Seit mehr als 20 Jahren beteiligt sich Deutschland an internationalen Krisenengagements. Hierzu gibt es zahlreiche Einzeluntersuchungen, viele Fern-Meinungen und Zerrbilder, aber keine zusammenfassende und ressortübergreifende Bilanzierungen und Wirksamkeitsanalysen. Wer keine sicherheitspolitischen Blindflüge will, braucht sie notwendiger denn je.
Verweigerte Verantwortung –
die Bilanzierung von Kriseneinsätzen ist dringlicher denn je
Winfried Nachtwei, MdB a.D.
(erschienen in „.loyal – Das Magazin für Sicherheitspolitik“ 12/2016)
Deutschland soll und will mehr Verantwortung übernehmen bei der Bewältigung der sich häufenden Krisen, gerade auch in der europäischen Nachbarschaft. Die Zukunftscharta des Entwicklungsministeriums, der Review-2014-Prozess des Auswärtigen Amtes, das jüngste Weißbuch zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr sowie die gerade entstehenden Leitlinien „Krisenengagement und Friedensförderung“ der Bundesregierung sollen dafür bessere Orientierung und Fähigkeiten bringen. Bei der Erarbeitung dieser Grundlagendokumente gab es so viel an öffentlicher Beteiligung wie nie zuvor.
Dass dabei auch die Bilanzierung der mehr als zwanzig Jahre deutscher Beteiligungen an internationalen Kriseneinsätzen, die Analyse ihrer Wirkungen und Erfahrungen eine zentrale Rolle spielte, sollte man meinen. Dem war aber nicht so.
Wohl gibt es viel Erfahrungslernen und Lessons-Learned-Prozesse auf der taktischen und operativen Ebene, eine Fülle von Veröffentlichungen (primär zu ihrer militärischen Dimension, wenig zu den zivilen und polizeilichen Komponenten). Eine ressortübergreifende, systematische und breit kommunizierte Bilanzierung und Evaluierung eines einzelnen Einsatzes oder der Einsätze insgesamt gibt es aber nicht!
Beim Review-2014-Prozess des Auswärtigen Amtes wurden die Auslandseinsätze, für die das AA immerhin die Federführung hat, weitgehend ausgeklammert.
In das gerade erschienene Weißbuch flossen viele Erfahrungen der bisherigen Einsätze ein. Eine konzentrierte Gesamtbilanzierung ihrer Wirksamkeit ist aber nicht zu finden. Im NATO-Kapitel begnügt sich das Weißbuch mit den Feststellungen:
„Die Stabilisierungseinsätze der Allianz zum Beispiel in Afghanistan und auf dem Balkan zeigen, dass Eindämmung und Bewältigung von Konflikten in einem komplexen Sicherheitsumfeld ein langfristiges und verlässliches Engagement erfordern, um Stabilisierungsfortschritte zu erhalten und zu verstetigen.“ (S. 65) Und im Fazit:
„Die Einsätze, insbesondere in Afghanistan, wurden zunehmend robuster und verlangten eine Priorisierung der Aufwendungen für eine angemessene Ausstattung der eingesetzten Truppe. Die Bundeswehr wurde zur Armee im Einsatz.“ (S. 137)
Das ist tatsächlich alles!
Mit der Verweigerung von strategischen Wirksamkeitsanalysen und Lernen wurden seit den 90er Jahren politische Fehlsteuerungen von Einsätzen, vermeidbare Kosten und möglicherweise Opfer in Kauf genommen.
Für diese Verantwortungslücke tragen die Auftraggeber der Einsätze, also verschiedene Bundesregierungen und die sie stützenden Parlamentsmehrheiten die Verantwortung. Der Bundestag hätte angesichts seiner Schlüsselrolle bei Auslandseinsätzen gegensteuern können. Überzogene Koalitionsloyalitäten standen dem immer wieder entgegen.
In der breiten deutschen Öffentlichkeit gibt es wenig differenzierte Kenntnis zu den deutschen Kriseneinsätzen. Überwiegend werden sie nur als Militäreinsätze wahrgenommen, werden ihre diplomatischen, entwicklungspolitischen und polizeilichen Komponenten ignoriert. Verbreitet – und von Militärgegnern mit Absicht geschürt – ist die Gleichsetzung von Bundeswehreinsätzen und „Kriegseinsätzen“, als gebe es keine fundamentalen Unterschiede bezüglich Auftrag, Einsatzregeln, Einsatzformen und -wirkungen.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Einsatzerfahrungen wäre es nötig und möglich gewesen, konkreter darzulegen, was mit dem Einsatz von Streitkräften, was mit dem Einsatz militärischer Gewalt im UN-Auftrag (nicht) geleistet werden kann, was ihre Möglichkeiten, Kosten, Risiken, ggfs. Tücken sind. Diese Chance verpasste das Weißbuch.[1]
Weitgehend vergessen ist: In Bosnien beendete die Bundeswehr nach 17 Jahren einen Stabilisierungseinsatz, der ausgesprochen gewaltarm verlief und militärisch erfolgreich war (Verhütung neuer Kriegsgewalt). Präsent ist die kriegerische Phase des Afghanistaneinsatzes, wo der ISAF-Stabilisierungseinsatz nach fünf Jahren zunehmend zu Aufstandsbekämpfung eskalierte. Hier waren Bundeswehrsoldaten erstmalig mit einem opferreichen Terror- und Guerillakrieg konfrontiert. Die gerade in den letzten Jahren ständig steigende Zahl von Zivilopfern in Afghanistan führen vor Augen, dass ISAF kein sicheres Umfeld hinterließ. Die 15 Jahre des Afghanistaneinsatzes waren voller Erfahrungen und schmerzhafter Lehren, sie brachten – oft übersehene - Teilfortschritte wie auch herbe Ernüchterungen: So viele Staaten und Organisationen wie nie in der Geschichte beteiligten sich an dem Großexperiment von Terrorbekämpfung und Aufbauunterstützung in einem kriegszerrütteten Land – oft mit wenig Kenntnis von Land und Leuten, mit unterschiedlichen, ja konträren Zielen und Ansätzen, mit viel Naivität, Machbarkeitsillusionen und Realitätsverlust, mit einem jahrelangen Missverhältnis zwischen militärischem und zivilem Ressourceneinsatz. Die entscheidenden Fehler geschahen auf den strategischen politischen Ebenen, international und national.
Insbesondere seit der Taliban-Besetzung von Kunduz vor einem Jahr stehen die Abertausenden, in hoch riskante Einsätze entsandten Soldaten – und ihre Angehörigen - vor der extrem schmerzhaften Frage, ob die eigenen Strapazen, die Opfer an Leib, Seele und Leben umsonst und sinnlos waren. Gerade Soldaten, die Staatsbürger in Uniform sein sollen und wollen, brauchen hierauf nicht einfache, sondern ehrliche Antworten. Diese stehen bisher aus.
Kriseneinsätze sind im erheblichen Maße und unvermeidbar Handeln ins Ungewisse, im Nebel. Da muss es selbstverständlich sein, wenigstens die Nebelscheinwerfer anzustellen und laufend die Fahrtstrecke zu überprüfen. Alles andere ist unverantwortlich. Soldaten stehen in der Pflicht zum treuen Dienen. Der Dienstherr und politische Auftraggeber steht ihnen gegenüber in der Grundpflicht zur Ehrlichkeit. Um sich ehrlich zu machen, sind Bilanzierungen, Wirkungsevaluation sowie die Ermutigung einer Fehlerkultur unverzichtbar.
Ein Lichtblick ist die Ankündigung der Bundesregierung im Weißbuch, die Kompetenzen zur Evaluierung ausbauen und verknüpfen zu wollen und strategische Dokumente wo möglich mit messbaren Kriterien als Voraussetzung von Evaluierung zu versehen. Der Lichtblick würde verstärkt, wenn die Empfehlung der „Rühe-Kommission“ zur Parlamentsbeteiligung in die Tat umgesetzt würden: bei Mandatsverlängerungen Vorlage von bilanzierenden Bewertungen über die jeweiligen Einsätze; bei Einsatzende Vorlage eines ressortübergreifenden Evaluierungsberichts mit Wirksamkeitsbewertung der militärischen und zivilen Komponenten des Einsatzes. „Was bringt es?“ Diese Schlüsselfrage braucht endlich seriöse und ehrliche Antworten. Verbündete wie Norwegen, Niederlande, Großbritannien haben bewiesen, wie das geht.
[1] Winfried Nachtwei, Lehren aus 20 Jahren deutscher Beteiligung an internationalen Interventionen, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1312
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: