Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Winfried Nachtwei (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen kurz vor der Sommerpause. Aber in der SiÂcherheitspolitik wird es garantiert keine Sommerpause geben, im Gegenteil. Aus diesem Anlass und angesichts der vor uns liegenden Monate möchte ich etwas zu den Bundeswehreinsätzen und zum Weißbuch sagen.
Erstens. Was den Kongoeinsatz angeht, sei auf FolÂgendes hingewiesen: Beim Kongoeinsatz und bei der Beteiligung Deutschlands an der EU-Truppe kommt es so sehr auf Glaubwürdigkeit an, wie es bei früheren EinÂsätzen selten der Fall war. Damit meine ich GlaubwürÂdigkeit sowohl im Hinblick auf die eingesetzten EinheiÂten als auch hinsichtlich der zentralen Botschaften. Hier kam es in den letzten Wochen von ziviler Seite aus leider zu einem sehr schädlichen Durcheinander.
Zweitens. Die Entwicklung in Afghanistan ist - norÂmalerweise bin ich in meinen Bewertungen sehr zurückÂhaltend - sehr beunruhigend, nicht nur aufgrund der ZuÂnahme der Kämpfe im Süden und der zunehmenden Perfektionierung der Anschläge, sondern auch aus andeÂren Gründen. Mittlerweile müssen wir einen eklatanten Rückschlag bei der Drogenbekämpfung befürchten. Im vorigen Jahr ging die Anbaufläche um ungefähr ein Viertel enorm zurück. Für dieses Jahr weisen die ProÂgnosen einen Anstieg hinsichtlich der Anbaufläche um zum Teil mehr als 50 Prozent aus, zum Beispiel in BaÂdakhshan. Was den Drogenanbau betrifft, sind also wieÂder rapide Steigerungen zu verzeichnen.
Woran liegt das? Im letzten Jahr wurden VersprechunÂgen gemacht, dass für die Betroffenen alternative ErÂwerbsmöglichkeiten geschaffen werden. Diese VerspreÂchungen sind nicht eingehalten worden.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Stattdessen findet eine verschärfte und aggressive VerÂnichtung der Anbaufelder statt. Die Folge ist, dass die Bauern ihre Existenz verlieren.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Die Bauern suchen Schutz. Wer bietet ihnen den? Die Taliban. Im Süden - das ist deutlich festzustellen - entÂsteht das, wovor wir schon vor geraumer Zeit gewarnt haben: eine Drogenvolksfront. Dadurch wird die Spirale der Gewalt enorm angetrieben.
Hinzu kommt, dass „Enduring Freedom"-Einsätze vor allem im Süden und Südosten offenkundig viel zu oft kontraproduktiv wirken. Die Folge ist, dass die interÂnationale Gemeinschaft und die Zentralregierung immer mehr die Herzen der Afghanen verlieren. Das ist eine sehr bedrohliche Entwicklung. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass die ISAF, die internationale SicherheitsunÂterstützungstruppe, in der Wahrnehmung von immer mehr Menschen nicht mehr als FriedensunterstützungsÂtruppe, sondern als Besatzungstruppe wahrgenommen zu werden droht. Eine Besatzungstruppe ist aber keine Stabilisierungstruppe mehr. Das ist eine äußerst gefährliÂche Entwicklung.
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Zur PetersbergÂkonferenz hat doch Fischer eingeladen!)
Die Konsequenz daraus ist, dass es bei dem AfghanistanÂeinsatz nicht um neue Konzepte gehen muss - Konzepte gibt es sehr viele -, sondern darum, die Strategie, die am Boden praktiziert wird, in den nächsten Monaten, vor der Verlängerung der Mandate, zu überprüfen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÃœNDNIS-SES 90/DIE GRÃœNEN)
Zum Weißbuch. Seit einigen Wochen ist der Entwurf des Weißbuchs im Umlauf. Es soll laut Ihren Aussagen, Herr Minister, sicherheitspolitisch und strategisch eine Standortbestimmung bringen. Dieser Anspruch ist völlig richtig; doch er wird mangelhaft eingelöst.
Erstes Beispiel: Nach mehr als zehn Jahren deutschen Krisenengagements bzw. Einsätzen der Bundeswehr ist es an der Zeit, zu einer systematischen und offenen AusÂwertung dieses Teils deutscher Außenpolitik zu komÂmen. Das ist dringend erforderlich. Tätigkeitsberichte alÂlein reichen nicht; wir brauchen eine Auswertung. Hierüber steht im Weißbuch nichts. Dabei wäre das eine enorme Chance. Es wäre auch zwingend notwendig, um abschätzen zu können, was Militär, was Bundeswehr an Außenpolitik leisten kann und was nicht. Das ist das erste wichtige Versäumnis.
Zweitens. Der Verteidigungsbegriff ist diffus formuÂliert. Aber die Andeutungen gehen in Richtung einer Ausweitung des Verteidigungsbegriffes, sowohl nach inÂnen - dass eine Terrorattacke dem Verteidigungsfall verÂgleichbar sei - als auch nach außen, Ressourcenschutz usw. Dazu müssen wir kurz und knapp feststellen: Das bringt kein Mehr an Sicherheit, sondern eindeutig mehr Unsicherheit.
Drittens. Der Anspruch umfassender und Gewalt vorÂbeugender Sicherheitspolitik bleibt leider in der Ansage stecken. Herr Minister, Sie haben selbst darauf hingeÂwiesen, dass die Bundeswehr in den Einsatzgebieten mit den anderen Kräften vernetzt ist und mit ihnen gut zuÂsammenarbeitet, mit einigen Lücken zwar, aber insgeÂsamt gut. Doch diese besondere Zusammenarbeit mit den verschiedenen Kräften schlägt sich nicht im WeißÂbuch nieder.
Hier gibt es also ganz deutlich eine UnausgewogenÂheit der militärischen, polizeilichen und zivilen KrisenÂmanagementfähigkeiten. Vorprogrammiert ist dabei FolÂgendes: Immer mehr Bundeswehreinsätze und immer längere Bundeswehreinsätze mit immer weniger WirÂkung.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit!
Winfried Nachtwei (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Ja, ich komme zum Schluss. - Diese Schlüsselfragen können nicht per Kabinettsbeschluss über ein Weißbuch sozusagen erlassen werden. Sie brauchen eine breite DeÂbatte. Ob diese breite Debatte blockiert wird oder ob sie zustande kommt, dafür tragen Sie, Herr Minister, eine sehr große Verantwortung. Ich appelliere an Sie - ich glaube, ich spreche hier, ausgesprochen oder unausgeÂsprochen, im Namen aller Kollegen -: Tragen Sie bitte Ihren Anteil dazu bei, dass wir eine solche Debatte beÂkommen!
Danke schön.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: