt Klärungsbedarf:

-         Auch 5.000 Mann (die „Netto"-Schutztruppe ist wegen des Anteils der Unterstützungskräfte wesentlich kleiner) können in einer chaotischen und fremden 1,5 Mio. Stadt mit Flughafen in 50 km Entfernung nur begrenzt und schwerpunktmäßig Sicherheit schaffen: Wer kümmert sich um die allgemeine öffentliche Sicherheit? Arbeitsteilung mit afghanischen Sicherheitskräften?

-         Wieweit ist Trennung von Kommandostrukturen und Operationen real und in der öffentlichen Wahrnehmung gewährleistet? Dass es Kommunikation zwischen beiden Operationen gibt, ist selbstverständlich notwendig, dass USA für Extraction Force zur Verfügung stehen, macht Sinn. Aber wie wird gewährleistet, dass ISAF nicht von Enduring Freedom dominiert wird?

-         Solche und andere Umsetzungsfragen werden in einem Military Technical Agreement (MTA) zwischen ISAF und Übergangsregierung geregelt: Was sind seine Festlegungen?

-         Was ist genauer unter der Unterstützung für afghanische Sicherheitskräfte zu verstehen: sinnvoll als Hilfe zur Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols, fragwürdig als bloße Aufrüstung einer Seite? Wer soll das leisten? (bisher gute Erfahrung auf dem Balkan z.B. mit Polizeiausbildung durch OSZE)

(5) Klärung des Bedarfs an militärischen Fähigkeiten/Umfang angesichts des Auftrags und der Größe und Risiken des Einsatzraumes. Was ist leistbar, was ist verantwortbar?

-         Welche militärischen Kräfte und Fähigkeiten sind notwendig, insgesamt und seitens der Bundeswehr?

-         Wie kann ihre Führung, Versorgung, ggfs. Verstärkung oder Evakuierung gewährleistet werden, ohne dabei unkalkulierbar von anderen abhängig zu sein? (z.B. Transport)

-         Wie kann insgesamt das Risiko für die entsandten Soldaten in verantwortbarem Rahmen gehalten werden?

-         Verfügt die Bundeswehr über die notwendigen personellen und materiellen Fähigkeiten und Ausrüstung (Führung, Aufklärung, Transport, Schutz) oder sind diese auf dem Balkan gebunden?

Auf dieser Ebene brauchen wir ganz besonders offene und ehrliche Beratung von militärischen Fachleuten/Militärs. Denn hier sind die Täuschungsgefahren besonders groß:

- Politiker, zumal „Ungediente und Kriegsdienstverweigerer" wie bei Rot-Grün, neigen dazu, dem Militär alles mögliche zuzutrauen, damit aber auch seine Leistungsfähigkeiten zu überschätzen. Das wird begünstigt durch die Grundhaltung und -botschaft militärischer Führer: „Wir organisieren das schon".

- Die Grundstimmung in der militärischen Führung der Bundeswehr ist inzwischen keineswegs frank und frei.

W. Nachtwei, 21.12.2001

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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