Im folgenden können Sie die Redebeiträge von Winfried Nachtwei an der Großen Choral Synagoge, am Alten Jüdischen Friedhof, in Rumbula und Bikernieki nachlesen:
Nachbarn von nebenan - ermordet in Riga
Zehn Jahre Deutsches Riga-Komitee
Redebeiträge von Winfried Nachtwei., MdB a.D., am 9. Juli 2010 bei der Erinnerungsreise des Riga-Komitees und des Volksbundes
Deutscher Kriegsgräberfürsorge in Riga
Erläuterungen an der ehemaligen
Großen Choral Synagoge an der Gogolstraße
1989, noch zur sowjetischen Zeit, begann meine Spurensuche in Riga. Vor diesem Hintergrund ist meine Aufgabe, Ihnen einige Erläuterungen zu drei Orten des Naziterrors in Riga zu geben.
Die Große Choral Synagoge, von der wir hier noch Mauerreste sehen, wurde 1871 errichtet und am 4. Juli 1941 niedergebrannt. Sie steht beispielhaft für den sozialen Aufstieg und die rechtlich Gleichstellung der Juden in Lettland wie für das extreme Gegenteil.
Wirtschaftliche Beziehungen von Juden mit Riga sind seit dem 16. Jahrhundert dokumentiert. Allerdings war lange Zeit der Aufenthalt jüdischer Kaufleute und Handwerker in Riga massiv eingeschränkt. Übernachten durften sie nur in einem Jüdischen Gasthof. Lockerungen wurden unter Zarin Katharina II. gewährt. Wirkliche Besserstellungen ergaben sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Von da spielten jüdische Menschen in Riga eine zunehmend bedeutende Rolle. Beispiele: Der jüdische Bevölkerungsanteil in Riga wuchs von 605 in 1850 über 22.000 (8,4%) in 1897 auf 44.000 (11,3%) in 1935 zu. Der Rigaer Stadtkern ist geprägt von Gebäuden, die der jüdische Architekt Paul Mandelstamm geplant hatte. In der „Gesellschaft der jüdischen Befreier Lettlands" waren die jüdischen Veteranen versammelt, die 1918-1920 gegen die vereinigten deutsch-russisch-monarchistischen Truppen wie die Rote Armee gekämpft hatten. Oder das 1914 eröffnete Jüdische Theater in der Skolas iela. Hier baute der Ghetto-Überlebende Margers Vestermanis ab 1990 das Jüdische Museum auf. Für diejenigen, die länger in Riga weilen, ist sein Besuch dringend zu empfehlen.
Die Große Choral Synagoge war unter den sieben Synagogen (und 27 Bethäusern) Rigas die größte und bekannteste, berühmt durch ihre Kantore und den Chor.
Als am 1. Juli 1941 die Wehrmacht in Riga einmarschierte, waren die Reaktionen gemischt: Teile der Bevölkerung begrüßten sie als Befreier. Andere befürchteten Schlimmes. Das Reichssicherheitshauptamt hatte angeordnet, in den besetzten Gebieten „Pogrome" zu ermutigen, zu initiieren. Willige Vollstecker waren lettische Selbstschutzverbände, militant antisemitische und antikommunistische „Donnerkreuzler". Der 31-jährige Ex-Polizeioffizier und Jura-Student Viktor Arajs stellte umgehend ein Kommando aus Nationalisten, Studenten und Schülern zusammen, das sich ganz besonders bei der losbrechenden Menschenjagd hervortat.
Am 4. Juli marschierten 15 Mann des Kommando Arajs zur Synagoge an der Gogolstraße. In ihren Keller hatten sich ca. 300 litauische Juden geflüchtet. Weitere Juden wurden in der Umgebung gepackt und in die Synagoge getrieben. Die Betpulte wurden übereinander getürmt, mit Benzin übergossen und angezündet, die Türen und Fenster vernagelt. Mehrere hundert Menschen verbrannten hier bei lebendigem Leib. Niedergebrannt wurden an diesem Tag auch die anderen Synagogen der Stadt. Feuerwehr achtete nur darauf, dass das Feuer nicht auf Nachbargebäude übersprang. Das konnte in der engen Altstadt nicht garantiert werden. Deshalb blieb nur die dortige Peitav Schul von den Brandstiftern verschont.
Nach dem Krieg wurden die Trümmer der Choral Synagoge zugeschüttet und von einer Grünanlage überdeckt. Eine Tafel für die „Helden der Arbeit" wurde angebracht.
1992 konnten wir hier bei einer ersten Erinnerungsreise aus Deutschland erstmalig Kränze für die nach Riga Verschleppten niederlegen. Zeitgleich mit dem 1. Welttreffen der Lettischen Juden wurde an den restaurierten Grundmauern der Synagoge die erste Holocaust-Gedenkstätte Lettlands eingeweiht. Am Abend ehrte der lettische Staat im Jüdischen Theater etliche „Judenretter". An sie erinnert seit 4. Juli 2007 schräg gegenüber ein zweites Denkmal: die Namen von 270 MENSCHEN, denen über 400 jüdische Menschen ihr Überleben verdanken. An ihrer Spitze der Hafenarbeiter Janis Lipke, der zusammen mit anderen Helfern über 50 Menschen das Leben rettete.
Mir ist nicht bekannt, dass der deutsche Staat bisher in eine solchen Weise die Judenretter, die Menschenretter in Deutschland geehrt hätte.
Erläuterungen am Alten Jüdischen Friedhof und
ehemaligen „Reichsjudenghetto"
(Ecke Tejas/Virsaisu iela in der Moskauer Vorstadt)
Der Alte Jüdische Friedhof war das erste Stück Boden, das von Juden in Riga erworben werden konnte. Seit 1725 wurden hier Tote begraben.
Der Eingang befand sich an der Südspitze zur Ebreju iela Richtung Makavas (Moskauer) iela mit einigen Holzgebäuden für das Bet- und Totenhaus und für die Friedhofsbeschäftigten. 1903 entstand ein schönes Gebäude für die Trauerfeierlichkeiten. Architekt war Paul Mandelstamm. In den 20er Jahren entstand ein neuer jüdischer Friedhof in Smerlis.
Am 4. Juli 1941 wütete die vom Kommandeur der Einsatzgruppe A, Walter Stahlecker, geplante Aktion auch auf dem Alten Jüdischen Friedhof. Alle seine Gebäude wurden niedergebrannt, in ihnen die Friedhofsangestellten mit ihren Familien sowie in der Umgebung ergriffene Juden., insgesamt etwa 50 Menschen. Die Synagogenvernichtung vom 4. Juli sollte Auftaktsignal zu Pogromen und zur Ermordung der Juden in ganz Lettland sein.
Am 13. August 1941 ordnete Reichskommissar Lohse an: „Das flache Land ist von Juden zu säubern!" Wo bisher in der ärmlichen Moskauer Vorstadt 10.000 Menschen gewohnt hatten, wurden jetzt 30.000 Rigaer Juden zusammengepfercht. Am 25. Oktober wurde das Ghetto geschlossen. An em Tag erschien in der „Deutschen Zeitung im Ostland" ein Artikel zum Ghetto, in dem sich zynisch über die Ghettoinsassen ausgelassen wurde. Drumherum Artikel einer ganz normalen deutschen Zeitungsseite: „Gehwegränder erneuern", „Spielplan der Rigaer Oper" etc.
Am 10. November 1941 bekam Riga einen neuen „Höheren SS- und Polizeiführer Ostland und Russland Nord" (HSSPF). Es war der SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, vormals HSSPF West in Düsseldorf, ab Sommer 1941 HSSPF Russland Süd (Ukraine), verantwortlicher Planer und Organisator der Massaker von Kamenez-Podolsk (23.600 Opfer), Berditschew (18.000 Opfer), Dnjepropetrowsk (11.000) und Babi Jar bei Kiew Ende September (mehr als 33.000 Opfer). Von Himmler bekam er den Befehl, für die schon seit Oktober geplanten Deportationszüge aus dem Reich „Platz zu schaffen". Am 30. November frühmorgens rückten deutsche und lettische Kräfte ins Ghetto von Westen ein. Menschen mussten raus auf die Straße, erst wurde gebrüllt, dann geprügelt, schließlich geschossen. Marschkolonnen von jeweils 1.000 Menschen setzten sich in Bewegung über die Moskauer Straße nach Rumbula. (nächste Station) Der 16-jährige Margers Vestermanis war mitsamt seiner Familie im Ghetto. Er bekam den Befehl, zusammen mit einem Kameraden, Kinderleichen aufzusammeln und auf einem Schlitten hierher zum Alten Jüdischen Friedhof zu bringen.
Im Oktober 1941 hatten die Leitungen der Ordnungspolizei im Reich einen Schnellbrief des Chefs der Ordnungspolizei erhalten betreffs „Evakuierung" von Juden „zum Arbeitseinsatz im Osten". Nach Minsk und Riga sollten insgesamt 50.000 Juden „evakuiert" werden, in Zügen mit jeweils 1.000 Personen u.a. aus den Räumen Berlin, Leipzig/Dresden, Hamburg, Hannover, Münster/Osnabrück/Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Kassel, Stuttgart, Nürnberg, Theresienstadt und Wien.
Erhalten ist die Niederschrift eine Besprechung in Münster zwischen den Spitzen von Partei, Gestapo, Polizei, Stadt und Oberpräsidium. Es ging einzig und allein darum, die „Evakuierungen" ordnungsgemäß abzuwickeln, die Übernahme des zurückbleibenden Eigentums, der Wohnungen.
Erste Züge aus Berlin, München, Frankfurt/Main, Wien und Breslau waren für Riga in der zweiten Novemberhälfte „zu früh". Sie wurden umgelenkt nach Kaunas in Litauen, wo die Deportierten sofort im Fort IX erschossen wurden.
Die Insassen der nächsten vier Züge aus Nürnberg, Stuttgart, Hamburg und Wien kamen in sas provisorische Auffanglager „Jungfernhof" an der Daugava. Der 5. Zug, der am 27. November Berlin verlassen hatte, kam am Morgen des 30. November am Rangierbahnhof Skirotava an. Seine Insassen wurden noch vor en Rigaer Juden in Rumbula erschossen. Der Kölner Zug (Abfahrt 7. Dezember) war dann der erste, dessen Insassen das entvölkerte und verwüstete Ghetto betraten. Es folgten im dichten Takt die Transporte aus Kassel, Düsseldorf, Münster/Ornabrück/Bielefeld, dann je vier Züge aus Wien und Berlin bis Ende Januar 1942 und ein Zug aus Dortmund. Insgesamt wurden etwa 28.000 jüdische Menschen aus dem „Großdeutschen Reich" nach Riga verschleppt.
Über fast zwei Jahre, bis zum 2. November 1943, bestand in dem Viertel nördlich von uns nach „Kleine Ghetto" mit wenigen Tausend noch arbeitsfähigen lettischen Juden jenseits der Ludzas iela sowie das „Reichsjudenghetto" mit der Bielefelder und Düsseldorfer Straße, die von hier aus anschließt, die Kölner, Prager, Berliner/Wiener und Leipziger Straße (Ludzas iela).
Die täglichen Essensrationen waren erbärmlich, oft stinkend und verdorben. Ein Arbeitskommando zu haben, konnte da eine Überlebenschance sein. Manche waren hart, auf anderen begegnete einem Gefangenen vielleicht ein Mensch, gab es etwas mehr in der Suppe, Möglichkeit zum Tauschen. Aber wehe, bei jemandem wurde bei Rückkehr ins Ghetto Tauschgut gefunden. Dann wurden solche Menschen hierher zum Rand des Alten Jüdischen Friedhofs gebracht und sofort von Ghetto-Kommandant Krause erschossen. Da war einer, der in nächsten Moment dem Kind der gerade erschossenen Mutter Schokolade schenkte.
Ca. 200 Meter von hier die Düsseldorfer Straße herunter befand sich damals der Blechplatz, wo die Appelle stattfanden, der Galgen stand. Hier begannen am 5. Februar und 15. März die „Dünamünde-Aktionen": In der Fischkonservenfabrik in Dünamünde sei ein leichteres Arbeitskommando eingerichtet worden. Mehrere tausend Menschen wurden bei großen Appellen aussortiert und auf Lkw`s verfrachtet. In einem kleinen Betriebsgebäude neben dem Blechplatz hatten Häftlingsfrauen immer wieder die Aufgabe, eintreffende große Menschen an Kleidungs- und Gepäckstücken zu sortieren. Wenige Tage nach dem Appell wurden Befürchtungen zur Gewissheit: Die Frauen entdeckten Kleidungstücke von Verwandten, verdreckt, mit Blutspuren. Es gab kein Arbeitskommando in Dünamünde! Die Menschen waren in den „Hochwald" gebracht und dort erschossen worden.
Dünamünde war für die reichsdeutschen Juden eine Zäsur. Damit begann auch für sie die Massenvernichtung.
Am 2. November 1943 ein letzter Appell im Ghetto: Die einen Häftlinge kamen auf Lkw`s, die zum neu errichteten KZ Kaiserwald im nördlichen Riga fuhren, die anderen auf Lkw`s Richtung Skirotava. Dort warteten Züge nach Auschwitz.
Nach dem Krieg wurde der Friedhof eingeebnet und „Park der kommunistischen Brigaden" genannt. Seit 1990 heißt der Park wieder „Alter Jüdischer Friedhof". Am 12. Juli 1994 konnte an der Südseite ein Gedenkstein (Feldblock mit Davidsstern) eingeweiht werden. Ermöglicht wurde das durch unsere Spendensammlung in Deutschland.
(Kurz später führt der Künstler Dr. Horst Hoheisel aus Kassel zusammen mit Zigrida Marowska vom Goethe-Institut einen Workshop mit den deutschen und lettischen Jugendlichen des Volksbund-Workcamps durch. Hierbei sollen Ideen zu einer würdigeren Gestaltung des ehemaligen Friedhofs entwickelt werden.
Am 2. Februar 2010 unterzeichneten Rabbi Menachem Barkahan von der Jüdischen Religiösen Gemeinde Shamir und Initiator des „March of Life" am 4. Juli und Vizebürgermeister Ainars Slesers eine Absichtserklärung zur Errichtung eines Ghetto-Museums in einem Gebäude der Roten Speicher an der Moskauer Straße unweit der Markthallen und in einige Entfernung zum ehemaligen Ghetto. Das Projekt wird bisher unabhängig vom Museum „Juden in Lettland" in der Skolas iela verfolgt, das Margers Vestermanis in zwei Jahrzehnten zu einem hoch angesehenen Zentrum der jüdischen Erinnerungskultur in Lettland entwickelt hat.
Die schon traditionell besonders ärmliche Moskauer Vorstadt ist immer mehr ein Viertel des Verfalls. Etliche Gebäude sind völlig runtergekommen, eine ganze Reihe von Holzhäusern (z.B. in der „Düsseldorfer Str") sind verschwunden. Nur ganz vereinzelt ist Neues entstanden: das DODO-Hotel an der Daugavpils/Jersikas iela, der kleine Marktplatz an der Maskavas/Maza Kalna iela und das Geschäft Kaupeni am ehemaligen Blechplatz. Vereinzelt sind Wegweiser zu Sehenswürdigkeiten aufgestellt: zum orthodoxen Friedhof, zum Moskauer Park südlich der Makavas iela Richtung Daugava. Zur Ghetto-Vergangenheit kein einziges Wort. Der enorme Sanierungsbedarf ist offenkundig. Inzwischen gab es drei internationale Architekten-Workshops zu diesem Viertel, der dritte unter der Überschrift „The future development visions of the Moscow suburb". Die ehrgeizigen Modernisierungspläne setzten auf EU-Unterstützungen. Die scheinen gegenwärtig wenig realistisch zu sein.)
Erläuterungen am Wäldchen von Rumbula
(Von der Maskavas iela biegen wir ab auf die Salaspils, dann Lokomotives iela entlang der nach Südosten führenden Bahnanlage. Wir sehen den roten Backsteinbau der Station Skirotava, wo sich 1941 die Opferspuren kreuzten: Abfahrtsort der sowjetischen Deportationszüge nach Sibirien, dann Ankunftsort der Deportationszüge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Einige Kilometer weiter wieder zurück auf die inzwischen mehrspurige Maskavas iela, wo schließlich linker Hand eine kurze Stichstraße in das Wäldchen von Rumbula führt. Von den Gedenksteinen am Eingang schlängelt sich ein Weg in das Wäldchen. Auf einer Lichtung ein Feld mit kleinen, mittleren und größeren Granitsteinen, auf denen die Namen der jeweiligen Familien eingraviert sind. Aus ihrer Mitte wächst eine wie ein Wurzelgeflecht gestaltete Menora (siebenarmiger Leuchter). An der Seite des Steinfeldes der Einzelstein der zehnjährigen Geneka Koch, im Unterschied zu früheren Jahren geschmückt mit etlichen Blumen, Püppchen. Umgeben ist die Lichtung von mehreren großen Gevierten: die Massengräber.)
Der Höhere SS- und Polizeiführer Ostland und Russland Nord Friedrich Jeckeln hatte die Umgebung Rigas nach einem geeigneten Ort abgesucht und war dabei auf das Wäldchen zwischen der kleinen Bahnstation Rumbula und der Maskavas iela gestoßen. Fachleute in seinem Stab berechneten den Raumbedarf an Gruben und planten in sie hineinführende Rampen. Damit sollte der Mordprozess beschleunigt werden.
Es war ein eiskalter Wintertag, der 30. November 1941. Die Marschkolonnen aus dem Ghetto wurden seitlich von lettischer Hilfspolizei bewacht, vorne und hinten von deutschen Kräften. Unterwegs wurden Menschen, die nicht mehr konnten, sofort erschossen. Das vorbereitete Gelände war abgesperrt. Zuerst mussten sich die Menschen bis auf die Unterwäsche entkleiden, dann noch letzte Wertgegenstände in Holzkisten werfen, dann über die Rampen in die Gruben steigen, sich hinlegen. Hier wurden sie von einem kleinen Trupp von Männern es Einsatzkommando 2 erschossen. Für die Schützen stand reichlich Schnaps bereit. Laut Zeugenaussagen in einem späteren Prozess soll es auf dem Gelände von Uniformierten gewimmelt haben. Das war Jeckeln`s Methode: Viele in die Mitwisserschaft einbeziehen - und damit in die Mithaftung. Von 8.15 bis 19.45 Uhr wurden in Rumbula 15.000 Menschen ermordet. Am Abend sei die Mordaktion schon Stadtgespräch gewesen, bald später berichteten darüber der britische und sowjetische Rundfunk.
Ein Soldat, der im Stabsgebäude des Einsatzkommando 2 (Ecke Raina bul./Reimersa iela) als Dolmetscher arbeitete, berichtete mir vor Jahren, wie er den Abend dieses „Rigaer Blutsonntag" erlebt hatte: Das Erschießungskommando kam zurück, verdreckt und angetrunken, und zog sich zurück in die Kantine im Keller. Schon bald habe er deutsche Sauflieder gehört wie „In München steht ein Hofbräuhaus".
Am 8. Dezember folgte eine weitere „Aktion". Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin berichtete in seiner „Ereignismeldung UdSSR" Nr. 155: „Die Zahl der in Riga verbliebenen Juden - 29.500 - wurde durch eine vom HSSPF Ostland durchgeführte Aktion auf 2.500 verringert." Die Adressaten dieser Meldung wussten, was „verringert" bedeutete.
Stellvertretend für die hier ermordete jüdische Bevölkerung Rigas ist auf eine Plakette das Gesicht der zehnjährigen Geneka Koch zu sehen: „ermordet in diesem Wald, zusammen mit ihren Eltern und ihrem vierjährigen Bruder. Niemand hat vergessen, niemand wird vergessen."
Damit war „Platz geschaffen" für die angekündigten Deportationszüge aus dem Reich.
Der damalige Führer des Einsatzkommandos 2, Dr. Rudolf Lange, nahm Ende Januar 1942 als einziger höherer des SS-Offizier des Ostens an der Wannsee-Konferenz in Berlin teil.
Seit den 60er Jahren begannen Rigaer Juden damit, gegen die Widerstände der sowjetischen Bürokratie die Gräberstätte würdiger zu gestalten. Sie konnten einen Gedenkstein durchsetzen, auf dem „Den Opfern des Faschismus" auch in Jiddisch geschrieben war. Gedenkveranstaltungen am letzten Sonntag im November wurden aber notorisch von Parteiorganen und KGB gestört, durch Musik, durch Übergriffe.
Gedenkrede bei der Gedenkstunde im Wald von Bikernieki
(Auf dem Zugangsweg zur Gedenkstätte informiert der lettische Architekt Sergejs Rizhs über die lange Geschichte dieser Mord- und Gedenkstätte. Sergejs Svilpes, einziger Überlebender von oppositionellen Jugendlichen, habe die Kenntnis über diesen Ort und die verschiedenen Opfergruppen erheblich erweitert. In den 90er Jahren war ich mit Sergejs Svilpes mehrfach in Bikernieki. Er zeigte uns Spuren der Mordaktionen, den Stein für die Häftlinge aus dem Zentralgefängnis. 1993 waren einige Steine mit Hakenkreuzen beschmiert.
Jugendliche des Workcamps in ihren roten Friedens-T-Shirts bilden mit Leuchten ein Spalier zum Mittelpunkt der Gedenkstätte mit ihren 5.000 individuellen Granitsteinen, wo Kleine, Mittlere und Größere wie Familien dicht gedrängt nebeneinander stehen.
Anwesend sind auch einige alte Menschen. Es sind ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge.
Es sprechen der Leiter der Rigaer Stadtverwaltung, eine Vertreterin des lettischen Außenministeriums, der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Banjamin Kaem. Hand in Hand kommen die Jugendlichen in die Mitte, tragen Texte vor, ein Lied. Nach meiner Gedenkrede Kranzniederlegungen u.a. durch die deutsche Geschäftsträgern, Margit Häberle, und die österreicherische Botschafterin, Hermine Popeller, der Vizepräsident des Volksbundes, Prof. Volker Hannemann; Enthüllung der Gedenksteine Gütersloh, Marl, Haltern, Viersen und Verlesung der Namen der aus diesen Städten Deportierten; Ansprache und Gebet von Pastor Martin Grahl und Kaddisch durch Kantor Haim Ischakis (Griechenland).
Anschließend individuelles Gedenken der Delegationsmitglieder und Projekt „Steine für Bikenieki".)
Exzellenzen, meine Damen und Herren, liebe Freunde und Freundinnen vom Verein der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands mit Dr. Alexander Bergmann an der Spitze!
Die deutsche Delegation war heute an der Freiheitsstatue, an der ehemaligen Großen Choral Synagoge an der Gogolstraße, im früheren Ghetto in der Moskauervorstadt, in Rumbula. Jetzt sind wir im Wald von Bikernieki.
Sommer in Riga kann so herrlich sein: die langen Sommernächte, das viele Singen, die blumenverliebten Menschen. Der Sommer 1941 war einer von tiefster Dunkelheit.
Am 14. Juni deportierte die Sowjetmacht 15.000 Letten vom Rangierbahnhof Skirotava aus nach Sibirien, ungefähr ein Drittel davon Juden. Kaum jemand kehrte nach vielen Jahren in die Heimat zurück. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni ermordete die sowjetische Geheimpolizei in den Gefängnissen Lettlands mehrere hundert politische Häftlinge. Und als am 1. Juli die Wehrmacht in Riga einmarschierte, begann vor allem das lettische „Kommando Arajs" sofort mit Verhaftungen, Misshandlungen, Erschießungen von Juden und mutmaßlichen Kommunisten. Den sog. „Sommerexekutionen" fielen allein Riga 6.378 Menschen zum Opfer, landesweit über 30.000.
Ab November 1941 rollten die Deportationszüge mit deutschen, österreicherischen und tschechischen Juden nach Riga.
1942 fanden am 5. Februar und 15. März im „Reichsjudenghetto" und am 26. März im Lager „Jungfernhof" große Appelle statt. Statt in das angebliche Arbeitskommando in der Fischkonservenfabrik Dünamünde wurden etliche tausend Menschen hierher in den „Hochwald", den Wald von Bikernieki, gefahren und erschossen. Ein Foto existiert noch von den Massenerschießungen hier: Menschen hocken dicht gedrängt, hören die Schüsse, warten auf ihre Ermordung. 1977 sprach das Hamburger Landgericht sein Urteil über Gerhard Maywald, Initioator und Hauptselektierer der Dünamünde-Aktion, Erbauer der Lager Salaspils bei Riga und Trostenez bei Minsk: Es sei nicht feststellbar gewesen, ob Dünamünde „kraft tatbezogener Merkmale als Mord zu werten ist. (...) Es ist nicht bewiesen, dass die von Maywald selektierten Opfer heimtückisch getötet worden sind, weil nicht aufgeklärt werden konnte, ob eine möglicherweise versuchte Täuschung über ihr Schicksal erfolgreich war. Entsprechendes gilt für die Frage, ob die Opfer grausam getötet wurden, da Einzelheiten über den Vorgang der Tötung nicht bekannt geworden sind." Maywald wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Absitzen der Reststrafe wurde ihm erlassen, weil ihm durch 15-jähriger Ermittlungen schon genug Unbill widerfahren sei.
Der Hochwald von Bikernieki wurde der größte Mordplatz im deutsch besetzten Lettland. Die größte Opfergruppe waren jüdische Männer und Frauen, Greise und Kinder. Erschossen wurden hier aber auch tausende von politischen Aktivisten und Gefangenen und fast 10.000 sowjetische Kriegsgefangene. Mindestens 35.000 Menschen wurden in 55 Massengräbern verscharrt. Als 1944 die Rote Armee näher rückte, mussten Gefangene die Massengräber öffnen, und die Leichen verbrennen. Noch heute begegnen einem an umstehenden Bäumen noch Brandspuren von damals.
Genau heute vor 21 Jahren, am 9. Juli 1989, war ich zum ersten Mal hier: Es war ein verlorener und vergessener Ort! Der Gedenkstein ohne ein Wort für die jüdischen Opfer, häufig umgekippt.
Die massenhaften Mordtaten hier sind unfassbar. Umso mehr muss wenigstens an die Opfer erinnert werden, die spurlos ausgelöscht werden sollten.
Erst mit Perestroika und nationaler Unabhängigkeit öffnete sich die Erinnerung. Dank an Architekt Sergejs Rizhs, der im Auftrag des Rigenser Stadtrates 1987 einen ersten Entwurf für eine würdige Gedenkstätte vorlegte. Dank an Erich Herzl, der ab 1993 mit der „Initiative Riga" und dem Schwarzen Kreuz in Wien auf eine Gedenkstätte in Riga drängte. Dank dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der zusammen mit den Städten des Riga-Komitees die Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki am 30. November 2001 ermöglichte.
Die früheren Nachbarn von nebenan, die namenlos Ermordeten, Verbrannten, Verscharrten, die aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland Verdrängten - sie werden mit dieser Gedenkstätte zurückgeholt aus dem Vergessen, aus diesem zweiten Tod. Mit den 5.000 Granitsteinen um uns herum erhalten sie auch etwas Individualität zurück.
Was damals geschah, lässt sich nicht wiedergutmachen. Aber aus diesem beispiellosen „Zusammenbruch der Mitmenschlichkeit" ergibt sich aber eine besondere Verantwortung:
Hin weis:
Reden als PDF-Datei.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: