Zur Erhöhung der Obergrenze des deutschen ISAF-Kontingents: Kein Signal für einen ausgewogenen Strategiewechsel
Winfried Nachtwei, MdB, Juni 2008
Nach monatelangen Gerüchten gaben die Minister Jung und Steinmeier am 24. Juni die Absicht der Bundesregierung bekannt, die Obergrenze des deutschen ISAF-Kontingents in Afghanistan im Oktober von bisher 3.500 auf 4.500 zu erhöhen. Die Obergrenze des deutschen OEF-Anteils soll von 1.400 auf 800 abgesenkt werden.
1. Die Heraufsetzung der Obergrenze ist im Hinblick auf die Bundeswehraufgaben im Norden militärisch begründet und nachvollziehbar. Politisch geht von diesem Schritt angesichts des schleppenden Aufbaus zugleich ein politisch brisantes und schräges Signal aus. Im Oktober haben wir im Bundestag bei der Mandatsentscheidung zu bewerten, wieweit die Afghanistanpolitik der Bundesregierung den längst nicht nur von den Grünen geforderten Strategiewechsel für sich realisiert und insgesamt voranbringt.
2. Zu den Gründen der Heraufsetzung der Obergrenze:
Auch mit der Aufstockung ist die ISAF-Präsenz in der Region Nord mit ca. 5.000 Soldaten auf 1.200 x 400 km schwierigem Gelände und 40% der afg. Bevölkerung vergleichsweise sehr dünn. Der Operationsraum der gegenwärtigen Sicherungsoperation „Dreieck" zwischen Kunduz - Pul-i Khomri - Aybak am Nordhang des Hindukusch ist so groß wie der Kosovo!
3. Einsatzraum: Es bleibt bei dem jetzigen Einsatzraum Region Nord und Kabul. Eine Ausweitung im Nordwesten in die Provinz Badghis und den Problemdistrikt Ghowmach, wo im letzten Herbst „Harekate Yolo II" und kürzlich „Karez" stattfanden, soll es nicht geben.
Die seit 2005 geltende Klausel gilt weiter, wonach dt. Streitkräfte außerhalb Kabul und Region Nord für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen eingesetzt werden können, „sofern die Unterstützungsmaßnahmen zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar sind."
Diese Regel war im Fall der 38 dt. Fernmeldesoldaten in Kandahar seit geraumer Zeit überdehnt worden. Nachdem die Firma Thales bisher kein Kommunikationsnetz aufbauen konnte, musste diese Funktion von Seiten der NATO mit einer Zwischenlösung durch die beiden „NATO Signal Battailons" (NSB) in Maastricht und Neapel bereitgestellt werden. Das 1. NSB besteht aus einem britischen, einem dänischen und vier deutschen Modulen mit je 60 Soldaten. Die Entsendung dieser NATO-Einheiten mit dt. Soldaten soll nun regulär ins Mandat aufgenommen werden.
4. Einsatzregeln: Unverändert betont zurückhaltend. Kein Gewalteinsatz, wenn Angreifer erkennbar vom Angriff abgelassen haben und auf der Flucht sind. Dem erheblichen Druck auf Lockerung der Regel wurde bisher nicht nachgegeben.
5. Bei OEF werden die überdimensionierten Obergrenzen der ersten Jahre weiter runter gefahren. Zugleich hält die Bundesregierung stur an der Beteiligung an einer Operation fest, die sieben Jahre nach dem 11. September längst nicht mehr mit Verteidigung zu rechtfertigen sind und die sich in ihrer Anti-Terrorkomponente immer wieder außerhalb des humanitären Völkerrechts stellt. Bis heute ignoriert die Bundesregierung unsere seit Jahren erhobene Forderung, endlich zur (kontraproduktiven) Wirkung dieser Operation Stellung zu nehmen. Insofern verweigert sie die einfachsten Voraussetzungen für eine seriöse Parlamentsbeteiligung.
6. Politisch ist die Aufstockung in zweifacher Hinsicht schräg und brisant:
6.1. Sie geht nicht einher mit der allseits geforderten größeren Anstrengung beim zivilen und polizeilichen Aufbau. Die Schere zwischen militärischer Friedenssicherung und zivilem Wiederaufbau geht weiter auseinander. Ein Signal für einen ausgewogenen Strategiewechsel ist das nicht. Auch die Pariser Afghanistan-Konferenz hat hier nicht die notwendigen Fortschritte gebracht - weder im Hinblick auf eine kritische Bilanz noch im Hinblick auf mehr Kohärenz. Insbesondere der Polizeiaufbau dümpelt dahin. Außer Ankündigungen ist hier viel zu wenig passiert. Insofern gibt es statt der dringenden Ausgewogenheit im deutschen militärisch-zivilen Engagement mehr Unausgewogenheit. Die Regierungserklärung von Außenminister Steinmeier am 25. Juni zum zivilen Aufbau und zur Paris-Konferenz hat die Unausgewogenheit nicht korrigiert.
6.2. Seit dem ersten Bundestagsbeschluss vom 22.12.2001 wird jetzt der Einsatz zum 6. Mal ausgeweitet. Damit wachsen Befürchtungen, die Bundesrepublik gerate immer tiefer in den Afghanistankonflikt. Historische Assoziationen liegen da nahe. Solche Befürchtungen sind nach aller kriegsgeschichtlichen Erfahrung keineswegs unbegründet.
Eine verantwortliche Afghanistanpolitik braucht dringend eine ehrliche - und unabhängige - Bestandsaufnahme und realistische, überprüfbare Ziele. Nur auf ihrer Grundlage kann eine Wende zum Besseren geschafft werden und kann die deutsche Afghanistanpolitik Glaubwürdigkeit und Akzeptanz zurückgewinnen.
Exkurs:
- Im Dez. 2002 Aufstockung des dt. Kontingents von 1.200 auf 2.250 im Hinblick auf die Übernahme der ISAF-Führung in 2003 durch den Stab des Dt.-Ndl. Korps. Mitte 2003 stellt Deutschland von den insgesamt 5.400 ISAF-Soldaten im Raum Kabul 2.300, NL 570, FR 500, IT 270, TÜR 110. Die USA beteiligen sich gar nicht an ISAF, andere NATO-Verbündete reduzieren in AFG wegen des Irakkrieges. Zum Vergleich: KFOR umfasste in der Startphase 60.000, SFOR 40.000.
- Im Okt. 2003 Ausweitung des Einsatzraumes Richtung Norden, bis zu 450 Soldaten für das PRT Kunduz. Im Juni war der Aufruf von 79 internationalen NGO`s vorausgegangen, ISAF solle unter NATO-Führung auf das ganze Land ausgeweitet werden. Das hätte bei ca. 500 Soldaten für jede der 12 größeren Städte landesweit plus 10.000 Soldaten bedeutet. Das war international nicht machbar.
- Im Sept. 2005 Aufstockung auf 3.000 mit der o.g. Ausnahmeklausel für andere Regionen. (In 2005 war die Westerweiterung von ISAF erfolgt. Im September 2005 umfasst ISAF ca. 9.000 Soldaten aus 36 Ländern.) Im Juni 2006 übernimmt Deutschland das neu gebildete Regional Command North in Mazar und damit die militärische Führungsverantwortung und logistische Hauptrolle für die ganze Nordregion. Die Masse des dt. Kontingents verlegt von Kabul in den Norden. Im Juli ISAF-Süd-Erweiterung: Wider Erwarten geraten die Kanadier in Kandahar, die Briten in Helmand und die Niederländer z.T.in Uruzgan in heftige Kämpfe. ISAF und NATO stehen erstmals in ihrer Geschichte in opferreichen Bodenkämpfen. Im November 2006 umfasst ISAF 31.500 Soldaren aus 37 Nationen.)
- Im März 2007 Zusatzmandat für Aufklärungs-Tornados mit bis zu 500 Mann. Im Oktober Aufnahme der Tornados in das ISAF-Gesamt-Mandat von 3.500. (ISAF-Umfang im Okt. 2007 35.000)
- Ab 1. Juli Übernahme der Quick Reaction Force für die Region Nord durch Deutschland.
- Im Oktober 2008 Aufstockung um 1.000 auf 4.500. (ISAF-Umfang im Juni 2008 ca. 50.000)
Zum quantitativen Vergleich: In Vietnam hatten die USA 1962 700 Militärberater, 1963 17.000 Soldaten, 1965 184.000, Ende 1967 485.000 (plus 50.000 südkoreanische Soldaten + 800.000 südvietnamesische Soldaten bei > 10% Desertion) gegenüber 120.000 Guerillas + > 200.000 nordvietnamesischen Soldaten im Süden, 1972 39.000 US-Soldaten.
In Afghanistan hatte die Sowjetunion bis zu 130.000 Soldaten.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: