Winfried Nachtwei kommentiert den "Fortschrittsbericht Afghanistan" der Bundesregierung, mit dem diese erstmalig eine von den Grünen seit vier (!) Jahren geforderte Bestandsaufnahme vorlegt.
Ehrlichkeit mit blinden Flecken  - Kurzkommentar zum „Fortschrittsbericht Afghanistan" der Bundesregierung
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (14.12.2010)
(1) Informationsgehalt
Am 13. Dezember 2010 veröffentlichte die Bundesregierung ihren „Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages". Dass zeitgleich Minister zu Guttenberg mit Gattin beim Truppenbesuch in Mazar auftraten und Bilderbotschaften lieferte, ist mit Sicherheit kein Zufall.
Der Bericht ist mit seinen 108 Seiten die bisher bei weitem detaillierteste und informativste Bestandsaufnahme der Bundesregierung zum internationalen und deutschen Afghanistan-Engagement. Umfassend wie nie zuvor werden Stand und Maßnahmen der Förderung von Staatlichkeit und Regierungsführung dargestellt. Er ist eine hoch aktuelle Hilfe zum genaueren Hinsehen. Der Bericht macht plastisch deutlich „Nichts ist einfach in Afghanistan".
Er bietet die Chance, die Engführungen der gängigen Afghanistan-Debatten zu überwinden (Fixierungen auf Militärfragen, Ausrüstung, Abzug, insgesamt deutsche Selbstbezogenheit) und sie zu politisieren.
Da der Bericht eine Fundgrube ist, sollte er nicht wegen seiner Schwachpunkte vorschnell beiseite getan werden. Auch für Gegner des Militäreinsatzes bietet der Bericht reichlich Stoff zu verschiedenen Seiten des zivilen Aufbaus.
Er verdient und braucht sorgfältige Auseinandersetzung - nicht zuletzt wegen der außergewöhnlichen Gemeinschaftsleistung von 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ihnen ist für ihr Engagement stellvertretend für ihre Kolleginnen und Kollegen ausdrücklich zu danken. Sie tun ihre Arbeit unter sehr erschwerten Bedingungen.
(2) Zeitpunkt
Der Bericht soll eine Bestandsaufnahme des deutschen Afghanistan-Engagements bringen. Dass diese jetzt kommt, ist ein Fortschritt. Dass sie erst jetzt an der Schwelle des 10. (!) Einsatzjahres kommt, ist ein Skandal. Im Bundestag erhoben erstmalig die Grünen vor mehr als vier Jahren die Forderung nach einer offenen und selbstkritischen Bilanzierung.[1] Im Sommer 2006 kehrte der Krieg erkennbar in Teile des Landes zurück, als die ISAF-Süd-Erweiterung mit verlustreichen Kämpfen einherging. Unsere wiederholten Forderungen nach einer Wirksamkeitsbewertung des deutschen Engagements fanden bei der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD jahrelang kein Gehör. Das änderte sich erst mit der veränderten Großwetterlage nach dem Luftangriff von Kunduz und dem Wechsel der SPD in die Opposition. Jetzt forderte die SPD gemeinsam mit den Grünen eine Evaluierung des Engagements durch eine Unabhängige Kommission. Dies ging der CSU/CSU-FDP-Koalition zu weit. Stattdessen erstellten die Ressorts unter Leitung von Botschafter Steiner den Fortschrittsbericht. Kurz vor Fertigstellung des Berichts führte der Auswärtige Ausschuss am 23. November eine Öffentliche Anhörung über „Kriterien zur Bewertung des Afghanistan-Einsatzes" durch.
Angesichts der aktuellen Afghanistan-Debatte in der SPD müssen sich ihre früheren Minister fragen lassen, warum in ihrer Amtszeit ein solcher Bericht nicht zustande kam.
(3) Ehrlichkeit
Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan, Botschafter Michael Steiner, betont, es sei ein ehrlicher Bericht. In der Tat ist der Bericht deutlich realitätsnäher, nüchterner und kritischer als alle seine viel schmaleren Vorgängerberichte. Klar benannt werden die Verschlechterung der Sicherheitslage seit 2006, die massive Korruption und politische Blockaden von Kriegsfürsten wie aus den Reihen der Regierung. Wo Fortschritte benannt werden, wird nicht verschwiegen, wie weit zurück sie insgesamt noch sind.
Die afghanische Regierung wird zu Recht ausgesprochen kritisch beurteilt. Wahlbetrug, Korruption, und Klientelismus werden ohne diplomatische Rücksichtnahme klar beim Namen genannt. Betont wird zu Recht der Grundsatz der local ownership. Soweit, so richtig.
Die Kritik der afghanischen Verhältnisse geht aber einher mit einem fast vollständigen Verzicht auf Selbstkritik - an der Politik der Staatengemeinschaft, des Westens, der Bundesrepublik.
Zugestanden wird, dass es beim deutschen Engagement „zuweilen auch unrealistische Zielsetzungen" gegeben habe und dass es in weiten Landesteilen eine ungenügende Präsenz nationaler und internationaler Sicherheitskräfte gegeben habe. Damit hat es sich aber auch.
Schön geschrieben wird weiterhin die deutsche Lead-Rolle beim Polizeiaufbau und der dabei zutage tretenden grandiosen Unterschätzung der Herausforderung Polizeiaufbau.
Übergangen werden die langjährigen und politisch nicht ausgetragenen strategischen Dissense zwischen Verbündeten (Gegnerfixierung vs. Bevölkerungsorientierung), die Kumpanei mit alten Warlords und Kriegsverbrechern, die Zersplitterungen und Diskontinuitäten eines internationalen Stabilisierungseinsatzes, die verpassten Chancen der ersten Jahre, die verbreitete Ignoranz gegenüber dem ersten Gebot des „do no harm".
Diese Schräglage wurde dadurch vorprogrammiert, dass die Koalition eine unabhängige Kommission ablehnte und eine hausinterne Bestandsaufnahme in Auftrag gab. Auch von kompetenten und verantwortungsbewussten Beamten kann nicht erwartet werden, dass sie in einem öffentlichen Dokument ihren Dienstherrn umfassend kritisieren. Wie sähe der Bericht aus, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne interne und politische Rücksichtnahmen hätten schreiben können?
Diese gespaltene Ehrlichkeit und faktische Selbstgerechtigkeit schmälert erheblich die Aussagekraft und Glaubwürdigkeit des Berichts.
(4) Wirksamkeit
In der Vergangenheit gab keine systematischen Wirksamkeitsbewertungen des gesamten deutschen Afghanistan-Engagements, sondern überwiegend  Ereignis-, Tätigkeits- und Input-Berichte und politische Bewertungen, die stark vom Interesse an Selbstrechtfertigung geprägt waren. Die Grundmelodie war „es gibt Probleme, aber wir sind auf dem richtigen Weg." Eine positive Ausnahme waren die Untersuchungen von Jan Koehler und anderen zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Nordost-Afghanistan von 2007 und 2009.[2]
Der Fortschrittsbericht bringt viel Material zur Wirksamkeitsbewertung, vor allem bei Wiederaufbau und Entwicklung, Afghanischen Sicherheitskräften. Insgesamt fehlt aber die Systematik einer umfassenden Wirksamkeitsbewertung, wie sie von Kanada, Niederlanden, USA und ISAF in ihren jeweiligen Berichten und Assessments vorgemacht wird: Ausgangslage (baseline), überprüfbare Zwischenziele, Benchmarks und Fortschrittsindikatoren.[3]
Dieser Mangel schmälert strukturell die Aussagekraft („Ehrlichkeit") des Berichts.
(5) Eigene Kräfte und eigener Handlungsbedarf
Eine Bestandsaufnahme ist kein Selbstzweck. Sie dient der Überprüfung der eigenen Politik, des eigenen Kräfte- und Ressourceneinsatzes, um die gesetzten Zwecke auch bestmöglich zu erreichen.
Die eigenen Kräfte werden nur lückenhaft thematisiert:
-         Nicht angesprochen werden der Personalumfang deutscher Entwicklungszusammenarbeit (230 deutsche und internationale Experten, 1.100 lokale Kräfte bei den Durchführungsorganisationen; dazu Hilfsorganisationen und NGO`s), der deutschen Diplomatie (unverantwortlich spärlich) und die Rekrutierungsvoraussetzungen und -probleme in der EZ, Diplomatie, Polizei.
-         Offen bleibt, ob der jetzige Umfang des Bundeswehrkontingents ausreicht, über die nächsten Jahre auch eine tatsächliche Übergabe in Verantwortung zu ermöglichen.
-         Nicht angesprochen bzw. schön geredet werden Anspruch und hinterher hinkende Wirklichkeit von Ressort- und zivil-militärischer Zusammenarbeit (comprehensive approach, vernetzte Sicherheit), das bisherigen Fehlen von integrierter Lage und Erfahrungslernen.
-         Praktisch ausgeblendet bleibt die Rückkehrerproblematik der inzwischen zigtausenden Männer und Frauen, die inzwischen in Afghanistan in verschiedenen Uniformen oder in Zivil im Einsatz waren: Sie lässt das Land und seine Menschen in der Regel nicht mehr los. Tausende haben dort krasse Gewalt erfahren - passiv und aktiv -, viele Hundert wurden körperlich und seelisch verwundet. Dutzende Familien haben ihren Ehemann, Vater, Sohn verloren. In der Heimat erfahren die Rückkehrer überwiegend Desinteresse, sogar bei entsendenden Institutionen. Ihr Erfahrungspotenzial bleibt weitgehend ungenutzt.
Kein Wort, welche Voraussetzungen hierzulande geschaffen werden müssen, um den Bundeswehreinsatz glimpflich u n d verantwortbar reduzieren zu können, um zivile und polizeiliche Aufbauhilfe über 2014 hinaus aufrecht erhalten zu können.
(6) Fortsetzung des Fortschrittsberichts
Trotz seiner Lücken ist der Bericht ein wichtiger Fortschritt. Er würde entwertet, bliebe er eine Einmalleistung. Er muss der Auftakt sein für halbjährliche Berichte, gegliedert nach Zwischenzielen, Benchmarks und Fortschrittsindikatoren. Eine ungeschönte und wirklich ehrliche Evaluierung ist zwingend auf die Einbeziehung unabhängiger Expertise angewiesen. Eine bloße Anhörung ist da völlig unzureichend.
Alle Wirksamkeitsbewertung bleibt Schall und Rauch, wenn sie sich nicht in entsprechenden politischen Aufträgen niederschlägt: Das nächste Mandat muss klar, ehrlich, erfüllbar und umfassend sein, d.h. über die militärischen Aufgaben und Kräfte hinaus auch wesentliche Aufbauziele definieren und ausstatten. Eine bloße Fortschreibung des bisherigen Mandats würde diesem dringenden Erfordernis nicht gerecht.
Im Einzelnen (zu ausgewählten der insgesamt 27 Kapitel)
I. Sicherheit
- Nachdem sich die Bundesregierung jahrelang damit begnügte, nur ereignisbezogen zur Sicherheitsentwicklung zu berichten, werden jetzt erstmalig Trends über die Jahre dokumentiert. Endlich beschränkt man ich nicht auf Sicherheitsvorfälle als einzige Indikatoren der Sicherheitslage, sondern nimmt für den Norden die aussagekräftigere Kategorie Stufen der Bewegungsfreiheit der Entwicklungszusammenarbeit.
- Die Sätze „Die stetig wachsende Militärpräsenz hat bisher nicht zu einer signifikanten und nachhaltigen Verbesserung er Sicherheitslage geführt" und „Eine der zentralen Ursachen für den Anstieg er sicherheitsrelevanten Zwischenfälle liegt im Truppenaufwuchs der ISAF und der weiteren Steigerung der Operationsdichte und -tempo begründet" sind eigentlich ein Offenbarungseid. Sie legen den Umkehrschluss nahe, dass Sicherheitsvorfälle mit einer Reduzierung des ISAF-Umfangs abnehmen würden.
- Zentrale Informationen zur Relation Kräfte - Raum bleiben unerwähnt: Die Provinz Kunduz  entspricht in der Fläche Rheinland Pfalz, nur mit einer schwierigen Geographie und schwacher Verkehrsinfrastruktur. Hierhin wurden anfangs 400 Soldaten mit Stabilisierungsauftrag geschickt, „netto" als 100 bis 200. Was konnten die erreichen? Oder die Ausmaße der ISAF-Region Nord, immerhin 1.200 x 400 km!
- Die Konfliktgeschichte des keineswegs harmlosen Kunduz wird deutlich. Ausgeblendet bleiben die „eigenen" Beiträge zum Abdriften dieser früheren Hoffnungsprovinz: der Verlust der Initiative vor Ort und die „Entfernung" vom Auftrag, die „verschlossenen Augen" in Berlin gegenüber der sich ausweitenden Aufstandsbewegung 2007 bis 2009, die Strukturen von Selbsttäuschung, Realitätsverlust und Täuschung.
- An Beispielen aus dem Unruhedistrikt Chahar Darreh wird ungeschönt die Wirklichkeit des Guerilla- und Terrorkrieges beschrieben. Nicht unerwähnt bleiben sollte dabei, dass trotz des richtigen Verzichts auf einen body-count bei den Gefechten Aufständische in erheblicher Zahl getötet werden. Nachdem unter Minister Jung das Wort Krieg tabu war, ist jetzt der Eindruck verbreitet, als sei auch im Norden flächendeckend Krieg. Fakt ist die krasse Verschiedenheit der Konfliktlage: Von den 123 Distrikten herrscht in acht offener Guerillakrieg, in den anderen mehr oder weniger viel Gewaltkriminalität, aber kein Krieg.
- In den Kapiteln zu den afghanischen Sicherheitskräften gibt es dank des entwickelten militärischen Benchmark- und Kriteriensystems hilfreiche Informationen zur Wirksamkeit und potenziellen Nachhaltigkeit der Aufbauunterstützung für ANA und ANP. Markiert wird die massive Ausbilder- und Partnering-Lücke im Norden, wo das dritte „Ausbildungs- und Schutz"-Bataillon von ISAF (Task Force) nicht in Sicht ist.
- Die deutsche Polizeihilfe hat mit der Errichtung mehrerer Ausbildungszentren einen neuen Schub bekommen. Sehr sinnvoll ist der umfassendere deutsche Ansatz, der Infrastrukturprojekte und Alphabetisierungskurse einbezieht und einhergeht mit praktischer Rechtsstaatsförderung.
- Der Blick auf den Gesamtbeitrag der Staatengemeinschaft zur Stabilität und Sicherheit (7. Kapitel) ist rosig und realitätsfern: Übergangen wird der lang andauernde Fehlstart von EUPOL und die Inkohärenz der verschiedenen nationalen PRT-Modelle. Nicht zur Sprache kommt der strategische Schwerpunkt von ISAF im Süden, wo seit dreieinhalb Jahren ein hochintensiver Guerilla- und Terrorkrieg tobt, wo die US-Anstrengungen gigantisch und opferreich sind, wo die das Rückgewinnen und Halten von Taliban-kontrollierten Gebieten noch schwieriger und langwieriger als erwartet ist. Oder andererseits das positive Beispiel der Niederländer im südlichen Uruzgan.
Nicht einmal angedeutet wird der erhebliche praktische Dissens unter Verbündeten und zwischen ISAF und UNAMA in Bezug auf das Ausschalten der mittleren Führungsebenen der Aufständischen.
- Im Frühsommer 2011 kommt die Stunde der Wahrheit. Dann wird sich zeigen, ob die enorme Kraftanstrengung von 2010 Wirkung zeigt - oder der Anstieg der Sicherheitsvorfälle ungebremst so weiter geht. In dem verhalten-hoffnungsvolle Tenor des Fortschrittsberichts höre ich auch ein Pfeifen im Walde.
- Wichtig sind die Bindung der Übergabeprüfungen an abgestimmte und nachvollziehbare Kriterien und die Ankündigung eines verstärkten zivilen Ressourceneinsatz beim zivilen Aufbau parallel zur Reduzierung internationaler Streitkräfte.
II. Staatswesen und Regierungsführung
- Ausgeblendet wird hier der strategische Fehler etlicher Staaten, vor allem der USA, einer überwiegend kurzsichtigen bis zynischen Politik gegenüber alten Warlords und Kriegsverbrechern. Damit wurde von vorneherein die Stärkung von afghanischer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit konterkariert und sabotiert.
- Ausgesprochen informativ und hilfreich sind die Kapitel zur Ausübung der Regierungsgewalt in den Provinzen und zum Aufbau einer funktionsfähigen staatlichen Verwaltung. Enorm wichtig, wenn auch sehr spät sind die jüngsten Anstrengungen zur Förderung von Verwaltungskompetenz auf unteren Ebenen, wo Staat von den Menschen direkt erfahren wird. Die Bundesregierung kann sich zugute halten, dass sie die hervorragende NGO „The Liaison Office" nicht erst seit 2008, sondern indirekt über Swiss Peace und Heinrich Böll Stiftung schon seit 2003 unterstützt. Das war ein seltener Fall von Weitsicht.
- Sehr sinnvoll - aber auch wieder sehr spät - sind die jüngsten CIM-Programme für deutsch-afghanische Experten und die zweite Generation gut ausgebildeter Deutsch-Afghanen.
- Äußerst beunruhigend sind die Ergebnisse der jüngsten Afghanistan-Umfrage von ARD, ABC, BBC und Washington Post. Afghaninnen und Afghanen bewerten wohl die Lage und Zukunft ihres Landes um vieles besser als die Öffentlichkeiten in den ISAF-Ländern und Deutschland. Das Ansehen des Westens hat ein Allzeittief erreicht. Die früher relativ hohe Zustimmung zum deutschen Engagement im Norden hat einen Absturz erlebt. Wenn im Nordosten tatsächlich 39% der Befragten Anschläge auf NATO-Einheiten befürworten, dann ist das eine Katastrophe und ein verheerender Verlust an Legitimität. (Die Frage ist nur, inwieweit eine Beragung von 1.691 Afghaninnen und Afghanen in den 34 Provinzen dieses ausgesprochen fragmentierten und gegensätzlichen Landes wirklich als repräsentativ gelten kann.) Andererseits ist bemerkenswert, dass in der Kriegs- und Opiumprovinz Helmand, dem Schwerpunkt der ISAF- und US-Operationen, die Gesamtzufriedenheit der Menschen von 44 auf 71% gestiegen sein soll.
- Im Kapitel „Wahrung der Menschenrechte" stellt zu Recht die wirksame und mutige Arbeit der Unabhängigen Menschenrechtskommission mit ihrer Vorsitzenden Dr. Samir Samar heraus. Ob inzwischen aber noch von einem langsamen, aber stetigen Fortschritt bei der Einhaltung er Menschenrechte gesprochen werden kann, wird von vielen bezweifelt. Berichtet wird von einem rollback bei Menschen- und Frauenrechten.
- Viel zu wenig Aufmerksamkeit finden in Deutschland demokratische und zivilgesellschaftliche Strukturen und Aktivitäten in Afghanistan. Wer weiß hierzulande schon von den fast flächendeckenden Gemeindeentwicklungsräten, den mutigen Frauen und Männern in NGO´s und Netzwerken. Besonders wichtig, aber auch schwierig sind Ausbildungshilfen beim Justizaufbau angesichts der drei parallel existierenden Rechtssysteme. Die von Deutschland geförderte Armenrechtsberatung und Rechtsalphabetisierung wird von Beteiligten als sehr erfolgreich bewertet. Das alles ist unspektakulär und medial unsichtbar, für die Förderung von legitimer Governance aber von strategischer Bedeutung. Hier wie auf anderen Feldern gibt der Fortschrittsbericht keinen Aufschluss darüber, ob solche Maßnahmen als Tropfen auf dem heißen Stein verdampfen oder noch gewisse bleibende Wirkungen haben. Und was tun andere Länder auf diesem Feld? In wie vielen Distrikten und Provinzen finden überhaupt solche Maßnahmen statt?
- Ungeschminkt wird die schamlose Bereicherung durch hohe Funktionsträger benannt und das mangelhafte Interesse der afghanischen politischen Führung an einer nachhaltigen Bekämpfung der Korruption kritisiert. Andere Formen der Korruption auf Seiten der Internationalen bleiben demgegenüber außen vor. Es ist zu hoffen, dass die Umorganisation der Gehaltszahlungen der afghanischen Sicherheitskräfte das Unterschlagungsrisiko auch so verringert, wie es behauptet wird.
(16. Reintegration, Verständigung und Ausgleich mit der Insurgenz; 20. Staatsfinanzen)
-  Bemerkenswert ist, welch relativ kleinen Teil am Gesamtumsatz des aus Afghanistan stammenden Heroins (65 Mrd. US-Dollar) die Taliban mit 130 Mio. US-Dollar einstreichen. Offen bleibt in dem Kapitel , ob die Rolle Deutschlands bei der Drogenbekämpfung mehr als marginal ist.
- Bemerkenswert positiv ist die Entwicklung auf dem Feld der Staatseinnahmen. Dass die afghanische Finanzverwaltung deutlich oberhalb der für Afghanistan relevanten Vergleichsgruppe von Ländern eingestuft wird, ist überraschend.
III. Wiederaufbau und Entwicklung
- Angesichts der Ausgangslage Afghanistans ist vielerorts nicht von Wiederaufbau, sondern richtiger von Aufbau die Rede.
- In der deutschen Bevölkerung ist die die Vorstellung nicht wenig verbreitet, „wir haben doch nichts mit Afghanistan zu tun!" Abgesehen von der Dimension internationaler kollektiver Sicherheit hat Deutschland historisch sehr wohl und sehr positiv mit Afghanistan zu tun.
Was hierzulande überwiegend vergessen ist, ist in Afghanistan unvergessen und in sehr guter Erinnerung: Die deutsche Entwicklungshilfe seit den 60er Jahren, die Polizeihilfe seit 1969, die Arbeit verschiedener Hilfsorganisationen (Welthungerhilfe seit 1980) und mutiger Einzelpersonen (z.B. die Dortmunder OP-Schwester Karla Schefter seit 1989). Diese gute Vergangenheit wirkt als Bonus und Chance bis heute.
- In diesem Abschnitt sind noch am ehesten Wirkungen des deutschen Engagements zu identifizieren, insbesondere bei Wasser- und Energieversorgung, Infrastruktur, Bildungswesen und Gesundheitsversorgung. Die Ergebnisse hier sind beachtlich.
- Sehr deutlich wird die katastrophale Ausgangslage im Bildungswesen. Exemplarisch für Fortschritte stehen in jüngster Zeit die inzwischen fünf mit deutscher Hilfe errichteten Teacher Training Centers im Nordosten und Norden, wo bisher 45.000 Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet wurden. Das sind bleibende Wirkungen! Recht spät ging man an die Berufsbildung ran.
Die Unterstützungen im Hochschulbereich haben einen guten Ruf, sind aber erheblich ausbaufähig.
- Afghanistan gehört immer noch zu den Ländern mit den weltweit schlechtesten Gesundheitsindikatoren. Der Rückgang der Kindersterblichkeit unter 5 Jahre steht beispielhaft für die Relativität von Erfolgen: Seit 2001 ging sie um 25% auf 161 pro 1.000 zurück. Im OECD-Raum liegt die Rate bei 5,7%.
- Die afghanische Bevölkerung ist mit 49% unter 15 Jahren eine der jüngsten der Welt. Das ist eine große Herausforderung und Chance: Eine besser gebildete und weniger von Krieg geprägte jüngere Generation. Zugleich ist es ein erhebliches Risiko und Sprengstoff, wenn die jungen Menschen ohne Perspektive bleiben. Spannend sind die Angaben zum gesellschaftlichen Wandel.
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[1] Brief von Jürgen Trittin und Winfried Nachtwei vom 5. September 2006 an die Minister Steinmeier, Jung, Wieczoreck-Zeul, Schäuble
[2] Jan Böhnke/Jan Koehler/Christoph Zürcher: Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005-2009. Final Report, Bonn 2010
[3] Winfried Nachtwei: Stellungnahme zum Interfraktionellen Fragenkatalog zur öffentlichen Anhörung „Kriterien der Bewertung des Afghanistan-Einsatzes" des Auswärtigen Ausschusses am 23. November 2010
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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: