Vor dem Hintergrund der realen Konfliktentwicklung in Afghanistan hat Winfried Nachtwei seinen Diskussionsbeitrag aktualisiert:
Krieg in Afghanistan - Bundeswehr im Krieg: Führt Deutschland Krieg in Afghanistan?
Aktualisierter Diskussionsbeitrag von Winfried Nachtwei, MdB a.D.,
November 2009 (Erstfassung 10/2008)
(1) Der neue Verteidigungsminister zu Guttenberg hat inzwischen Verständnis für die Soldaten geäußert, die sich in Afghanistan im Krieg sehen. „In Teilen Afghanistans gibt es fraglos kriegsähnliche Zustände," herrsche ein „nichtinternationaler bewaffneter Konflikt".  Zugleich präsentierte er sich bei seinem ersten Afghanistanbesuch bestangezogen zivil und verbreitete damit Bilder, die das von ihm ausgesprochene „K-Wort" ein wenig relativieren. Inzwischen spricht er auch von „Exit-Strategie". Zu Guttenbergs Worte werden zu Recht als überfälliger Schritt zu mehr Ehrlichkeit im Umgang mit der Konfliktwirklichkeit in Afghanistan und als Absetzbewegung von seinem Vorgänger gesehen. Viel mehr Schritte und vor allem Taten sind aber notwendig, um den lange überfälligen Kurswechsel im deutschen - und internationalen - Afghanistanengagement zu realisieren, das drohende Desaster zu verhindern und doch noch eine Wende zum Besseren zu schaffen.
(2) Bisher informierte die Bundesregierung nur bruchstückhaft und beschönigend über das deutsche Afghanistan-Engagement von Soldaten, Polizisten, Zivilexperten und Diplomaten.  Auch am Vorabend des 9. (!) Einsatzjahres verweigert sie eine - über die wöchentlichen vertraulichen Berichte zu Sicherheitsvorfällen hinausgehende - umfassende Darstellung der Sicherheitslage, geschweige eine ehrliche und unabhängige Bilanzierung des Einsatzes und seiner Wirksamkeit insgesamt.  Ein krasses Beispiel war die Antwort der Bundesregierung auf meine letzte Kleine Anfrage zur Verschärfung der Sicherheitslage in Afghanistan und speziell in der Provinz Kunduz (Drs. 16/14125 vom 6.10.2009), wo die äußerst beunruhigende Lageentwicklung praktisch geleugnet wurde. Auf der Ebene der Informationspolitik wird sich zuerst zeigen, wie ernst es dem neuen Minister mit seinem anderen Ansatz ist oder ob er nur ein viel besserer Verkäufer seiner selbst ist.
Bürger und Soldaten wollen zu Recht von der Bundesregierung die ganze Wahrheit über den Afghanistan-Einsatz erfahren. Nur auf Grundlage der ganzen Wahrheit ist überhaupt eine Politik mit Aussicht auf Erfolg möglich.
Ist aber die „ganze Wahrheit", dass die Bundeswehr, dass Deutschland in Afghanistan „Krieg führt", wie es im jüngsten Aufruf der Friedensbewegung im Vorfeld der nächsten Mandatsentscheidung heißt und wie immer mehr Stimmen behaupten?
Gegenüber diesem Meinungstrend erlaube ich mir die Frage, ob diese „Kriegserklärung" stimmt, ob sie den Einsatz richtig beim Namen nennt und was die Konsequenzen sind. Dabei weiß ich sehr wohl um die vielfältigen Schönsprech-Manöver, reale Kriege ja nicht beim Namen zu nennen und sie gar zu Akten des Guten zu verklären.
Ich tue das als jemand, der als Historiker zu Kolonialkriegen und dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten geforscht hat, der durch die Anti-Vietnamkriegsbewegung politisiert wurde, der ca. 40-mal Nachkriegs- und Konfliktländer wie Balkan, Kongo, Somalia und Afghanistan besucht hat und der UN-Friedenssicherung verpflichtet ist. Vor diesem Hintergrund bin ich empfindlich gegenüber einer Wahrnehmung, die jeden Militäreinsatz, egal ob Wehrmacht oder UN-Peacekeeping, unterschiedslos als Krieg sieht - und damit reale Angriffs-, Ausbeutungs- und Vernichtungskriege gnadenlos verharmlost.
Die Kriegsächtung der UN-Charta, der Friedensauftrag des Grundgesetzes und das Gelöbnis, dass von Deutschland nie wieder Krieg ausgehen soll, dürfen keine Lippenbekenntnisse, sie müssen Konsens sein.
(3) Zusammenfassung:
In zunehmend mehr Teilen von Afghanistan herrscht völkerrechtlich offenkundig ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt, gibt es Kleinkrieg/Terrorkrieg/ Guerillakrieg. Auf der taktischen Ebene etlicher Distrikte stehen ISAF-Soldaten im Krieg, wenn sie in mehrstündigen Gefechten beschossen, angesprengt, verwundet, getötet werden und selbst schießen, verwunden, töten, um selbst zu überleben. Gleichzeitig kann es passieren, dass nur in einigen Kilometern Entfernung Soldaten ihre geschützten Fahrzeuge verlassen, direkten Kontakt zur Bevölkerung suchen, Gesprächsaufklärung betreiben, dass in der Nachbarprovinz relative Ruhe herrscht.
Taliban und Aufständische führen Krieg gegen die Regierung auf allen Ebenen und gegen die internationalen Truppen und regelmäßig ohne Rücksicht auf das humanitäre Völkerrecht.
Die internationalen Truppen agieren unterschiedlich:
US-geführte Spezialtruppen (OEF, CIA) führen zusammen mit afghanischen Kräften außerhalb von ISAF und UN-Mandat faktisch einen Krieg gegen Führungspersonen und -strukturen der Aufständischen - bis zum Töten auf Verdacht.
Der strategische Gesamtauftrag von ISAF/Bundeswehr ist hingegen nicht Krieg, wo ein Gegner militärisch besiegt werden sollte oder könnte, sondern Sicherheitsunterstützung - von Ausbildungshilfe über Stabilisierung bis Aufstandsbekämpfung.
Für diese Einsatzform zwischen Friedens- und Kriegseinsatz ist der bisherige Rechtsrahmen unzureichend. Für die eingesetzten Soldaten ist diese Rechtsunklarheit und -unsicherheit unzumutbar. Hier besteht - wie in einem Bundestagsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im März 2008 gefordert - dringend gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
So richtig es ist, die z.T. kriegerische Situation vor Ort beim Namen zu nennen, so falsch ist es, den Gesamteinsatz zum Kriegseinsatz zu erklären - angesichts der Realitäten wie auch der Konsequenzen:
-      Wie will man verantworten, in ein einen Kriegseinsatz noch mehr Entwicklungshelfer, Polizeiausbilder, Friedensfachkräfte zu schicken?
-      Eine pauschale „Kriegserklärung" befördert eine Rehabilitierung von Krieg als Mittel der Politik einerseits, eine Denunzierung aller UN-mandatierten Einsätze andererseits.
(4) Politik beginnt mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Eine realitätsnahe Wahrnehmung Afghanistans wird erschwert durch die mehrfache Fragmentierung des Landes, die Unübersichtlichkeit zahlloser internationaler, nationaler und lokaler Akteure, den Propagandakampf der Konfliktparteien und die Gewalt- und Militärfixiertheit der öffentlichen Wahrnehmung, wo zivile, geschweige „good news" keine Aufmerksamkeit finden.
Die von Provinz zu Provinz, Distrikt zu Distrikt, ja manchmal von Tal zu Tal unterschiedliche Konfliktkonstellation und ein dementsprechend sehr unterschiedlicher ISAF-Einsatz lässt sich angemessenen kaum mit einem einzigen Wort beschreiben.
Wer den ISAF-Einsatz ungeachtet der harten Kämpfe gerade im Süden und Osten weiterhin Friedenseinsatz nennt, beschönigt ihn gnadenlos. Dort herrscht in vielen Distrikten ein doppelt-asymmetrischer Krieg der Schwäche (IED`s, Selbstmordattentate) und Stärke (Distanzkriegführung mit Drohnen), wo sich die meisten Konfliktparteien im Krieg sehen.
Wer aber jetzt für ISAF den Krieg ausruft, fällt zurück in den Irrweg des „War on Terror" und tappt in die Eskalationsfalle der Terrorgruppen.
(5) Fakt ist: Im Laufe des vorigen Jahres ist die Lage in der Provinz Kunduz zu einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt eskaliert. Seit April 2009 haben die bewaffneten Aufständischen in einzelnen Distrikten der Provinz ihre Taktik geändert. Sie begnügen sich dort nicht mehr mit Anschlägen und Überfällen nach der Methode „hit and run", sondern greifen mit Mehrfachhinterhalten und Gefechten über mehrere Stunden an und zielen auf die Vernichtung ganzer Einheiten. (Diese Entwicklung zeigte sich in den Hauptkonfliktprovinzen des Südens Ostens schon seit einiger Zeit.) Auf der taktischen Ebene einzelner Distrikte führt ein Gemenge von vielen hundert Gewaltakteuren einen Guerilla- und Terrorkrieg gegen Regierungsvertreter, afghanische Polizei (die meisten Opfer) und Armee sowie ISAF.
Die Soldaten in der Provinz Kunduz stehen in einem (Klein-) Krieg, wenn sie überfallen und beschossen werden, wenn sie nach sieben Jahren deutschem Afghanistan-Einsatz seit April erstmalig im Kampf Gegner töten, wenn am 15. Juni erstmalig im deutschen Verantwortungsbereich eine „Luftnahunterstützung" nicht nur als „show of force" zur Abschreckung, sondern mit Waffeneinsatz geflogen wurde. Der Luftangriff gegen die beiden Tanklaster am 4. September war ein Einsatz kriegerischer Militärgewalt, nach bisherigen Erkenntnissen im Widerspruch zu den ISAF-Einsatzregeln und dem Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung. Für mich ist nicht nachvollziehbar, wie man diesen Luftwaffeneinsatz „militärisch angemessen", gar „zwangsläufig" (zu Guttenberg) nennen kann.
Für die Taliban ist der Raum Kunduz der strategische Hauptangriffspunkt im Norden. Angeblich soll die Mehrzahl der 7 Distrikte in ihrer Hand sein. Um diese Kriegssituation und das Wegrutschen der früheren Hoffnungsprovinz darf es - wie von der Bundesregierung unter Minister Jung vorgeführt - kein Drumherumreden und Beschönigen geben.
Wer das tut, hat schon verloren!
Seit Anfang November ist die Lage in der Provinz Kunduz noch komplizierter geworden:
- In der FAZ (5.11.09) berichtet Friederike Böge über den Milizenführer und ehemaligen Mudschahedin-Kommandeur Miralam Khan, der mit seinen Männern „im Alleingang zahlreiche Dörfer in der nordafghanischen Provinz ´befreit`" haben soll. Er verfüge aus der Zeit des Bürgerkriegs noch über mehrere hundert bewaffnete Anhänger. Er sei der „neue Held von Kunduz". Nach eigenen Angaben sei er von US-Spezialeinheiten unterstützt worden. Es gibt „erste Berichte von Scharmützeln zwischen verschiedenen Dorfmilizen, die alte Rechnungen aus dem Bürgerkrieg begleichen wollen. Und von einzelnen marodierenden Kämpfern, die ihre Macht für ethnische Feindseligkeiten missbrauchen."
- Die von ISAF unabhängigen Operationen von OEF-Spezialkräften haben ein bisher nicht da gewesenes Ausmaß erreicht. In einer fünftägigen Großoperation von mindestens 750 afghanischen Sicherheitskräften und US-Spezialkräften und massiven Luftangriffen im Distrikt Chahar Dareh sollen mindestens 130 Taliban, darunter 8 Kommandeure, getötet worden sein. Die Bundeswehr war ausdrücklich nicht beteiligt. (vgl. meine „Sicherheitslage Nord", November 2009)
(6) Fakt ist zugleich: In großen Teilen der Nordregion (1.200 x 400 km) wie auch des Westens und Zentralafghanistans herrscht kein Krieg, ist das kriminelle Gewaltniveau unterhalb des bewaffneten Konflikts nichts desto weniger erheblich. Für afghanische Verhältnisse kann das dennoch als relativ ruhig gelten. In diesem Umfeld finden Aufbau und Entwicklung statt, geht es voran. Die Provinzen Balkh mit Mazar-e-Sharif, aber auch Badakhshan stehen beispielhaft dafür. Noch im September konnte ich mich dort überraschend frei bewegen und hoffnungsvolle Aufbauprojekte besuchen. (Vergleichszahlen siehe unten)
(7) Fakt ist zugleich: Der strategische Auftrag von ISAF ist - basierend auf einem UN-Mandat - unverändert Sicherheitsunterstützung für die legale afghanische Regierung (deren Legitimität aber durch die Wahlfälschungen massiv beschädigt ist), Schaffung eines sichereren Umfeldes für Helfer und Schutz der Bevölkerung. ISAF will und darf keine Besatzungstruppe sein, rutschte in den letzten Jahren aber zunehmend in dieses Image, vor allem im Süden und Osten. (Wieweit die US-Truppen unter neuer Führung und dem Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung dieses Bild korrigieren können, kann ich nicht beurteilen.)
Die Bundeswehr führt keine eigenständigen Militäraktionen durch, sondern unterstützt die afghanischen Sicherheitskräfte bei der Durchsetzung des - realiter noch sehr schwachen - staatlichen Gewaltmonopols gegen solche, die mit Waffengewalt den zivilen Aufbau attackieren. Dabei ist ISAF zur Durchsetzung ihres Auftrags auch zu militärischem Zwang im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, also auch Kampfeinsätzen berechtigt. In der UN-Sprache heißt das Peace-Enforcement (Friedenserzwingung). Den UN wie auch NATO-Spitzenmilitärs ist bewusst, dass die Gewaltkonflikte in Afghanistan militärisch nicht zu lösen sind, dass die Förderung von Staatlichkeit, greifbare Aufbauerfolge (Insbesondere Förderung von Arbeit in der Landwirtschaft) und vor allem die Eindämmung der Konfliktherde in Pakistan das A und O sind.
(8) Krieg ist ein organisierter gewaltsamer Massenkonflikt, wo der Konflikt mit Hilfe umfassender tödlicher Waffengewalt entschieden werden soll. Ziel ist die militärische Zerschlagung eines Gegners. Faktisch sind Kriege Ausdruck von Politikversagen und massivste Verletzung von Menschenrechten. UN-mandatierte Zwangsmaßnahmen, die oft in einem kriegerischen Umfeld stattfinden, können bis zum Einsatz militärischer Kriegsgewalt gehen. (Zum Beispiel MONUC in Ostkongo, die manchmal mit Kampfhubschraubern gegen marodierende Milizen vorging - viel zu selten, wie manche Beobachter angesichts der dortigen Massenvergewaltigungen als Kriegstaktik meinen.)
Vom Krieg unterscheiden sich UN-mandatierte Einsätze aber grundsätzlich durch ihre völkerrechtliche Legitimität, Zielsetzung (Sicherung bzw. Wiederherstellung von Frieden, internationale Rechtsdurchsetzung, Förderung selbsttragender Sicherheit), Einsatzbeschränkungen (Rules of Engagement, Verhältnismäßigkeit), Einsatzformen (Ausbildung, Key-Leader Engagement und Vermittlung, Nothilfe, Aufbauunterstützung, Präsenz- und Aufklärungspatrouillen, ggfs. Kampf), Akteure (Multinationalität) und diplomatisch-militärisch-ziviles Zusammenwirken (Multidimensionalität, integrierter Einsatz).
(9) Auch wenn es nicht griffig in eine Überschrift passt: In der Sprache des humanitären Völkerrechts herrscht in Afghanistan unzweifelhaft ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt. Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr ist nach den jüngsten Verschärfungen am angemessensten als „Stabilisierungsmission mit Aufstandsbekämpfung" im Auftrag der UN beschrieben. (Aufstandsbekämpfung nicht als bloße Militärdoktrin der physischen Gegnerbekämpfung, sondern als umfassender Kampf um die Zustimmung der Zivilbevölkerung)
Trotz aller Selbstverständlichkeit, mit der in den USA von Krieg gesprochen wird und vielen als legitimes Mittel von Politik gilt - in der US-Militärdoktrin fällt der Afghanistan-Einsatz unter die breite Kategorie „Military operations other than war" (MOOTW), die eine Vielfalt von militärischen Operationen unterhalb der Schwelle des offenen Krieges umfasst. (vgl. Jochen Hippler: „Counterinsurgency" - Neue Einsatzformen für die NATO? Politik und Zeitgeschichte 43/2006) (Das „Human Security Report Project" an der Simon Fraser University/Canada definiert einen bewaffneten Konflikt mit mehr als 1.000 „battle-deaths" als Krieg. Diese Definition halte ich für unzureichend. www.hsrgroup.org)
(10) In dem Antrag „Für klare menschen- und völkerrechtliche Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr" (Drs. 16/8402 vom 5.3.2008) von Volker Beck, W, Nachtwei und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hieß es: „Der so genannte bewaffnete Kampf gegen Straftäter, wie der Einsatz in Afghanistan von der Rechtsabteilung des BMVg bezeichnet wird, findet mangels Festlegung weiterhin in einer rechtlichen Grauzone statt. Das Konstrukt der Strafverfolgung mit militärischen Mitteln führt dazu, die rechtlichen Grundlagern des Einsatzes zu vernebeln und sich von rechtlichen Bindungen zu lösen. Gerade Auslandseinsätze der Bundeswehr aber bedürfen einer klaren rechtlichen Grundlage: (...) Insbesondere die beteiligten Soldatinnen und Soldaten benötigen Rechtssicherheit. Sie dürfen nicht in rechtlichen Grauzonen operieren, und sie dürfen nicht im Unklaren gelassen werden, ob ihr Vorgehen rechtlich zulässig ist oder einen Rechtsverstoß darstellt." Der Antrag wurde im Bundestag von CDU/CSU, SPD, FDP und Linke abgelehnt. (Drs. 16/11979)
Seit der Verschärfung der bewaffneten Auseinandersetzungen in der Provinz Kunduz, vor allem seit April 2009 stehen die Einsatzsoldaten in dem doppelten Risiko von ständiger Lebensbedrohung durch Anschläge und Beschuss einerseits und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen andererseits. Diese Rechtsunsicherheit ist für die entsandten Soldaten unzumutbar.
Heribert Prantl kommentierte in der SZ am 9.11.2009: „Natürlich ist Afghanistan kein rechtsfreier Raum. Natürlich dürfen deutsche Soldaten dort nicht tun, was sie wollen." Doch: „Das allgemeine Strafgesetzbuch ist kein Gesetzbuch, mit dem sich Militäraktionen juristisch gut qualifizieren lassen. (...) Prüfungsmaßstab sind (...) die 14 Paragraphen des deutschen Völkerstrafgesetzbuches von 2002. (...) Es beschreibt kriminelle Verhaltensweisen in bewaffneten Konflikten": im § 11 „Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung", z.B. ein Angriff mit militärischen Mitteln und der sicheren Erwartung, dass „der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen (...) in einem Ausmaß verursachen wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht."
Auch wenn die Bundeswehrsoldaten über das Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung und der bewaffneten Nothilfe für jedermann hinaus im Rahmen von ISAF autorisiert sind, „alle erforderlichen Maßnahmen einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt zu ergreifen, um das Mandat gemäß Resolution 1833 (2008) durchzusetzen", auch wenn durch Rules of Engagement und deutsche Taschenkarte die Eingriffsrechte der Soldaten genauer eingegrenzt sind, besteht erheblicher gesetzlicher Klärungsbedarf. Die jüngste Studie „UN-Friedensoperationen und Menschenrechte" von Wolfgang Heinz und Joanna Ruszkowska aus dem Deutschen Institut für Menschenrechte gibt hierzu wichtige Anregungen. (Essay Nr. 10, www.institut-fuer-menschenrechte.de)
(11) Wer jetzt leichtfertig für Afghanistan den Krieg ausruft, befördert - oder unterstellt - die Illusion einer militärischen Konfliktlösung und erteilt Bemühungen um  zumindest partielle  Verhandlungslösungen eine Absage. Es läuft auf den Abschied aus dem UN-Mandat für ISAF und eine Enthemmung der militärischen Gewaltanwendung mit der Gegnervernichtung als vorrangigem Ziel hinaus.
Das ist geschichtsblind angesichts eines afghanischen Volkes, das nie Invasoren geduldet und sie immer blutig vertrieben hat.
Das ist absurd angesichts der aktuellen Wende in der US-Strategie, die sich vom pauschalen Krieg gegen den Terror verabschiedet und hinwendet zu einer Aufstandsbekämpfung unter dem Primat der Politik, in deren Mittelpunkt  der Schutz und die Zustimmung der Bevölkerung vor Ort stehen sollen. General McChrystal: Wer von zehn Aufständischen zwei töte, habe danach nicht acht, sondern zwanzig Feinde.
Die Ausrufung des Krieges - verbunden mit der unterschiedslosen Erklärung Afghanistans zum Kriegsgebiet hätte - z.T. fatale -  Konsequenzen:
-      Entkriminalisierung und Aufwertung von Terrorkämpfern zu Kombatanten: Polizistenkiller werden auf eine Stufe mit der Regierung gestellt;
-      Abschreckung und Abzug von zivilen Experten sowie Polizeiberatern, die unter Kriegsbedingungen kaum noch arbeiten wollten und dürften, von denen in Wirklichkeit aber dringend viel mehr gebraucht werden;
-      Delegitimierung des ISAF-Einsatzes und weiterer Zustimmungsrückgang in der deutschen Bevölkerung, deren Kriegsaversion keine sicherheitspolitische Unreife, sondern ein zivilisatorischer Fortschritt ist;
-      Steilvorlage für eine „Linke", die von Anfang an den UN-mandatierten ISAF-Einsatz wie alle anderen Auslandseinsätze als Kriegseinsätze verzerrt. Bestätigung fände damit eine Art von Parteipolitik, die alle ISAF-Unterstützer als „Kriegsparteien" denunziert, um sich darüber als einzige „Friedenspartei" zu profilieren. Unbeachtet bleibt dabei, dass z.B. ein Lafontaine bisher immer nur ein propagandistisches, nie ein konkret politisches Interesse an Afghanistan und seinen Menschen zeigte, dass er Friedenspolitik simuliert, aber nicht konkret werden lässt.
(12) Die Soldaten in Kunduz haben ein Recht darauf, dass ihre erlebte Kriegssituation offen beim Namen genannt wird, dass ihr Einsatz wirklich Sinn macht gerade auch von den politischen Erfolgsaussichten her. Sie wissen zugleich, dass man die taktische Ebene nicht mit der strategischen Ebene in eins setzen kann.
Mit Beunruhigung höre ich aber regelrechte Kriegstrommler hierzulande:
- solche, die die bisherigen gewaltarmen Bundeswehreinsätze offenbar als einen Makel empfinden und endlich „kriegsfähig wie die anderen" werden wollen;
- solche, die sich bestätigt fühlen in ihrem jahrelangen Generalvorwurf gegen ISAF als Kriegspartei.
Hier zeigt sich, wie überfällig eine breite sicherheits- und friedenspolitische Debatte und Verständigung in der Bundesrepublik ist. Wo Bundesregierungen regelmäßig entsprechende Chancen verpassten (Scharping 2000, Struck, 2003, Jung 2006), ist es ein schwacher Trost, dass diese Debatte relativ am meisten bei den Grünen geführt wurde und oft stellvertretend für die Gesellschaft - zuletzt bei der Bundesdelegiertenkonferenz im Oktober in Rostock.
ANHANG: Regionale Unterschiede in der Sicherheitslage Afghanistans
Sicherheitsvorfälle in den Regionen Capital, Nord, West, Süd, Ost; nach Schusswechsel/Gefecht, Sprengmittel (Selbstmordattentate), indirekter Beschuss; getötete und verwundete ISAF-Soldaten:
-         16. Kalenderwoche (13.04.2009): 144, davon C 2, N 9, W 5, S 50, O 78; davon 82, 29 (3 in Kabul, Balkh, Kandahar), 31; 3 ISAF-Soldaten getötet, 24 verwundet.
-         19.(04.05.): 240, davon C 1 (0,4%), N 6 (2,5%), W 11 (4,6%), S 119 (49,6%), O 103 (43%); davon 138, 41 (3 in Helmand, Laghman), 57; 4 ISAF-Soldaten getötet, 18 verwundet.
-         22.(25.05.): 313, davon C 1, N 17, W 24, S 143, O 128; davon 187, 66 (2 in Ghazni + Herat), 53; 6 ISAF-Soldaten getötet, 37 verwundet.
-         25.(15.06.): 367, davon C 3, N 10, W 17, S 205, O 132; davon 243, 71, 47; 10 ISAF-Soldaten getötet, 60 verwundet.
-         27.(29.06.): 460, davon C 3, N 9, W 18, S 280, O 150; davon 283, 85 (je 1 in Nangarhar, Balkh, Herat, Helmand, Kandahar), 78; 11 ISAF-Soldaten getötet, 97 verwundet.
-         28.(06.07.): 444, davon C 0, N 15 (3,4%), W 22 (4,9%), S 286 (64,4%), O 121 (27,3%); davon 295, 79 (1 in Kandahar), 65; 25 ISAF-Soldaten getötet, 96 verwundet.
-         30.(20.07.): 405, davon C 5, N 26, W 17, S 203, O 154; davon 245, 77 (4 in Paktia, Nimruz, Herat, Kowst), 76; 14 ISAF-Soldaten getötet, 62 verwundet.
-         33.(10.08.): 463, davon C 13, N 32, W 15, S 226, O 177; davon 286, 93 (3 in Kunduz, Helmand, Kabul), 75; 13 ISAF-Soldaten getötet, 105 verwundet.
-         34.(17.08.): 933, davon C 23, N 49, W 51, S 439, O 371; davon 534, 131 (2 in Kabul + Paktia), 266; 14 ISAF-Soldaten getötet, 95 verwundet. (Präsidentschafts- und Provinzratswahlen am 20.8.)
-         35.(24.8.): 390, davon C 2, N 6, W 15, S 227, O 140; davon 252, 86 (1 in Kandahar), 49; 10 ISAF-Soldaten getötet, 87 verwundet.
-         36.(31.8.): 478, davon C 3, N 15, W 24, S 269, O 167; davon 323, 97 (5 in Kunduz, Jowzjan, Farah, Herat, Kaghman), 58; 19 ISAF-Soldaten getötet, 122 verwundet.
-         37.(7.9.): 524, davon C 4, N 16, W 26, S 307, O 171; davon 326, 116 (3 in Kabul, Helmand, Kandahar), 66; 13 ISAF-Soldaten getötet, 95 verwundet.
-         38.(14.9.): 414, davon C 2, N 11, W 15, S 250, = 136; davon 252, 101 (4 in Kabul, Baghlan, Helmand, Kandahar), 54; 16 ISAF-Soldaten getötet, 97 verwundet.
-         39.(21.9.): 328, davon C 2, N 7, W 18, S 185, = 116; davon 199, 72 (1 in Herat), 57; 9 ISAF-Soldaten getötet, 57 verwundet.
-         40.(28.9.): 448, davon C 0, N 18, W 27, S 234, O 169; davon 279, 85 (2 in Kunduz, Kandahar), 75; 19 ISAF-Soldaten getötet, 56 verwundet.
-         41.(5.10.): 423, davon C 6, N 11, W 28, S 234, O 144; davon 254, 91 (1 in Kabul), 68; 7 ISAF-Soldaten getötet, 90 verwundet.
-         42.(12.10.): 411, davon C 5, N 6, W 29, S 243, O 128; davon 280, 83, 44; 8 ISAF-Soldaten getötet, 55 verwundet.
-         43.(19.10.): 368, davon C 4, N 13, W 5, S 225, O 121; davon 240, 75, 43; 9 ISAF Soldaten getötet, 35 verwundet.
-         44.(26.10.): 374, davon C 6, N 15, W 10, S 218, O 126; davon 232, 81 (1 in Kandahar), 51; 27 ISAF Soldaten getötet, 62 verwundet.
Aufständischenangriffe/Tag durchschnittlich in der Provinz Helmand knapp 10,6, Kandahar 4,6, Kunar knapp 4, in Khost um 2, in Paktika, Uruzgan, Zabul um 1,5, Ghazni, Farah um 1, Kunduz um 0,7, Kabul, Herat, Badghis, Nuristan um 0,6, Balkh 0,2, Badakhshan < 0,1. (vgl. US Departement of Defence: Progres toward Security and Stability in AFG. Report to the Congress, June 2009)
Anstieg der Aufständischenangriffe im Vergleichszeitraum 1. Januar bis 28. September 2007-2008 insgesamt um 51% auf 5.601,
-Â Â Â Â Â Â Â Â Â Â in Kandahar um 54% auf 820, in Helmand um 188% auf 490, Zabul um 20% auf 251, Uruzgan um 165% auf 130, Nimroz um 139%Â auf 79;
-          in den Ostprovinzen Khost um 39% auf 446, Ghazni um 134% auf 398, Paktika um um 27% auf 229, Paktia um 37% auf 305; in Nangarhar um 20% auf 292, in Kunar um 0% auf 536,
-          in den Kabul-Anrainern Wardak um 47% auf 241, Laghman um 74% auf 162, Logar um 33% auf 170, Kapsia (nördl. Kabul) um 162% auf 123, Kabul um 48% auf 157, in Bamyan um 167% auf 8;
-          im Norden/Westen Badghis um 163% auf 121, Kunduz um 291% auf 125, Takhar um 5% auf 23, Badakhshan um 67% auf 50.
-          Rückgänge gab es nur in Balkh (Mazar) um -7% auf 41, in Samang um -56% auf 4 und in Sari Pul um -87% auf 2. (Afghanistan Index, Stand 10.2.2009)
Räumliche Verteilung von Verlusten bei der Polizei ANP Januar bis 11. Juni 2009 ("Killed in Action, Wounded in Action, Missed in Action", Region Nord):
-          Provinzen Sar-i-Pul, Samangan, Badakhshan (Norden), Panjshir, Bamyan (Central), Daykundi (Süd): keine KiA, 4 WiA
-          Provinzen Faryab 5/12/6, Jawzjan 15/3, Balkh 4/5, Kunduz 8/30, Baghlan 3/3, Takhar 1/3 (alles Nord), Herat 13/43, Badghis 6/13/17, Farah 29/14 (West), Kabul 15/25, Kandahar 121/166/17, Helmand 100/113/11, Uruzgan 29/22, Zabul 19/36, (alles Süd), Nangarhar 22/44, Kunar 5/21, Paktika 19/38, Ghazni 27/44/12, Khost 13/19/3, Paktia 8/38/2
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Hin weis:
Aktualisierter Diskussionsbeitrag als PDF-Datei.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: