Deutscher Bundestag Drucksache 16/10256
16. Wahlperiode 17. 09. 2008
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Kai Gehring, Winfried Nachtwei, Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, Grietje Staffelt (Flensburg), Marieluise Beck (Bremen), Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auswirkungen von Wehr- und Zivildienst
Nach der aktuellen Studie des Helsinki Center of Economic Research (HECER) hat die Wehrpflicht einen deutlich negativen Einfluss auf die volkswirtschaftliche Entwicklung eines Landes: jor OECD countries, we show that military conscription indeed has a statistically significant negative impact on economic performance.", zitiert nach HECER, Military Draft and Economic Growth in OECD Countries, 2008. Einen Viertel Prozentpunkt des Wirtschaftswachstums koste die Wehrpflicht jährlich eine entwickelte Volkswirtschaft. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam bereits 2004 das DIW: „Aus ökonomischer Sicht ist eine Berufsarmee einer Wehrpflichtarmee vorzuziehen." (Wochenbericht des DIW Berlin 4/04).
Die Wehrpflicht und der aus ihr abgeleitete Zivildienst stellen einen gravierenden Einschnitt in die Bildungs- und Erwerbsbiographien junger Männer dar. Wehr- und Zivildienstleistende sind gegenüber der großen Zahl derer, die ausgemustert werden, benachteiligt. Laut HECER-Studie entstehen ihnen und auch der gesamten Volkswirtschaft materielle Verluste und Nachteile. Den Pflichtdienstleistenden gehe zum Beispiel ein in der Regel hohes letztes Jahresgehalt verloren und sie haben auf das Leben hochgerechnet niedrigere Einkommen. Die Volkswirtschaft verzichte damit auf Kaufkraft, Steuern und Sozialabgaben.
Die Zahl der Wehrdienstleistenden ist in den letzten 15 Jahren um nahezu Dreiviertel gesunken. Die allgemeine Wehrpflicht wird in Deutschland überwiegend von Kriegsdienstverweigerern erfüllt und ist durch die Einberufungspraxis der Bundesregierung zu einer allgemeinen Dienstpflicht für Kriegsdienstverweigerer geworden. Wer tauglich gemustert worden ist, kann zum Wehrdienst herangezogen werden, wer verweigert hat, muss dienen. Laut Angaben des Bundesamtes für den Zivildienst leisten derzeit 66 517 junge Männer Zivildienst (Quelle: www.bmfsfj.de und 36 418 den Grundwehrdienst (Quelle: http: www.bundeswehr.de). Bei durchschnittlichen Jahrgangsstärken von ca. 430 000 drängt sich in der Öffentlichkeit die Frage nach der Wehrgerechtigkeit ebenso auf wie die grundsätzliche Frage nach der Akzeptanz und der Legitimität von Wehrpflicht und Zivildienst.
Die „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegesdienstverweigerer" (Zentralstelle KDV) kritisierte zuletzt in einer Pressekonferenz am 2. September 2008 eine massive Benachteiligung von Kriegsdienstverweigerern gegenüber Wehrdienstwilligen. Demnach würden dieses Jahr insgesamt 90 000 Zivildienstleistende einberufen, während 60 000 Wehrpflichtige Wehrdienst leisten müssten. Neben diesem Missverhältnis kritisierte die Zentralstelle die Ungleichbehandlung von Wehrdienst- und Zivildiensteinberufenen. Während die Kreiswehrersatzämter jeden fünften Einberufungsbescheid nach Eingaben des Einberufenen aufheben würden, würde dass Bundesamt für Zivildienst für den Zivildienst nur ca. jede hundertste Einberufung aufheben. Mehrere Tausend Wehrpflichtige würden nur deshalb als tauglich eingestuft, weil sie bereits vor der Musterung einen KDV-Antrag gestellt hätten. Dies ergäbe sich aus einem statistischen Vergleich mit Ausgemusterten, die vor ihrer Musterung keinen KDV-Antrag gestellt hätten (vgl. www.zentralstelle-kdv.de/pdf/presse-2-9-2008.pdf).
Diese neuen Untersuchungsergebnisse werfen erneut grundsätzliche Fragen zu Auswirkungen und Effekten von Wehr- und Zivildienst in Deutschland auf.
Wir fragen die Bundesregierung:
1 . Wie bewertet die Bundesregierung die fachlichen Ergebnisse der HECER- Studie, wonach Länder mit Wehr- und Zivildienst im Vergleich zu Ländern mit einer Freiwilligenarmee und professionellen Sozialdiensten eine niedrigere Wirtschaftsleistung und ein geringeres Wachstum haben und die vergleichbaren Ergebnisse der DIW-Studie? und welche Konsequenzen zieht sie daraus?
2. Teilt die Bundesregierung die Aussage der Studie, dass durch die Wehrpflicht volkswirtschaftliche Kosten von etwa einem Viertel-Prozentpunkt Wirtschaftswachstum entstünden? Falls nein, welche volkswirtschaftlichen Kosten verursacht nach Einschätzung der Bundesregierung die Wehrpflicht?
3. Welche volkswirtschaftlichen und individuellen Kosten sieht die Bundesregierung durch die Unterbrechung von Bildungs- und Erwerbsbiografien durch die Ableistung der Pflichtdienste?
4. Welche kalkulatorischen Kosten für den Bundeshaushalt verursacht im Schnitt
a) ein Grundwehrdienstleistender,
b) ein freiwillig längerdienender Wehrdienstleistender,
c) ein Zivildienstleistender,
d) ein Freiwilliger im Inland (FSJ, FÖJ),
e) ein Freiwilliger im Ausland (ADiA, weltwärts, u. a.)
und wie groß ist im Schnitt die Summe, die netto bei den jeweiligen ankommt?
5. Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkung der Ableistung von Pflichtdiensten auf die Ausbildungschancen junger Männer, insbesondere vor dem Hintergrund massenhaft fehlender Ausbildungs- und Studienplätze und der daraus resultierenden schwierigen Zugangsbedingungen zum Ausbildungs- und Hochschulsystem?
6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkung der Ableistung von Pflichtdiensten auf die Arbeitsmarktchancen junger Männer in der Konkurrenz zu Mitbewerberinnen und nicht einberufenen Mitbewerbern auf dem nationalen und internationalen Arbeitsmarkt mit Blick auf den späteren Berufseintritt?
7. Wie hoch schätzt die Bundesregierung durchschnittlich den durch die Pflichtdienste verursachten Wegfall des letzten Jahresgehaltes eines zum Pflichtdienst einberufenen und den dadurch entstehenden volkswirtschaftlichen Ausfall von Kaufkraft, Steuern und Sozialabgaben in den vergangenen zehn Jahren ein und wie bewertet sie diesen?
8. Welche gesamtstaatlichen und volkswirtschaftlichen Kosten entstehen zurzeit jährlich durch Wehr- und Zivildienst und wie setzen sich diese zusammen?
9. Inwiefern hält es die Bundesregierung - gerade auch unter dem Aspekt der Wehrgerechtigkeit - für gerechtfertigt, dass ein Pflichtdienstleistender, auf das gesamte Leben hochgerechnet, ein niedrigeres Einkommen hat, als jemand der für nicht tauglich erklärt wird und wie will sie dem entgegen wirken?
10. Inwiefern teilt die Bundesregierung die Expertise des DIW, wonach die Differenz zwischen gezahltem Wehrsold samt empfangenen Sachleistungen und dem entgangenen Anteil am Lebensarbeitseinkommen als implizite Einkommensteuer gelten kann, und inwiefern sieht die Bundesregierung durch die Differenz das Gebot der Allgemeinheit einer Steuer durch die Wehrpflicht verletzt (vgl. Wochenbericht des DIW Berlin 4/04)?
11. Wie bewertet die Bundesregierung das in der HECER-Studie kritisierte ungünstige Verhältnis von Ausbildungszeit zu Einsatzzeit und die hohe Fluktuationsrate nach Beendigung des Wehrdienstes?
12. Wie bewertet die Bundesregierung das Ergebnis der HECER-Studie, wonach die teilweise weniger ausgeprägte Motivation der Rekruten, insgesamt zu geringerer Produktivität gegenüber freiwilligen Soldaten führe?
13. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die höheren Opportunitätskosten, die laut der HECER-Studie bei Wehrpflichtarmeen entstehen, wie bewertet sie diese und welche Konsequenzen zieht sie daraus?
14. Inwiefern sind die steigende Komplexität der Aufgaben der Bundeswehr und die steigenden Anforderungen an die Soldatinnen und Soldaten mit dem Einsatz von in kurzer Zeit ausgebildeten Wehrdienstleistenden zu vereinbaren?
15. Welche Mehrkosten entstehen in Hinblick auf die langfristige Reduzierung der Truppe durch die Differenz zwischen der Zahl der einberufenen Wehrpflichtigen und den zur Verfügung stehenden Kapazitäten bei der Bundeswehr (vgl. z. B. Tagesspiegel, 18. Juli 2008)?
16. Inwiefern sieht die Bundesregierung die Wehrgerechtigkeit als gewährleistet an und wie begründet sie ihre Einschätzung?
17. Inwiefern und innerhalb welches Zeitrahmens plant die Bundesregierung Maßnahmen, um die Wehrgerechtigkeit zu verbessern?
18. Wie kommt die hohe Zahl derer zustande, die - z. B. im Jahrgang 1984 knapp 60 Prozent des Jahrgangs - weder Wehr- noch Zivildienst leisten, wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklung und welche Konsequenzen zieht sie daraus?
19. a) Teilt die Bundesregierung die von der Zentralstelle KDV genannten Zahlen und Argumente zur Ungleichbehandlung von Kriegsdienstverweigerern (vgl. www.zentralstelle-kdv.de/pdf/presse-2-9-2008.pdf)?
b) Falls nein, in welchen Punkten nicht und mit welcher Begründung?
20. Wie viele Grundwehrdienstleistende können nicht an allen Teilen der Grundausbildung teilnehmen, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nur am Wohnort eingesetzt werden dürfen? Wie viele Grundwehrdienstleistende dürfen ausschließlich auf ebenem Gelände eingesetzt werden? Sind für sie spezielle Grundausbildungsgänge vorgesehen und wenn ja, welche?
21. Wie hoch war jeweils in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Dienstleistenden und wie war die Relation zwischen Wehr- und Zivildienstleistenden sowie deren Anteil an einem Geburtsjahrgang?
22. Warum ist die Zahl der Zivildienstleistenden in der Regel höher als die der Grundwehrdienstleistenden und wie bewertet die Bundesregierung diesen Umstand vor dem Hintergrund, dass der Zivildienst einen aus der Wehrpflicht heraus abgeleiteter und begründeter Ersatzdienst darstellt?
23. Wie hoch ist die Zahl der als untauglich Gemusterten und wie hat sich deren Zahl in den letzten fünf Jahren entwickelt?
24. Wie viele aller tauglich Gemusterten stellten nach ihrer Musterung in diesem Zeitraum einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung?
25. Welche konkreten Maßnahmen über die Vergabe von Zeugnissen hinaus plant die Bundesregierung, um den Zivildienst zu einem „Lerndienst" weiterzuentwickeln?
26. Womit begründet die Bundesregierung vor dem Hintergrund des „Zivildienstes als Lerndienst" die im Haushaltsentwurf vorgesehene Kürzung des Ansatzes für die Förderung von Maßnahmen und Modellvorhaben zur Ausgestaltung des Zivildienstes als Lerndienst (Haushaltsstelle 1704 Gruppe 02 Titel 684 01) um 400 000 Euro für 2009?
27. Womit begründet die Bundesregierung vor dem Hintergrund des „Zivildienstes als Lerndienst" die im Haushaltsentwurf vorgesehene Kürzung des Ansatzes für die Kosten der Durchführung von Einführungslehrgängen (Haushaltsstelle 1704 Gruppe 04 Titel 6714 1) um 3 000 000 Euro für 2009 und welche Einsparungen sollen konkret vorgenommen werden?
28. Plant die Bundesregierung, über den Zivildienst hinaus auch den Wehrdienst zu einem „Lerndienst" weiterzuentwickeln?
a) Falls nein, warum nicht?
b) Falls ja, bis wann?
29. Inwiefern geht die Bundesregierung davon aus, dass die bisherige Zivildienstpraxis vollkommen arbeitsmarktneutral erfolgt und - falls ja - wie kann sie diese Annahme belegen?
30. Durch welche konkreten Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung die Arbeitsmarktneutralität künftig sicherzustellen bzw. weiterhin sicherzustellen?
31. Wie genau beugt die Bundesregierung Wettbewerbsverzerrungen durch den Einsatz von Ersatzdienstleistenden gegenüber anderen Marktteilnehmern, die keine Ersatzdienstleistenden beschäftigen, vor?
32. Wie viele als Beschäftigungsstellen des Zivildienstes anerkannte Einrichtungen gibt es? Wie viele davon sind als AG oder GmbH ohne das Merkmal „gemeinnützig" organisiert und wie viele Zivildienstplätze entfallen auf diese Einrichtungen?
33. In welcher Weise stellt die Bundesregierung sicher, dass Zivildienstleistende nur bei Einrichtungen beschäftigt sind, die dem Allgemeinwohl dienen?
34. In welcher Weise wird sichergestellt, dass bei Auslagerung von Arbeitsfeldern an privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen Zivildienstleistende nicht für Aufgaben dieser Unternehmen eingesetzt werden?
35. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Zivildienstleistende für privatwirtschaftlich übernommene Aufgaben eingesetzt wurden? Wenn ja, wie viele und wurde der Missbrauch geahndet?
36. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass der Rechtsrahmen des Zivildienstes sich (z. B. durch die Möglichkeit der Verhängung von Freiheitsstrafen im Falle unentschuldigten Fernbleibens von der Dienststelle) deutlich von anderen Arbeitsverhältnissen unterscheidet, und wie beurteilt sie die verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher Regelungen?
37. Welche Staaten der EU bzw. NATO haben inzwischen die Wehrpflicht abgeschafft bzw. der Abschaffung oder Aussetzung beschlossen? Wie lange dauert der Wehrdienst bzw. der entsprechende Ersatzdienst in den jeweiligen Ländern?
38. a) Welchen Umfang hat der Geburtsjahrgang der heute 18-jährigen Männer bzw. Frauen (Geburtsjahr 1990) in den einzelnen EU-Staaten?
b) Wie viele Wehrpflichtige wurden im vergangenen Jahr in den einzelnen Ländern der EU zum Grundwehrdienst, wie viele zum Ersatzdienst herangezogen?
39. Wie bewertet die Bundesregierung die Benachteiligung deutscher Wehrpflichtiger gegenüber Gleichaltrigen anderer EU-Staaten, die keine Wehrpflicht haben und dadurch auf dem europäischen Bildungs- und Beschäftigungsmarkt deutliche ökonomische und beschäftigungsrelevante Vorteile haben? Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Berlin, den 17. September 2008
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: