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Sicherheitspolitik und Bundeswehr + Bericht von Winfried Nachtwei
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Sicherheitspolitisches Desinteresse und notwendige Debatte

Veröffentlicht von: Webmaster am 26. Oktober 2005 08:21:18 +01:00 (46061 Aufrufe)
Bundespräsident Horst Köhler sprach am 10. Oktober 2005 auf der 40. Kommandeurtagung der Bundeswehr in Bonn. Als Zuhörer der Rede wandte sich Winfried Nachtwei in einem Brief an den Bundespräsidenten, der jetzt antwortete.
Die Antwort des Bundespräsidenten vom 25. Oktober

„Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

für die Übersendung Ihrer Anmerkungen zu meiner Rede anlässlich der 40. Kommandeurtagung der Bundeswehr am 10. Oktober in Bonn danke ich Ihnen.

Ihre Ausarbeitungen zu diesem Thema habe ich mit großem Interesse gelesen. Ich möchte Sie darin bestärken, weiter mit großem Nachdruck in den parlamentarischen Gremien die erforderlichen Impulse zu geben, um eine breite Diskussion zum Thema Bundeswehr und Gesellschaft auszulösen. (…)“

Der Brief an den Bundespräsidenten

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,                                                   Berlin, 14. Oktober 2005

für Ihre Rede bei der 40. Kommandeurtagung der Bundeswehr in „unserem“ ehemaligen Plenarsaal in Bonn möchte ich Ihnen sehr danken.

Ich tue das als jemand, der seit Anfang der 80er Jahre in der Friedensbewegung aktiv war, der seit 1994 alle Bundestagsentscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr intensiv mit beraten und der den Streit um den Auftragwandel der Bundeswehr ganz vorne ausgefochten hat.

Es geht nicht darum, dass ich mit allen Ihren Wertungen übereinstimmen würde.

Danken möchte ich Ihnen für zwei wesentliche Botschaften, die Sie vor allem an das Parlament, die Bundesregierung und die Parteien richten:  

  • Ihr Aufruf zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte über Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik;
  • Ihre Aufforderung zu einem außen- und sicherheitspolitischen Gesamtkonzept. 

Das „freundliche Desinteresse“ gegenüber der Bundeswehr erlebe auch ich – allerdings als Teil eines sinkenden außen- und sicherheitspolitischen Interesses insgesamt. Krass trat dies während des Bundestagswahlkampfes zutage, als Außen- und Sicherheitspolitik in der öffentlichen Auseinandersetzung praktisch keine Rolle spielte. Irritierend wird es deutlich im Hinblick auf die Transformation der Bundeswehr, die hiermit ihren radikalsten Umbau seit ihrer Gründung erlebt. Fragen von Krieg und Frieden sind fundamental und können über den Ausgang von Wahlen entscheiden. Wenn es aber um die strategische und politisch-praktische Klärung des Verhältnisses der deutschen Gesellschaft und Politik zu Krieg und Frieden geht, bleibt es ein Thema der Fachzirkel.

Ihr Vorgänger im Amt, Bundespräsident Johannes Rau rief in seiner Rede vor der 38. Kommandeurtagung am 14. November 2000 in Leipzig zu einer breiten Diskussion über Fragen deutscher und europäischer Sicherheitspolitik auf. In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen für eine breite gesellschaftliche Debatte - und Verständigung - zur Außen- und Sicherheitspolitik. Auch ich dränge darauf bei jedem meiner Vorträge. Die Rufe nach einer klärenden Debatte werden aber so lange folgenlos verhallen, wie wir nicht Hemmnisse und Widerstände identifizieren und angehen.

Als Hemmnisse und Widerstände erfahre ich:

  • Zuerst und am naheliegendsten die geschrumpfte persönliche Betroffenheit. Heutige Sicherheitsrisiken sind diffus, zunächst weiter entfernt und werden kaum noch als Bedrohung wahrgenommen. Die Bundeswehr hat viele Standorte aufgegeben und die Zahl der Einberufungen zum Wehrdienst enorm reduziert. Dadurch ist die Bundeswehr immer weniger sichtbar und spürbar. Auch konservativere und traditionell militärnähere Bevölkerungskreise sind längst von diesem Desinteresse erfasst.
  • Anfangsbefürchtungen hinsichtlich der Auslandseinsätze haben sich nicht bestätigt. Die Masse der Einsätze haben ein eher positives Image, sind weit weg und kaum strittig.
  • In meinem politischen Spektrum kommt ein Vermeidungsmotiv hinzu: Was uns mehrere existenzielle Auseinandersetzungen gekostet und Wunden hinterlassen hat, ist bei nicht wenigen zu einem verdrängten Konflikt geworden. Daran ändert auch unsere programmatische Aufarbeitung kaum etwas.
  • Erfahrungen mit und Einstellungen zum Militär entwickeln sich immer mehr auseinander: In der Wahrnehmung und den Einstellungen breiter Bevölkerungs-, Journalisten- und Politikerkreise dominiert noch das alte Bild vom Militär. Erfahrungen mit der „neuen“ (UN) Bundeswehr, ihren Friedenseinsätzen, ihrem grundlegend erweiterten Anforderungsprofil haben nur relativ wenige. Wer versteht schon, wie Bundeswehr im Rahmen von ISAF militärische Schwäche durch kluge Einsatztaktik in politische Stärke verwandelt und dadurch am besten zur Friedenskonsolidierung beträgt. In der ARD-Dokumentation von Ulrich Wickert zu 50 Jahren Bundeswehr wurde diese Ungleichzeitigkeit der Militärbilder besonders deutlich.
  • Auf Seiten der Exekutive dominieren das Interesse an der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfreiheit und der Vorrang internationaler Verpflichtungen – z.T. verbunden mit einem Misstrauen gegenüber der sicherheitspolitischen Urteilskraft der Fraktionen. Gute Gelegenheiten zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte wurden regelmäßig nicht wahrgenommen – anlässlich des Berichts der Weizsäcker-Kommission in 2000 oder der Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003. Die Bundesregierung begnügte sich mit ad-hoc-Entscheidungen und –Diskussionen um die Weiterentwicklung der deutschen Sicherheitspolitik. Das ist die eine Seite des Demokratiedefizits  in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
  • Die andere Seite des Demokratiedefizits ist das beziehungslose Nebeneinander, ja die teilweise Auseinanderentwicklung der Kreise mit außen-, sicherheits- und friedenspolitischem Interesse und Kompetenz. Zu Zeiten der großen Friedensbewegung in den 80er Jahren gab es bei aller Konfrontation verbreitetes Interesse aneinander. Heute ist die geschrumpfte Friedensbewegung marginalisiert, zu Teilen zurückentwickelt auf antimilitärische Fundamentalpositionen, nur z.T. weiterentwickelt zu konstruktiver und professioneller Friedensarbeit und -lobby.
  • Schließlich die Sprache: Schon im Bundestag erreichen die Sicherheits- und Verteidigungspolitiker kaum noch ihre anderen Kollegen. Die ständige Betonung von Kontinuität und Konsens bedeutet Konfliktvermeidung und lähmt eher die Debattenfreude statt sie zu beflügeln.
  • Hervorragende Chancen für breitere Erfahrungs-, Lern- und Diskussionsprozesse werden völlig unzureichend genutzt: Nach mehr als zehn Jahren Kriseneinsätzen haben wir in Deutschland unter Soldaten, Polizisten, Diplomaten, zivilen Helfern und Friedensfachkräften ein enormes Erfahrungspotenzial. Das bleibt weitestgehend ungenutzt.
  • Noch mehr als die militärische Seite der Außen- und Sicherheitspolitik leidet ihre zivile Dimension unter Nichtbeachtung, Desinteresse und medialer „Unsichtbarkeit“. Wo die Auslandseinsätze wenigstens durch den Parlamentsvorbehalt immer wieder zu einem politischen Thema werden, finden die – hervorragenden – Auslandseinsätze deutscher Polizisten und das ganze Feld der zivilen Krisenprävention und Friedenskonsolidierung nur marginale Beachtung. Es ist strukturell besonders schwer vermittelbar. Friedensförderung und zivile Konfliktlösung sind unspektakulär. Ihre Erfolge sind nicht sichtbar und kaum beweisbar. Mit dem Peace-Counts-Project wurden wohl Fortschritte hin zu einer Friedensberichterstattung erzielt, aber noch längst kein Durchbruch.

Die breite gesellschaftliche Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik ist nichts desto weniger überfällig.

Damit diese möglich wird, sind zuerst Parlament, Bundesregierung und Parteien in der Pflicht, Beiträge zu einer außen- und sicherheitspolitischen Gesamtkonzeption zur Diskussion – und nicht sofort zur Abstimmung – zu stellen. Schlüsselfragen wie nach der Rolle des Militärs in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, seiner Leistungsfähigkeiten und Grenzen, nach dem Verhältnis von kollektiven und deutschen Sicherheitsinteressen etc. sind offen zu stellen und nicht zu verkleistern.

Notwendig ist die Mobilisierung der vielen Erfahrungspotenziale in der Gesellschaft und eine Vernetzung derjenigen Gruppen, Institutionen etc., denen an einer Verständigung über deutsche Außen- und Sicherheitspolitik gelegen ist. Die jüngsten Kontroversen zur zivil-militärischen Zusammenarbeit können hierfür Ansatzpunkte bieten.

Aus meiner elfjährigen Erfahrung mit deutscher Beteiligung an multilateralen Krisenengagements kann ich Ihr Votum für mehr Kohärenz nur voll und ganz unterstützen. Ich habe reichlich das Neben- und zum Teil Gegeneinander verschiedenster Akteure und Ressorts erlebt. Die Märzunruhen im Kosovo wurden im Bundestag praktisch nur vom Verteidigungsausschuss – und damit selbstverständlich beschränkt – aufgearbeitet. Gute Schritte zur Kohärenzförderung sind getan: mit dem Zentrum Internationale Friedenseinsätze, mit der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, mit dem Aktionsplan Krisenprävention. Nächste größere Schritte sind notwendig in der Zusammenarbeit der Parlamentsausschüsse, in der Organisation der Bundesregierung, in der konzeptionellen Zusammenschau.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

ich erlaube mir, Ihnen Ausarbeitungen von mir zu dieser Thematik beizulegen. Es sind Stellungnahmen und Berichte, die zunächst vor allem für meine FraktionskollegInnen gedacht sind, über E-Mail-Verteiler und meine Homepage aber regelmäßig einen breiteren Kreis von Interessierten erreichen.                

Das sind meine bescheidenen Versuche, Transparenz und Interesse auf dem Feld einer Außen- und Sicherheitspolitik zu fördern, die Friedenspolitik sein soll.

Mit besten Grüßen
verbleibe ich

Ihr
Winfried Nachtwei


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch