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Kosovo-Krieg vor zwei Jahren: Begann alles mit einer Lüge? - Zum Streit um die Informationspolitik der Bundesregierung

Veröffentlicht von: Webmaster am 12. März 2001 18:10:22 +01:00 (27835 Aufrufe)
Vor zwei Jahren beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland erstmalig an einem Kriegseinsatz. Die Auseinandersetzung darüber ist abgeflaut, aber längst nicht beendet. Soll es ein tatsächliches Lernen und friedenspolitische Konsequenzen aus diesem Krieg geben, dann ist eine genaue Aufklärung der Kriegsursachen und -begründungen, der Folgen und Ergebnisse des Krieges gerade aus der zeitlichen Distanz unabdingbar. Es mag politisch naiv klingen: Die Bereitschaft zur selbstkritischen Aufarbeitung muss bei Befürwortern und Kritikern des Kosovo-Krieges vorhanden sein. Dabei darf es nicht um Rechthaberei und die Neuinszenierung alter Debatten gehen. Im Mittelpunkt muss die Wahrheitsfindung stehen.
Im Januar beschäftigte die DU-Munition als ein Aspekt der Kriegsfolgen die Öffentlichkeit. Mit dem WDR-Beitrag „Es begann mit einer Lüge" (vollständiges Textmanuskript unter www.wdr.de/online/news/kosovoluege) erreichte die Auseinandersetzung um die Rechtfertigung der NATO-Luftangriffe und die Informationspolitik der Bundesregierung Anfang Februar einen neuen Höhepunkt. Die WDR-Journalisten Angerer und Werth warfen der Bundesregierung, insbesondere Minister Scharping, aber auch Minister Fischer und Kanzler Schröder vor, die Zustimmung von Bundestag und Öffentlichkeit zur deutschen Beteiligung an den NATO-Luftangriffen mit Manipulationen und Lügen gewonnen zu haben. Dies sei entscheidend für die Kriegsführungsfähigkeit der NATO gewesen.

Der Film wurde von Bundesregierung und einer großen Koalition im Bundestag schnell als „Machwerk" abgestempelt und nicht der Auseinandersetzung für wert befunden. Eine erste Debatte fand in der Aktuellen Stunde des Bundestages am 16. Februar statt. Nichts desto weniger wirkte der ARD-Beitrag gerade im Umfeld der Grünen und auch bei Unterstützern des damaligen Regierungskurses hochgradig irritierend. Der Film zielt auf die Glaubwürdigkeit rot-grüner Spitzenpolitiker, die damals für viele ausschlaggebend war bei der schwierigen und schmerzhaften Entscheidung, die NATO-Luftangriffe trotz erheblicher Bedenken mitzutragen.

Der WDR-Film ist der vorläufige Höhepunkt einer Serie von Publikationen von Kritikern des NATO-Krieges (Loquai, Lutz/Cremer, Küntzel, Elsässer u.a.), die angesichts der allgemeinen Verdrängung des Themas in der breiten Presse weniger zur Sprache kommen, aber die kritische Diskussion um den Kosovokrieg dominieren und Gegner des NATO-Krieges reichlich mit Argumentationsmaterial ausstatten. Demgegenüber sind die meisten Unterstützer des Regierungskurses bei Detailauseinandersetzungen in der Regel überfordert. Weitestgehend allein gelassen von den rot-grünen Spitzen und der Bundesregierung überwiegt deshalb das Wegducken vor der kritischen Aufarbeitung des Kosovokrieges. Schon jetzt haben die periodisch auftauchenden Zweifel und Vorwürfe zu einer deutlichen Delegitimierung des NATO-Einsatzes und zur Bestätigung seiner Gegner gerade in grün-roten und friedensbewegten Kreisen geführt.

Die verbreitete Haltung, nach dem Alptraum der ersten deutschen Kriegsbeteiligung schnell einen Schlussstrich zu ziehen und nach vorn zu schauen, war angesichts der Anforderungen der Balkanpolitik und der äußersten Beanspruchung durch Regierungs- und Koalitionspraxis naheliegend, erweist sich aber zusehends als kurzsichtig und irrig. Der Kampf um die Interpretation des Krieges und die Kriegsschuld läuft einseitig auf Hochtouren und zersetzt die Glaubwürdigkeit von Rot-Grün in der elementaren Frage von Krieg und Frieden. Das darf nicht weiter hingenommen werden! Dem kann aber nur sinnvoll und wirksam begegnet werden mit rücksichtsloser Aufklärung darüber, was wirklich wa(h)r in und um diesen Krieg, der auch einer um die öffentliche Meinung war.

Die laufende öffentliche Diskussion um Manipulation und Wahrheit beim Kosovokrieg ist in mehrfacher Hinsicht verengt:

  • ¨ Die Kritik fixiert sich auf wenige Komplexe wie Racak, Rambouillet und Annex B, „Hufeisenplan". Damit werden exemplarisch generelle Botschaften transportiert. Vorgeschichte und Gesamtkontext werden in der Regel ausgeblendet und komplexere Realitäten vereinfacht. Dadurch werden sie systematisch falsch bzw. überbewertet, vor allem in ihrer Bedeutung für politische Entscheidungsprozesse von Parlament und Regierung. Racak zum Beispiel wurde höchst gegensätzlich gewertet: die US-Regierung sah darin einen Kriegsgrund, für die europäischen Verbündeten und insbesondere Fischer war Racak ein Anstoß zu verstärkten Verhandlungsbemühungen.
  • ¨ Im Visier stehen einzig und allein Scharping, die Bundesregierung sowie NATO und UCK. Praktisch nicht thematisiert werden die offene und verdeckte Propaganda des früheren serbischen Regimes, das sich durch die Aussperrung internationaler Medien das Bildmonopol über Kosovo und Serbien sicherte, das Verhalten der Medien auch als Wasserträger der Propaganda der Kriegsparteien, verzerrende Darstellungen mancher Kritiker des NATO-Krieges.
  • ¨ Verfasst sind die „Enthüllungen" durchweg von Autoren ohne eigene Regionalerfahrung. General a.D. Loquai, von der Bundesregierung zur OSZE in Wien abgeordnet, war durch Einblick in interne Berichte noch am nächsten am Konflikt. Auffällig ist schließlich die oft einseitige Quellenauswertung, indem nur die NATO und Bundesregierung „belastende", aber nicht „entlastende" Aussagen herangezogen und bewertet wurden.
  • ¨ Sehr verbreitet ist ein "Besserwissen" aus dem Nachhinein, wo die Unsicherheiten der damaligen Informationslage ignoriert, Äußerungen und Entscheidungen aus ihrem Kontext gelöst und mit dem heutigen Kenntnisstand beurteilt werden.
  • ¨ Auf vielen Veranstaltungen erlebte ich inzwischen, wie hoch engagierte kritische Beschäftigung mit dem Kosovokrieg meist einherging mit einem auffälligen Desinteresse gegenüber der Nachkriegsentwicklung im Kosovo und der friedlichen Oktoberrevolution in Serbien.
  • ¨ Insgesamt sind die „Enthüllungspublikationen" vom Duktus und der Beweisführung her oft reine Dokumente der Anklage. Solche sind legitim und notwendig als Anstoß eines Prozesses der Wahrheits- und Urteilsfindung. Kommt die Anklage hingegen als fertiges Urteil daher bzw. wird sie so missverstanden, gerät die vermeintliche Aufklärung zum bloßen Tribunal, in dem nur noch Belege für das fertige Vor-Urteil gesucht werden.

Ein fundiertes Urteil setzt voraus, damalige Äußerungen mit dem damaligen und heutigen Stand der Kenntnisse über den Konfliktverlauf, wie er sich nach Auswertung verschiedenster und vor allem unabhängiger Quellen darstellt, zu konfrontieren. Nur so lässt sich beweiskräftig überprüfen, von wem damals nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit gesagt, von wem wie manipuliert, gelogen wurde oder von wem ohne manipulative Absicht, aber vielleicht fahrlässig Aussagen gemacht wurden, die sich später als falsch oder überzogen darstellten.

Im Folgenden versuche ich zur fundierteren Urteilsfindung beizutragen durch eine teilweise

Überprüfung der Informationspolitik der Bundesregierung 

  • ¨ entlang den Behauptungen des ARD-Beitrages,
  • ¨ an den Reden von Scharping und Fischer zur Konflikt- und Menschenrechtslage vor dem Bundestag und den Stellungnahmen der Bundesregierung in Fraktion und Verteidigungsausschuss,
  • ¨ an den Stellungnahmen der Regierung zur NATO-Kriegführung und zu Kriegsfolgen und -ergebnissen.

Ich stütze mich u. a. auf den 433-Seiten Report der OSZE „Kosovo/Kosova. As Seen, As told" über die Menschenrechtsermittlungen der OSZE Kosovo Verification Mission vom Oktober 1998 bis Juni 1999 (www.osce.org) und den Report der Independent International Commission on Kosovo (IICK), der im Oktober 2000 dem VN-Generalsekretär vorgelegt wurde (www.kosovocommission.org/reports). Die Zusammensetzung der Kommission, ihre Zusammenarbeit mit einer Fülle von Menschenrechtsorganisationen, Institutionen und Regierungen (allein die US- und jugoslawische Regierung verweigerten diese) und die Differenziertheit ihrer Urteile macht diesen Report zu einer besonders wichtigen und unverzichtbaren Beurteilungshilfe. Angesichts der Dominanz akademischer Fernanalysen in der kritischen Auseinandersetzung um den Kosovokonflikt ist es sinnvoll, gerade auch Berichte von Landeskundigen und Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen: des FAZ-Balkan-Korrespondenten Matthias Rüb (Kosovo - Ursachen und Folgen eines Kriegs in Europa, dtv München November 1999), von Beqe Cufaj (Kosova - Rückkehr in ein verwüstetes Land, Wien 2000), von Bardhyl Hoti/Frank Nordhusen (Entkommen - Tagebuch eines Überlebenden aus dem Kosovo, Berlin November 2000).

Zum ARD-Beitrag „Es begann mit einer Lüge"

„Vorlage" des Beitrages Jo Angerer und Matthias Werth ist offenkundig die faktenorientierte Polemik „Kriegsverbrechen - die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Konflikt" von Jürgen Elsässer (tribunal, konkret Verlag, Hamburg 2000). Bei etlichen Friedensgruppen ist der Film inzwischen ein verbreitetes Veranstaltungsmedium geworden. Das „Komitee kritischer Journalistinnen und Journalisten e.V." beurteilte in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Schröder den ARD-Beitrag als „perfekte Dokumentation", die „Scharpings Lügenberichte allesamt an Ort und Stelle überprüft" habe mit dem Ergebnis, dass „Scharpings zu Herzen gehende Berichte über die serbischen Greuel gegen die Albaner im Kosovo vor und zur Zeit des NATO-Krieges allesamt erstunken und erlogen waren."

In einer gemeinsamen Presseerklärung vom 1. März werfen Norbert Blüm, Heiner Geissler, Friedhelm Brebeck (langjähriger ARD-Korrespondent), Donika Gervalla und Rupert Neudeck dem Film Manipulationen und Fälschungen vor und rufen den Deutschen Presserat auf zu überprüfen, wie weit dieser TV-Film „den Kriterien des journalistischen Ethos" entspreche. Matthias Rüb bezeichnete den Film in einem ausführlichen FAZ-Beitrag als „strengen Fall von Bulldozer-Journalismus". (1.3.2001)

(1) (K)eine humanitäre Katastrophe?

Entgegen Scharpings Behauptung von einer humanitären Katastrophe im Kosovo drei Tage nach Beginn der NATO-Luftangriffe behaupten Angerer und Werth unter Bezugnahme auf OSZE, interne Lageberichte des BMVg, Loquai und eine US-Diplomatin, eine humanitäre Katastrophe habe weder bestanden noch gedroht. In Wirklichkeit habe es sich um einen Bürgerkrieg gehandelt, in dem die Gewalt eher von der UCK ausgegangen sei. (vgl. Elsässer S. 37 ff.)

Richtig ist, dass zumindest zeitweilig die Brüche des Waffenstillstandes vor allem von der UCK ausgingen. Die BBC-Dokumentation „Bomben und Moral" (ARD 23.8.2000) konstatiert eine Eskalationsstrategie der UCK, die terroristische Antiterroreinsätze der serbischen Kräfte gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung bewusst einkalkuliert habe, um darüber die NATO zum Eingreifen zu veranlassen.

Unberücksichtigt bleibt, dass lt. UNHCR (Mitte März) seit Januar 1999 150.-200.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden sind. Allein am 15. März während der Pariser Verhandlungen habe es in der Podujere-Region 25-40.000 neue Flüchtlinge gegeben. Am 23. März befanden sich 69.500 kosovo-albanische Flüchtlinge in Anrainerstaaten.

Völlig unerwähnt bzw. im Urteil unberücksichtigt bleibt der Erfahrungs- und Wahrnehmungshintergrund des an Flucht, Vertreibungen und Tötungen „reichen" Jahres 1998: Das UNHCR schätzte im August 1998 ca. 260.000 interne und 200.000 externe Flüchtlinge. Lt. IICK kamen bis September 1998 ca. 1.000 Zivilisten um, lt. Rüb mindestens 2.000 Kosovoalbaner, davon die Hälfte Frauen, Alte, Kinder. Im selben Zeitraum seien nach serbischen Angaben 120 Polizisten umgekommen. Insgesamt seien 450 Dörfer und Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht und mehr als 40.000 Häuser und Wohnungen zerstört worden.

„Wer später behauptet, die Vertreibungen und Massaker im Kosovo hätten erst nach Beginn der Luftangriffe der NATO angefangen, hat den Kriegssommer 1998 entweder vergessen oder verdrängt. Begonnen hatten Krieg, Massaker und systematische Vertreibung im Kosovo gut ein Jahr, bevor die erste Bombe der NATO fiel." (S. 117)

Wendepunkt waren die Ereignisse im Raum Drenica, wo die UCK - bis dahin eher eine „politisch motivierte Terrororganisation" (Erich Reiter, Der Krieg um das Kosovo, Mainz 2000, S. 44) - erstmalig einen größeren Raum kontrollierte und immer mehr zu einer von breiten Bevölkerungsgruppen unterstützten Guerillabewegung wurde. Nach UCK-Überfällen auf serbische Polizeipatrouillen, denen vier Polizisten zum Opfer fielen, führte die serbische Sonderpolizei vom 28.2.-5.3.1998 eine erste größere Operation durch. Dabei wurden mehr als 80 Kosovo-Albaner getötet, unter ihnen viele Frauen, Kinder und alte Menschen. In keiner Weise vereinbar mit legitimer Terrorbekämpfung war die hohe Zahl an unbeteiligten zivilen Opfern und die Anwendung der Sippenhaftung: Alle männlichen Mitglieder zweier führender und der UCK-Unter­stützung verdächtiger Familien wurden erschossen. Parallelen zeigten sich zur frühen Phase des Kriegs in Bosnien, wo Freischärlergruppen „ethnische Säuberungen" einleiteten, indem sie führende Familien, die ie traditionelle Dorfgemeinschaft zusammenhielten, töteten oder verschleppten. (Reiter S. 45)

Rüb berichtet aus Decan mit seinen einstmals 6.000 Einwohnern, das seine „ethnische Säuberung" zehn Monate vor den NATO-Luftangriffen erlebte.

Der VN-Sicherheitsrat verurteilte in mehren Resolutionen das Verhalten beider Seiten, erstmalig am 31.3.1998. In der Resolution 1199 vom 23.9.1998 äußerte der Sicherheitsrat seine ernste Sorge „über die jüngsten heftigen Kämpfe im Kosovo und insbesondere über die exzessive und wahllose Gewaltanwendung seitens der serbischen Sicherheitskräfte und der jugoslawischen Armee, die zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt haben und nach Schätzung des Generalsekretärs die Ursache für die Vertreibung von mehr als 230.000 Menschen waren." Mit „tiefer Sorge" nennt er die „zunehmende Zahl von Binnenvertriebenen (...), von denen nach Schätzung des UNHCR bis zu 50.000 Menschen ohne Unterkunft und andere Mittel zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse sind". Beunruhigt „über die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe" bezeichnet der Sicherheitsrat die Situation im Kosovo als eine „Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in der Region". (Reiter S. 216 f.). Das war der entscheidende sachliche Hintergrund der Bundestagsentscheidung vom 16. Oktober 1998 - unabhängig von der machtpolitischen Erpressungssituation, in der sich Schröder und Fischer noch vor Amtsantritt der neuen rotgrünen Bundesregierung gegenüber den USA befanden.

(2) NS-Vergleiche

Den Scharping-Behauptungen (28.3.99) von einem KZ im Stadion von Pristina, von Lehrererschießungen vor den Augen der Kinder und dem „S" auf serbischen Wohnungstüren widersprechen örtliche Augenzeugen.

Die Bundesregierung hat inzwischen erklärt, keine verifizierbaren Angaben zu einem KZ im Kosovo zu haben. Allerdings erklärten am 1. März Blüm u.a., dass alle Bewohner gewusst hätten, dass „nördlich des Stadions tausende Kosovaren zum Abtransport für den Zug nach Blace/ Mazedonien konzentriert waren." Lt. IICK gehörte zu den Tötungsarten ab Spätmärz 1999 auch die planmäßige Erschießung von Rechtsanwälten, Ärzten, politischen Führern. Der OSZE-Report konstatiert, serbische Häuser seien markiert worden, damit sie nicht Ziel von Angriffen würden.

Ohne Originalzitat, sondern nur indirekt durch die scharfe Verurteilung durch Loquai kommt Fischers angeblicher „Auschwitz-Vergleich" zur Sprache. Diese Methode wird wohl nicht von ungefähr gewählt. Denn ein Fischer-Zitat, das eindeutig und fernsehgeeignet eine Gleichsetzung von Auschwitz und serbischer Politik im Kosovo beinhalten würde, ist schwer beizubringen und mir bisher nicht bekannt.

Dokumentiert sind Fischer-Äußerungen wie „Ich habe nicht nur ´Nie wieder Krieg´ gelernt, sondern auch ´Nie wieder Auschwitz´" (Welt 8.4.1999). Eine solche Formulierung ist sehr interpretationsfähig: Indem sie zugespitzt das Dilemma zwischen Gewaltfreiheit und Schutz gegen schwere Menschenrechtsverletzungen markiert und die Grundforderung "den Anfängen wehren" erhebt, ist sie zutreffend. Indem sie Raum lässt für die Interpretation einer Parallelisierung, ist sie fahrlässig und sachlich falsch. Allerdings hat Fischer in mehreren Interviews klargestellt, dass er „keine Parallelisierung zwischen Auschwitz und den aktuellen Ereignissen" vornehmen wolle. (Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 29.4.1999)

Eine ausdrückliche Parallelisierung formulierte Fischer aber z.B. am 15. April 1999 im Bundestag, wo er von einer „rohen Form von Faschismus" wie in den 30er Jahren sprach. Über die Angemessenheit solcher historischer Bezüge lässt sich wahrhaftig streiten. Sie sind äußerst problematisch, weil sie verkürzte Interpretationen und Assoziationen (Milosevic = Hitler) begünstigen. Sie allerdings als „neue Auschwitzlüge" zu denunzieren und kampagnenmäßig zu attackieren, ist propagandistisch gekonnt, aber auch demagogisch durch und durch. (vgl. die Großanzeige von VVN und Auschwitz-Überlebenden in der FR) Dass VVN und manche andere Kriegsgegner gleichzeitig die deutsche Kriegsbeteiligung in Kontinuität zum Nazi-Krieg gegen Serbien setzten und manche sogar von einem „Vernichtungskrieg" gegen Jugoslawien sprachen, zeigt die Verlogenheit dieser Vorwürfe. (Dokumentation von Peter Gingold und Ulrich Sander/VVN „Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge") Das o.g. Komitee kritischer Journalisten bringt dafür das aktuellste Beispiel: Die Regierung habe den Krieg begründet mit der Verhinderung einer humanitären Katastrophe. „Ähnlich hatte Hitler 1939 den deutschen Überfall auf Polen mit der Sorge um die `armen Volksdeutschen` begründet."

(3) Massaker oder Gefecht in Rogovo?

Laut Scharping (27.3.99) hätten serbische Kräfte am 29. Januar 1999 in Rogovo ein Massaker an unschuldigen Zivilisten verübt. Das illustrierte er mit Fotos. Die Filmautoren behaupten unter Verweis auf einen Lagebericht des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg), einen deutschen Polizeibeamten und OSZE-Beobachter und westliche TV-Aufnahmen, dass es sich nicht um ein Massaker an Zivilisten, sondern ein Gefecht unter Bewaffneten gehandelt habe.

Der umfassende OSZE-Report (S. 184) bestätigt, dass einige der 24 toten Kosovaren Uniformen getragen hätten und bei ihnen Waffen gefunden worden wären. Während es sich nach Darstellung der serbischen Polizei um ein Gefecht mit UCK-Kämpfern gehandelt habe, nachdem diese eine Polizeipatrouille überfallen und einen Polizisten getötet hätten, stellte sich der Sachverhalt nach Aussagen kosovarischer Dorfbewohner komplizierter dar: Demnach sei es abseits der Schießerei mit UCK-Kämpfern zu willkürlichen Erschießungen mehrerer Unbeteiligter gekommen, darunter auch eines Lehrers.

Die Schießerei am 29.1.1999 in Rogovo war weder ein ausschließliches Massaker an Zivilisten noch ein „normales" Bürgerkriegsgefecht, sondern ein Gemenge von Guerilla-Überfall, Aufstandsbekämpfung und Erschießung Unbeteiligter. Dieses Konfliktmuster war mit unterschiedlichen Gewichtungen typisch seit Februar 1998. Die IICK beschreibt es „both as an armed insurgency and counter-insurgency, and as a war (against civilians) of ethnic cleaning".

(4) "Hufeisenplan"

Am 7.4.1999 spricht Scharping erstmalig in der Öffentlichkeit den serbischen „Operationsplan Hufeisen" an, nach dem seit Oktober 1998 die Vertreibung der kosovarischen Bevölkerung vorbereitet und seit Januar 1999 ins Werk gesetzt worden sei. Die Filmautoren behaupten, der Vertreibungsplan sei „schlicht eine Erfindung des deutschen Verteidigungsministeriums". Das in einer Broschüre des BMVg als Beweis für die „planmäßige Vertreibung der Zivilbevölkerung" angeführte Dorf Randubrava sei - so ein Augenzeuge - am 25.3.99 nach den Luftangriffe der NATO auf Befehl der UCK verlassen worden und erst danach von serbischen Kräften beschossen worden. Das zweite „Beweis-Dorf" sei schon im Juni 1998 zerstört worden. General Loquai habe im BMVg von Fachleuten erfahren, dass dort kein Hufeisenplan vorgelegen habe, sondern nur eine Darstellung der Ereignisse im Kosovo.

Richtig ist, dass bisher keine Beweise für die tatsächliche Existenz eines Operationsplanes „Hufeisen" vorgelegt wurden. Vor der Öffentlichkeit (8.4.1999) und im Verteidigungsausschuss berichtete der Generalinspekteur von einer serbisch-jugoslawischen Operation „Hufeisen", über deren Grundzüge Geheimdienstinformationen vorlägen und die sich im aktuellen Vorgehen der serbischen Kräfte zeige. Die Details des Plans seien nicht bekannt. Mit anderen Worten: Dem BMVg lag kein „Hufeisenplan", sondern nur Indizien für einen solchen Plan vor.

Für die Parlamentarier spielte der „Hufeisenplan" eine untergeordnete Rolle, weil sie um seinen Status wussten und die Entscheidungen über die deutsche Beteiligung an den NATO-Luftangriffen lange vorher gefallen war. Eine erheblich größere Bedeutung hatte „er" allerdings für die breite Öffentlichkeit, da er als der Beweis für eine serbische Vertreibungsstrategie gewertet wurde.

Nach Einschätzung der IICK ist bisher ungeklärt, ob ein solcher Plan existierte. Sehr klar sei allerdings, dass es eine vorsätzliche und organisierte Anstrengung gab, einen Großteil der Kosovaren zu vertreiben und dass eine solche massive Operation nicht ohne Planung und Vorbereitung durchgeführt werden kann. Von März bis Juni 1999 seien insgesamt 863.000 Menschen aus dem Kosovo vertrieben worden, 590.000 seien im Land auf der Flucht gewesen. Die Vertreibungen und Deportationen seien geplant und koordiniert gewesen. Während bis März zwei Züge pro Tag mit jeweils drei Waggons von Pristina nach Mazedonien fuhren, waren es ab März zeitweilig drei bis vier zusätzliche Züge mit jeweils 13-20 Waggons. Alle diese Menschen seien von serbischen Kräften zum Verlassen ihrer Häuser gezwungen worden. Nur ein kleiner Teil sei in direkter Folge der NATO-Angriffe geflohen.

Der OSZE-Report schließt aus dem Muster der Massenvertreibung (zwischen 24.3. und 2.4.99 177.500 in Anrainerstaaten und allein am 3.4. weitere 130.000 nach Albanien und Mazedonien), dass diese offensichtlich geplant gewesen seien. Unklar sei aber, ob eine Totalvertreibung, eine Reduzierung der kosovarischen Bevölkerung auf eine „beherrschbare Zahl" oder eine Räumung aller Gebiete mit UCK-Präsenz beabsichtigt gewesen sei. (S. 98 ff.) Die Art und Weise des serbischen Vorgehens zeige, dass es nicht einfach um legitime Aufstandsbekämpfung, sondern um Vertreibung gegangen sei. Anders schildert der OSZE-Report auch den Fall des Dorfes Randubrava: Am 27. März sei serbische Polizei eingerückt, habe die Bevölkerung vertrieben und das Dorf beschossen. (S. 337)

Zusammengefasst:

Die ARD-Dokumentation suggeriert, die humanitären Begründungen für die NATO-Intervention seien manipuliert und erlogen gewesen, es habe weder eine serbische Vertreibungspolitik gegeben, noch habe eine humanitäre Katastrophe gedroht. Der Bundesregierung wird pauschal betrügerischer Vorsatz unterstellt. Um das zu „beweisen", wird äußerst verkürzt und einseitig mit vorhandenen Erkenntnissen umgegangen. Systematisch ausgeblendet wird, dass vor dem Hintergrund der Erfahrungen vor allem des Bosnienkrieges und des Gewaltjahres 1998 und angesichts der Zuspitzungen seit Jahresbeginn 1999 eine Neuauflage der Kämpfe und Vertreibungen des Vorjahres auf einem noch schlimmeren Niveau befürchtet werden musste - und das nach einem Jahr intensiver Versuche der „Staatengemeinschaft", den Konflikt einzudämmen. Die apodiktischen Behauptungen und scharfen Verurteilungen in der „Dokumentation" stehen im krassen Gegensatz zur Selektivität der Urteilsbegründung. Der Film begnügt sich nicht mit einer scharfen Kritik an der Informationspolitik der Bundesregierung. Seine Botschaft läuft faktisch auf eine Leugnung serbischer Kriegsverbrechen und schwerster Menschenrechtsverletzungen hinaus.

 

Neudeck und Rüb verweisen auf die Tatsache, dass der Beitrag inzwischen vielfach vom Belgrader Privatsender YU-Info ausgestrahlt wurde. Dieser wird von der „Jugoslawischen Linken" unter der Milosevic Gattin Mira Markovic kontrolliert und hält dem alten System die Treue.

I. Die Bundesregierung gegenüber dem Parlament über die Menschenrechts- und Konfliktlage

Ausgewertet wurden Bundestagsreden der Minister Fischer und Scharping vom 25. und 26. März, 15. und 22. April, 5. und 7. Mai 1999 sowie Stellungnahmen der Bundesregierung vor dem Verteidigungsausschuss und in der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen zwischen Oktober 1998 und April 1999 nach meinen persönlichen Aufzeichnungen.

Die im Bundestag von Fischer und Scharping vorgebrachten Tatsachenbehauptungen werden durch die o.g. unabhängigen Berichte überwiegend bestätigt. Allerdings sind die am 25. März und 15. April von Scharping genannten Flüchtlingszahlen überzogen - ca. 535.000 externe Flüchtlinge laut UNHCR statt 900.000 lt. Scharping. In derselben Bundestagssitzung berichtet er von besonderen Brutalitäten: Leichen seien mit Baseballschlägern zertrümmert, Köpfe abgeschlagen worden. Bei beiden Ministern spielen die bisherigen Erfahrungen mit den früheren Balkankriegen, insbesondere dem Bosnienkrieg und seinen 200.000 Toten, der großserbischen Politik Milosevic und seiner Vertragsuntreue, den Fehlern der internationalen Staatengemeinschaft sowie der Konfliktverlauf von 1998 eine hervorragende Rolle. Von der UCK und ihrer provozierenden Rolle in der Konfliktentwicklung ist keine Rede. Die Schuldzuweisung ist schwarz - weiß.

Gegenüber der Presse griffen Vertreter der Bundesregierung und insbesondere Scharping streckenweise zu einem rhetorischen und moralischen overkill. Bezüge zum Nationalsozialismus werden im Parlament wenig hergestellt: Scharping spricht einmal von der „Fratze der Kriege der ersten Jahrhunderthälfte" (25.3.99), Fischer einmal von einer „rohen Form von Faschismus", der darauf setze, „dass das eigene Volk das wichtigste ist und deswegen andere Völker vertrieben, unterdrückt und massakriert werden dürfen." (15.4.99) Fischers Grundmotiv ist die Gegenüberstellung des „Europas der Integration und der Menschenrechte" und des „Europas des Nationalismus und der Gewalt", des Europas der Zukunft und der Vergangenheit.

Im Verteidigungsausschuss und in der Fraktion war die Konfliktdarstellung mehr von aktuellen Fakten bestimmt und differenzierter. Die Rolle der UCK wurde nüchtern dargestellt. Schon am 18.11.1999 war von einer Zunahme der Auseinandersetzungen zwischen serbischen Kräften und UCK die Rede. Die UCK zeige ein zunehmend aggressives Verhalten. Sie erhalte neue Waffen, Fernmeldemittel und Uniformen vor allem aus dem Norden Albaniens und auch aus den albanischen Streitkräften. Man versuche auf beide Seiten und insbesondere die kosovo-albanische Seite mäßigend einzuwirken. Angesichts des in der UCK verbreiteten warlord-Systems sei das aber nur begrenzt möglich. Den starken Geldzufluss an die UCK aus Deutschland wolle man über die Innenministerkonferenz beschneiden. Das sei wegen anderer Firmierung der Spendensammlungen juristisch schwierig. Bayern habe aber schon entsprechende Konsequenzen gezogen.  Im Parlamentsinfo des BMVg 48/98 wurde die Einschätzung von SACEUR (NATO-Oberkommando Europa) wiedergegeben, dass es ein Zeitfenster von zwei bis vier Monaten für eine politische Lösung gebe. Sonst werde die Wiederaufnahme der Kämpfe im Frühjahr unausweichlich.

Am 19.1.1999, also vier Tage nach Racak, sprach Fischer in der Fraktion von einer dramatischen Zuspitzung. Beide Seiten würden Extremforderungen vertreten und seien der Kriegslogik verhaftet. Am 21.1.1999 konstatierte er in einem persönlichen Gespräch, dass sich die Lage in Richtung einer Bosnien-Situation entwickle. Die USA tendierten zu unilateralem Vorgehen. Was käme aber nach Luftschlägen? Das Beispiel des Irak zeige die Fragwürdigkeit eines solchen Vorgehens. Notwendig sei eine Gesamtregelung für den Kosovo und den Balkan. Auf allerhöchster Ebene von Kontaktgruppe und VN-Sicherheitsrat müsse auf eine Kosovo-Konferenz mit allen Parteien hingewirkt werden.

Am 17.3.1999 heißt es, die jugoslawischen Streitkräfte würden vermehrt die serbischen Sicherheitskräfte durch den Einsatz schwerer Waffen unterstützen. Personal der KVM werde zunehmend von Angehörigen der serbischen Kräfte und der serbischen Bevölkerung verbal und vereinzelt durch körperliche Gewalt bedroht. Das AA berichtet, es komme immer wieder zu einem bestimmten Verhaltensmuster, wo die UCK provoziere und serbische Kräfte mit unverhältnismäßigen Mitteln zurückschlügen. Dadurch bestehe die Gefahr einer Eskalation. Eine humanitäre Katastrophe könne unmittelbar bevorstehen. Ich zitiere die letzten drei Lageberichte des BMVg wonach Provokationen vor Ort im wesentlichen von der UCK ausgingen.

Am 24.3.1999 heißt es, nach Angaben des UNHCR befänden sich zurzeit mindestens 250.000 Menschen auf der Flucht, am letzten Wochenende sei ihre Zahl um 20.000 gestiegen. Nach letzten OSZE-Beobachtungen habe die jugoslawische Armee die festgelegten Obergrenzen weit überschritten und mit Aktionen begonnen, die man als „abschnittsweise Säuberung" des Kosovo bezeichnen müsse.

Am 29.3.1999 werden Erkenntnisse über Misshandlungen, Massaker und Vertreibungsaktivitäten vorgetragen. Die jugoslawischen Kräfte verfolgten eine Taktik der verbrannten Erde, die bewusst auf die Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung ausgerichtet zu sein scheint. Gezielt werde Jagd auf ihre politische und intellektuelle Führungsschicht gemacht. Meldungen über Massenhinrichtungen häuften sich, seien aber nicht verifiziert.

Am 14.4.1999 wird von einem Schema berichtet, nach dem jugoslawische Einheiten Dörfer umstellten, die Bewohner auf Plätzen zusammentrieben und Identitätsnachweise vernichteten. Häuser würden geplündert und in Brand gesteckt. Die Zahlen zu den Flüchtlingen seien höchst unsicher und schwankend. Von 250.000 bis 400.000 Binnenvertriebenen sei die Rede.

II. Die Bundesregierung zur NATO-Kriegführung, ihren Folgen und Ergebnissen

Im Laufe des Krieges verschlechterte sich die Informationslage des Parlaments zusehends. „Ob die NATO nach inzwischen mehr als zehn Wochen Luftangriffen den serbischen Gewalt- und Machtapparat tatsächlich geschwächt hatte, ob dieser kurz vor dem Auseinanderbrechen stand oder weitgehend unbeeindruckt blieb, konnte ic auch als Mitglied des Verteidigungsausschusses nicht fundiert beurteilen. Die Hinweise auf die beschränkte Bewegungsfreiheit der serbischen Armee, ihre Nachschub- und Rekrutierungsprobleme sowie hohe Desertionsraten wurden uns Woche für Woche präsentiert. Sie änderten aber kaum etwas an unserer erschreckenden Uninformiertheit." (W. Nachtwei: Widersprüche, Glaubwürdigkeitslücken und Verantwortung - die Grünen zwischen Antikriegsprotest und Kriegsbeteiligung, Juni 1999)

Als der Verdacht aufkam, dass uranabgereicherte Munition verwandt wurde, reagierte das Ministerium auf unsere Fragen ab April 1999 zunächst äußerst schleppend und lakonisch mit dem Hinweis, die Bundeswehr setze solche Munition nicht ein und über ihre Verwendung durch die USA wisse man nichts. Aus der militärischen Führung der Bundeswehr erfuhren wir gleichzeitig, dass man sehr wohl über differenziertere Erkenntnisse verfügte.

Interne Fragen zur Kriegführung, Zielauswahl etc. wurden unzureichend beantwortet. Insgesamt empfand ich beim Ministerium eine Mischung von tatsächlicher Unwissenheit, die aus dem unpartnerschaftlichen Macht- und Informationsgefälle in der NATO resultierte, und eine Haltung des Nichtwissenwollen gerade gegenüber den Alliierten.

Nachträglich stellte sich heraus, dass die militärische Wirksamkeit der NATO-Luftangriffe gegenüber den serbischen Kräften auch im Verteidigungsausschuss völlig übertrieben dargestellt worden, dass ihre katastrophalen Wirkungslosigkeit gegenüber den serbischen Vertreibungskräften beschönigt worden war. Ob dies nach „bestem" Wissen und Gewissen oder bewusst geschah, kann ich nicht beurteilen.

Im Unterschied zu etlichen anderen NATO-Staaten begnügte sich die Bundesregierung mit einer nur partiellen Auswertung des Krieges und sperrte sich bisher gegen eine umfassende (selbst-)kritisch Bilanz des Krieges, insbesondere seiner verschiedenen Folgen und Ergebnisse. In einer Auswertungsbroschüre des BMVg heißt es lapidar, die humanitäre Katastrophe sei beendet worden. Dass das erste Ziel, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, völlig verfehlt wurde, war nicht der Erwähnung wert. In Kürze wird die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der PDS zum Kosovokrieg erscheinen. Es ist zu hoffen, dass dann endlich geleistet wird, was bisher versäumt wurde.

Eine gut recherchierte Zusammenstellung der unmittelbaren Kriegsfolgen beinhaltet der IICK-Report: Nach Auswertung der Zählungen und Schätzungen verschiedener Organisationen kommt die IICK zu der Schlussfolgerung, zwischen 24. März und 19. Juni 1999 seien im Kosovo ca. 10.000 Menschen getötet worden, der weitaus größte Teil von ihnen Kosovo-Albaner, die serbischen Kräften zum Opfer gefallen seien. Zu besonders vielen Tötungen sei es im Spätmärz und Mitte April gekommen. Dabei seien Dorfbewohner und Familienangehörige „exemplarisch" exekutiert worden. Männer wurden separiert und erschossen, ebenfalls prominentere Kosovo-Albaner. Massengräber seien zum Teil zerstört worden.

Zwischen März und Juni 1999 gab es 590.000 interne und 863.000 externe Flüchtlinge/Vertriebene. Die Flüchtlingszahlen explodierten regelrecht bis Anfang April. Die serbischen Kräfte hätten laut Rüb zehntausende Häuser, Höfe und Wohnungen geplündert und zerstört. Der IICK-Report berichtet auch von der Zerstörung von ca. hundert Hospitälern und Apotheken. Die NATO-Luftschläge hätten die Angriffe auf die kosovarische Zivilbevölkerung nicht provoziert. Sie hätten aber ein Umfeld geschaffen, das eine solche Operation durchführbar machte. Angesichts der Vorgehensweise der serbischen Kräfte weist IICK darauf hin, dass nur ein kleiner Teil der Menschen in direkter Folge der NATO-Bomben geflohen sei.

Die insgesamt 10.484 Kampfeinsätze der NATO-Luftwaffen hätten nur relativ „geringe Wirkung" bei der jugoslawischen Armee gehabt. Nach jugoslawischen Quellen seien ca. 600 jugoslawische Soldaten getötet worden, davon 300 im Kampf mit der UCK. (Rüb nennt bis 5.000 durch Luftangriffe getötete jugoslawisch/serbische Soldaten, Polizisten, Paramilitärs nach NATO-Angaben.) Lt. Human Right Watch seien in 90 Vorfällen ca. 500 Zivilisten den NATO-Angriffen zum Opfer gefallen. Das jugoslawische Außenministerium meldete 495 zivile Tote und 820 Verletzte.

Die NATO habe 59 Brücken, 9 größere Straßen, 7 Flugplätze und die meisten Telekommunikations-Übertragungseinrichtungen zerstört. Zwei Drittel der großen Industriebetriebe seien nahezu zerstört worden. 70% der Stromversorgung und 80% der Ölraffineriekapazität wurden ausgeschaltet. Die ökologischen Folgen wurden von der Balkan Task Force der UNEP untersucht. Demnach gab es in Pancevo, Novi Sad und anderen Orten lokal begrenzte schwere Umweltschäden. Dabei war nicht immer klar, was davon durch eine Vernachlässigung der Umwelt in der Vorkriegszeit verursacht worden war.

Spekulativ, aber nichts desto weniger wichtig, ist die Überlegung, welche Folgen ein militärisches Nicht-Eingreifen der NATO im März 1999 gehabt hätte - hinsichtlich der Eskalation von bewaffneten Kämpfen, Vertreibung und Flucht im Kosovo, des Flüchtlingszustroms in die Anrainerstaaten, einer zunehmenden Destabilisierung der ganzen Region, der Autorität der "Staatengemeinschaft" in Gestalt von VN, OSZE, NATO, EU usw..

Schon dieser kurze Überblick bekräftigt erneut unsere Schlussfolgerung, das der Kosovokrieg in jeder Hinsicht ein abschreckendes Beispiel ist und in keiner Weise Modell sein kann.

Schlussfolgerung

In der Bundesrepublik ist der Kosovo-Krieg und die deutsche Beteiligung daran, höchst unzureichend aufbereitet worden. Das gilt für alle Seiten.

Gerade angesichts des hohen moralischen Anspruchs der Kriegsbeteiligung müsste seine kritische Überprüfung und Aufbereitung selbstverständlich sein. Sie wird um so dringlicher, als die Zweifel an diesem Krieg, an seiner Legitimität, Legalität, seiner Durchführung und seinen Wirkungen keineswegs ausgeräumt sind. Sie ist unumgänglich, wenn der friedenspolitische Anspruch von Rotgrün nicht hohl sein soll. Untauglich zur Wahrheitsfindung sind Tribunale und Filme wie der WDR-Beitrag.

Notwendig ist die Berufung einer unabhängigen und hochrangigen Kommission zur Überprüfung des Kosovo-Krieges und der deutschen Beteiligung daran.

Bisher vorliegende Untersuchungsberichte der OSZE, der IICK, des britischen Parlaments und der NATO-Parlamentarierversammlung können ihre Arbeit erleichtern, aber keineswegs überflüssig machen.

Hinweis:

Weitere persönliche Stellungnahmen zur Beteiligung am Kosovo-Krieg, aber auch zu den bisherigen friedenspolitischen Konsequenzen (z. B. meine Übersicht „Gewaltvorbeugung konkret: Unterstützung internationaler Maßnahmen der Krisenprävention und Friedenserhaltung durch die Bundesregierung") finden sich auf meiner Homepage (www.nachtwei.de).

Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

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Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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