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Dual Use Tornados nach Afghanistan - Wo bleibt die zivile Frühjahrsoffensive?

Veröffentlicht von: Webmaster am 27. Februar 2007 16:35:17 +01:00 (86520 Aufrufe)
Winfried Nachtwei lehnt den Einsatz von Tornados im südlichen Afghanistan ab und legt in folgendem Positionspapier seine Gründe dar:

Dual Use Tornados nach Afghanistan - Wo bleibt die zivile Frühjahrsoffensive?

27. Februar 2007

Grüne Fraktion und Partei haben wiederholt seit Ende 2001 festgestellt, dass zur Bekämpfung terroristischer und illegitimer Gewalt in Afghanistan der Einsatz militärischer Gewalt legitim und notwendig sein kann. Dementsprechend haben wir immer die nach Kapitel VII VN-Charta mandatierte ISAF-Schutz-truppe sowie bis Ende 2006 die Beteiligung an OEF mitgetragen.

Die Gewaltbereitschaft und -fähigkeit der als „Neo-Taliban" heterogenen Gruppen von Aufständischen (auch „Oppositionelle Militante Kräfte") vor allem in Ost- und Süd-Afghanistan hat extrem zugenommen. Ohne ihre Eindämmung und Bekämpfung durch ISAF droht ganz Afghanistan zu kippen. Eine neuerliche Machtergreifung der Taliban und ihrer Verbündeten wäre eine Katastrophe und würde alle bisherigen Fortschritte im Land hinwegfegen. Sie würde auch ermöglichen, dass Afghanistan wieder zu einem sicheren Hafen für internationale Gewalttäter und Terroristen würde. Eine solche Taliban-Machtergreifung in Afghanistan hätte zudem gefährliche Rückwirkungen auf die Stabilität der gesamten Region und die Atommacht Pakistan.

Es geht also nicht um das OB, sondern den Stellenwert und das WIE von Militär- und Kampfeinsätzen, die durch die RECCE-TORNADOs unterstützt würden.

Soll die Bundesrepublik die militärische Aufstandsbekämpfung im Süden - grundsätzlich und in der statt findenden Form - aktiv unterstützen und kann sie darauf wirksam Einfluss nehmen?

Werden die Prioritäten für das beste friedenspolitische Ergebnis richtig gesetzt? Der Einsatz von sechs TORNADO-Flugzeugen erfordert über das Jahr gerechnet ca. 70 Mio. Euro. Dies entspricht fast dem deutschen Jahresbudget von 80 Mio. Euro bilateraler Aufbauhilfe und ungefähr dem, was Deutschland in den vergangenen Jahren in den Polizeiaufbau investiert hat.

Die Grünen wollen ihre Oppositionsrolle verantwortlich wahrnehmen. Auch ohne Regierungsbeteiligung sehen sich die Grünen selbstverständlich in Mitverantwortung für einen erfolgreichen Stabilisierungs- und Aufbauprozess in Afghanistan.

Das Abstimmungsverhalten der Grünen hat nüchtern betrachtet keinen Einfluss auf das Zustandekommen des TORNADO-Einsatzes. Der ist in den Reihen der Großen Koalition beschlossene Sache. Das Abstimmungsverhalten hat eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Akzeptanz dieses Einsatzes und des Afghanistan-Einsatzes insgesamt in Gesellschaft und auch Bundeswehr (hier gilt seit Jahren das Votum der Grünen als besonders überlegt!). Es hat am meisten Bedeutung im Hinblick auf die weitere Orientierung deutscher Afghanistan-Politik und den realen Stellenwert der zivilen Anstrengungen dabei. Hier können wir uns nicht damit zufrieden geben, dass das ausgesprochen konstruktive Verhalten der Grünen bei den letzten Auslandseinsatzentscheidungen damit beantwortet wurde, dass unsere Anträge zur weiteren Afghanistan-Politik abgelehnt wurden und zentrale Forderungen unbeachtet blieben.

Zustimmung heißt nicht, dass man jeder Einzelentwicklung oder -strategie zustimmt. Nicht zu zustimmen heißt nicht, zurücklehnen oder raushalten - im Gegenteil.

Unser Konsens ist: Das internationale Afghanistan-Engagement braucht im kritischen Jahr 2007 zuförderst eine politische und zivile „Frühjahrsoffensive"! Ohne diese sind alle militärischen Anstrengungen aussichtslos. Das in Afghanistan immer noch besonders angesehene Deutschland ist hier in besonderer Verantwortung und hat hier besondere Möglichkeiten. Deutschland sollte da mehr einsteigen und investieren, wo auf afghanischer Seite besonderer Bedarf besteht und wo wir Erfahrungen und Fähigkeiten haben, die auch über den Verantwortungsbereich im Norden hinaus für die Gesamtentwicklung etwas bringen könnten. Neben einer Verstärkung der Alternativen Entwicklung, der beschleunigten und vervielfachten Polizeihilfe (Mentoren!) sind weitere Möglichkeiten eines verantwortbaren Ausbaus des Engagements in den südöstlichen Provinzen zu prüfen. Förderung der afghanischen Fähigkeiten und Kapazitäten ist das A + O.

Worum es bei der TORNADO-Entsendung geht

In der deutschen Öffentlichkeit beherrscht seit Wochen die TORNADO-Frage die Diskussionen um die Afghanistan-Politik. Aus der Perspektive der Stabilisierung Afghanistans sind andere Fragen in diesem kritischen Jahr aber von viel größerer Dringlichkeit: Was ist angesichts der angekündigten militärischen Frühjahrsoffensiven und der mehrdimensionalen Fragilität des afghanischen Aufbauprozesses die aussichtsreichste Stabilisierungs-, Anti-Taliban- und Anti-Terror-Strategie? Wie kann der Rückstand der Aufbauanstrengungen aufgeholt werden? Wie kann wirksam gegen die Drogenwirtschaft vorgegangen werden, ohne dabei gerade die ärmsten Bauern ins Elend zu stürzen und eine weitere Destabilisierung zu fördern?

Ausschlaggebend muss die Frage sein, ob die TORNADO-Entsendung im Rahmen der aktuellen Strategie und Lage vor Ort vordringlich und verantwortbar ist. Dies gilt angesichts einer Situation, wo nach Einschätzung vieler die Entwicklung in Afghanistan auf der Kippe steht und alles dafür getan werden muss, die negative Eskalation zu stoppen und die Kurve zu mehr Stabilisierung und Aufbau, zu einer insgesamt erfolgreichen ISAF-Mission der Internationalen Gemeinschaft zu schaffen. Es geht dabei generell um die politische Schlüsselfrage, wie die Unterstützung der afghanischen Bevölkerung bei einem Aufbau- und State-Building-Prozess, der mit einem verschärften asymmetrischen Konflikt einhergeht, aufrechterhalten bzw. (zurück-)gewonnen werden kann. Dabei sind bündnispolitische und innenpolitische Erwägungen relevant. Sie sollten aber nicht ausschlaggebend sein. Eine solche Einsatzentscheidung ist eine konkrete politische und keine Bekenntnisfrage. (vgl. meine „Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen des Friedensauftrages des Grundgesetzes", www.nachtwei.de)

Die RECCE-TORNADOs sollen dem Kommandeur ISAF (COMISAF) zur luftgestützten Aufklärung im gesamten ISAF-Operationsgebiet, also in ganz Afghanistan zur Verfügung stehen. (Bei einer früheren Anfrage ging es angeblich nur um die Nordregion. Sie wurde abgelehnt, weil Kosten-Nutzen in keinem vertretbaren Verhältnis standen.) Aufklärungsflugzeuge sind Teil eines breiteren Aufklärungsverbundes zur Erstellung eines möglichst präzisen Lagebildes, zu dem neben anderen technischen (Drohnen, Satelliten, Abhöranlagen) auch „menschliche Aufklärungskapazitäten" (Nachrichtendienste, Soldaten, Diplomaten, Zivilisten, Landeskundige etc.) beitragen. Aufklärung vor Ort ist vor allem im Rahmen von Stabilisierungsoperationen und der Identifikation von sozialen Netzwerken bzw. friedensförderlichen oder friedensstörenden Kräften erforderlich.

Die RECCE-TORNADOs sind für einen großen, schwierigen Raum mit relativ wenig eigenem Personal am Boden ein besonders flexibles, weitreichendes Aufklärungsmittel mit besonderen Fähigkeiten (sehr genau optisch, thermische Abbildung durch Infrarotkamera). Da das Aufklärungsmaterial frühestens ca. 60 Minuten nach der Aufnahme zur Verfügung steht, eignen sich die RECCE-TORNADOs vor allem zur Aufklärung bestimmter Koordinaten, einer definierten Route und eines definierten Gebietes. Dabei scheint der TORNADO eher zur Aufklärung stationärer Objekte (Lager, Gebäude, Stellungen, Verstecke), größerer Bewegungen (Fahrzeuge, größere Personengruppen) und Veränderungen geeignet zu sein. Hierdurch kann ein Teil von Überraschungseffekten reduziert werden.

Die RECCE-TORNADOs könnten die ISAF-Operationen in ihrer ganzen Breite unterstützen und haben insofern einen Doppelnutzen (dual use): die Stabilisierungsoperationen vor allem in Nord, West und Zentral, die Stabilisierungs- und z.T. hochintensiven Kampfoperationen in Süd und Ost (Aufstandsbekämpfung/Counterinsurgeny). Es geht also weder nur um Schutz noch nur um Kampf, sondern sowohl um Stabilisierungs-, wie um Kampfunterstützung. Darüberhinaus können die Maschinen zur Überwachung der gebirgigen afghanisch-pakistanischen Grenze sowie zur Erkundung von Schlafmohnfeldern eingesetzt werden. Der Kabinettsbeschluss gibt allerdings hierüber keine Auskunft. Stattdessen heißt es nebulös, die deutschen Tornados leisteten einen „wesentlichen Beitrag zur Feststellung der Gesamtlage in Afghanistan zum Nutzen von ISAF". An die Operation Enduring Freedom sollen lt. Operationsplan ISAF und Kabinettsbeschluss Aufklärungsergebnisse nur restriktiv weitergegeben werden. In der Praxis scheint das aber schwer vorstellbar, wo doch unter dem „Doppelhut" des stellvertretenden Kommandeurs (COMISAF Security) „Sicherheitsoperationen" von ISAF und OEF-Operationen zusammenlaufen.

Die RECCE-TORNADOs sind nur mit einer Bordkanone zum Selbstschutz sowie passiven Schutzeinrichtungen gegen Beschuss ausgestattet. Technisch können sie schnell auf volle Luft-Boden-Kampffähigkeit umgerüstet werden. Laut Kabinettsbeschluss sollen die RECCE-TORNADOs aber nicht für „Luftnahunterstützung" (Close Air Support) eingesetzt werden. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass im Falle eines Hilferufs ISAF-, OEF- oder afghanischen Sicherheitskräften militärische Nothilfe oder Rückendeckung - inklusive des Einsatzes von Bordkanonen - verweigert werden würde.

Was gegen die TORNADO-Entsendung gesagt wird

In Umfragen lehnen so hohe Mehrheiten der Bevölkerung wie lange nicht bei einer Einsatzentscheidung die TORNADO-Entsendung ab. Das ist angesichts einer Bundesregierung, die sich nur dürftig und überwiegend beschönigend dazu äußert, kein Wunder. Es ist kaum zu erwarten, dass die Bundesregierung bis zur Bundestagsentscheidung am 8. März viel daran ändert. Seit Monaten versucht sie den Ball flach zu halten, eine offene und ehrliche Debatte um die Afghanistan-Politik zu vermeiden und die eigenen Fraktionsreihen möglichst geschlossen zu halten. Dies gelingt nur deshalb, weil vielen der Beteiligten vermittelt wird, dass bei der Wahl zwischen Pest (Stigmatisierung als besserwisserischer Drückeberger im relativ ruhigen Norden) und Cholera (Einsatz von deutschen Bodentruppen in umkämpften Gebieten im Süden oder Osten) die Bereitstellung von TORNADOs das kleinere und für beherrschbar gehaltene Übel ist. Dabei geraten die Gesamtstrategie, die Art des militärischen Vorgehens, die Gefahr des schleichenden Missionsausweitung („Mission Creep") von ISAF/OEF oder andere Handlungsalternativen völlig aus dem Blickfeld. Wenn aber über Fragen und Bedenken einer großen Bevölkerungsmehrheit nicht debattiert, sondern stillschweigend hinweggegangen wird, dann wird das den gegenwärtigen Akzeptanzrückgang von Auslandseinsätzen generell weiter befördern.

Erste Aufrufe aus der Friedensbewegung, eine Resolution der LAG Frieden und Internationales der Berliner Grünen sowie eine von linken Basisgrünen verbreitete Resolution („Grüne Stimmen gegen den schleichenden Einstieg in den Krieg") richten sich gegen die TORNADO-Entsendung: Die in den Aufrufen zum Ausdruck kommende Sorge um eine zunehmende Verwicklung der Bundeswehr in Kriegshandlungen in Afghanistan ist sehr berechtigt, ihr Drängen auf verstärkte Aufbauanstrengungen ist richtig. Während sich die Berliner Resolution für die Fortsetzung des bisher bewährten deutschen Kurses mit ISAF und zivilem Engagement einsetzt, erhebt die inzwischen von der Grünen Landesversammlung Sachsen beschlossene Resolution („..gegen den schleichenden Einstieg.. ") allerdings Einzelforderungen, die die deutsche ISAF-Beteiligung schwächen, ja unmöglich machen. (Ablehnung des „Einsatzes der deutschen Luftwaffe in Afghanistan" - also auch der Transportflieger; Abzug der KSK-Soldaten, die seit Jahren nur noch zum ISAF-Schutz eingesetzt wurden) Meine Befürchtung ist: Wer angesichts der TORNADO-Entscheidung den Abzug ausgerechnet derjenigen ISAF-Kräfte fordert, die in der afghanischen Bevölkerung mit am besten angesehen sind, lässt die vielen Afghaninnen und Afghanen im Stich, die mehr Aufbau, Frieden und Menschenrechte haben wollen - zugunsten der fundamentalistisch-gewalttätigen und terroristischen Kräfte.

Was für die TORNADO-Entsendung spricht

Die multinationale Unterstützung und Absicherung des Aufbaus Afghanistans ist ein „Gemeinschaftsunternehmen", das ohne gemeinsame Strategie, Kohärenz, Lasten- und Risikoteilung nicht zu bewältigen ist. Die Entwicklung in den verschiedenen Landesteilen folgt zwar regionalen und lokalen Besonderheiten, lässt sich aber nicht vollständig voneinander trennen.

Der Erfolg der Stabilsierungsaufgabe von ISAF ist gerade auch unter den geographischen Bedingungen und Risiken Afghanistans und angesichts eines „light footprint"-Ansatzes auch auf bestmögliche Aufklärung und Informationsgewinnung angewiesen. COMISAF verfügte bisher über keine „eigene" luftgestützte Aufklärung, sondern war von dem abhängig, was GB, USA und NL nach Erfüllung ihres nationalen Bedarfs zur Verfügung stellten. Der Wunsch nach der Bereitstellung zusätzlicher Aufklärungskapazitäten ist deshalb durchaus plausibel. Deutschland verfügt mit den RECCE-TORNADOs über Aufklärungsfähigkeiten wie wenige andere. Im Gegensatz zu anderen Fluggeräten sind die TORNADOs nur begrenzt zur Direktübertragung der Aufklärungsergebnisse oder zur Bekämpfung von Bodenzielen in der Lage.

Die unbemannten PREDATOR-Drohnen der USA, die gleichzeitig zur Bekämpfung von Zielen eingesetzt werden können, gelten im Vergleich zu den RECCE-TORNADOs als leistungsfähiger. Als mobiles „eye in the sky" können sie eigene Konvois oder Truppenbewegungen aus der Luft bewachen oder feindliche Kräfte gezielt bekämpfen. GB hat zwei Exemplare bestellt, die bis Ende des Jahres für den Einsatz in Afghanistan zur Verfügung stehen sollen.

Bei einem multinationalen Bündniseinsatz kommt es auf Geben und Nehmen der jeweiligen Fähigkeiten an. Das gilt vermehrt im Hinblick auf die nächsten Monate, in denen mit besonders schweren Attacken der heterogenen „Oppositionellen Militanten Kräfte" zu rechnen ist. Eine ersatzlose Verweigerung der TORNADOs hätte angesichts des andauernden Drängens von Verbündeten auf ausgewogene Risikoverteilung und nach so langer Bedenkzeit erhebliche Irritationen im Bündnis zur Folge. Die monatelange Hängepartie, das Herumlavieren um eine Einbeziehung des Bundestages und die Ankündigungen in Brüssel haben dazu geführt, dass ein NEIN des Deutschen Bundestages einem Misstrauensvotum gegen die Regierung gleich käme. Insofern sprechen in den Regierungsfraktionen nicht nur militärische und bündnispolitische Erwägungen für den TORNADO-Einsatz. Es gibt auch kaum Zweifel, dass die große Koalition nicht aus eigener Kraft in der Lage ist, die TORNADOs in die Luft zu bekommen.

Für die Bündnisgrünen müssen bei der Abwägungsentscheidung neben Bündniserwartungen auch die Erwartungen von Partnern in Afghanistan berücksichtigt werden. Dass sich mit dem afghanischen Außenminister Spanta und dem UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan, Tom Königs, zwei Grüne für einen TORNADO-Einsatz aussprechen, hat auch mit ihrer Funktion zu tun. Bei einer Nichtzustimmung der Grünen besteht das Risiko - wie schon bei unserem Abstimmungsverhalten zur Fortsetzung von OEF -, dass dies innenpolitisch als Absage an ISAF und eine militärische Stabilisierung insgesamt oder als Exit-Signal fehlgedeutet werden könnte. (Dies hat sich allerdings bei OEF nicht bewahrheitet. In den Medien und insbesondere in der Bundeswehr wurde unser Nein als konstruktiver „Warnruf" - so in der FR - verstanden und in deutlichem Unterschied zum Fundamental-Nein der Linksfraktion.)

Was gegen eine Zustimmung zur TORNADO-Entsendung spricht

Zentrales Motiv für die TORNADO-Entsendung auf Seiten der Bundesregierung ist offenkundig das Bemühen, dem massiven Drängen einiger Verbündeter nach einem Süd-Einsatz der Bundeswehr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Abgesehen davon, dass diese Erwartung eine Illusion ist - ein neuer Einsatz kann nicht nur grundsätzlich und bündnistaktisch, sondern muss vor allem auch konkret und im Gesamtkontext der Afghanistan-Politik bewertet werden. Als Abgeordnete können wir die Bundeswehr nicht nur deshalb in einen riskanten Einsatz schicken, weil die Bundesregierung einen Brief aus Brüssel erhalten hat und wir uns dieser Anfrage vermeintlich nicht entziehen können. Zuweilen wird auch in Regierungskreisen behauptet, die Luftwaffe habe selbst dafür gesorgt hat, dass Berlin eine Anforderung aus Brüssel erhielt.

Die Bundesregierung betont die schützende Rolle der Aufklärungsflugzeuge. Ex-Verteidigungs-minister Struck erklärt, der TORNADO-Einsatz „dient dem Schutz der NATO-Kameraden. Das darf man nicht verweigern." Unbestreitbar wären die RECCE-TORNADOs nützlich für die Stabilisierungsoperationen von ISAF. Wer aber den TORNADO-Einsatz auf Kameraden- und Nothilfe reduziert, verharmlost ihre Rolle auch bei der Kampfunterstützung - und öffnet zugleich die Tür für deutsche Bodentruppen im Süden. Zudem kann auch präzisere Aufklärung durch Tornados das hohe Risiko ziviler Opfer nicht entscheidend reduzieren, wo Kombattanten und Zivilbevölkerung äußerlich angesichts landesüblicher Kleidung und Bewaffnung kaum zu unterscheiden sind. Militante Kräfte agieren zum Teil aus der Mitte der Bevölkerung bzw. verfügen über deren Rückhalt gerade aufgrund der Art der Kriegführung von Teilen der internationalen Streitkräfte.

Zur ISAF-Praxis und -Operationsführung im Süden liegen seitens der Bundesregierung fast keine verlässlichen Angaben vor. Es überwiegen beschönigende Unterrichtungen. Untersuchungen und Berichte von vor Ort ergeben ein sehr ernüchterndes bis beunruhigendes Bild. In ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen (Provinz, Region) setzen „Führungsnationen" eigene Schwerpunkte. Aus der jüngsten Studie von Senlis Council („Countering the Insurgency in Afghanistan: Losing Friends and Making Enemies", Feb. 2007, mit umfassenden Feldstudien), aus dem Interim Report des kanadischen Standing Senate Committee on National Security and Defence („Canadian Troops in Afghanistan: Taking a Hard Look at a Hard Mission", Feb. 2007), aus der jüngsten SWP-Studie von Citha Maaß („Afghanistan: Staatsaufbau ohne Staat", Feb. 2007), aus Rückmeldungen von Afghanistan-KennerInnen auf mein Beratungspapier und etlichen Berichten in der internationaler Presse ergibt sich in Umrissen folgendes Bild (vgl. meine Dokumentation „Antworten zum Beratungspapier´TORNADOs nach Afghanistan?`" vom 22. Februar 2007):

In den Süd-Provinzen Helmand (GB) und Kandahar (CAN) - traditionellen Hochburgen der Taliban - verfolgten die angelsächsischen Streitkräfte vorrangig eine Strategie, die Aufständischen zu bekämpfen. Dabei wurden nicht nur die eigenen Soldaten einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sondern auch die Zivilbevölkerung massiv in Mitleidenschaft gezogen und Nothilfe wie Aufbau vernachlässigt. Wo nach der Theorie der Aufstandsbekämpfung „Hearts and Minds" der Einheimischen gewonnen werden sollten, geschah in Wirklichkeit das Gegenteil: Für viele Menschen ging das Vorrücken von ISAF und Zentralregierung mit Kämpfen, Bombardierungen, Flucht und mehr Unsicherheit einher. Gleichzeitig brachten die sprunghaft zugenommenen Selbstmordattentate und Angriffe vor allem Opfer auf Seiten der afghanischen Zivilbevölkerung. Eine solche Vorgehensweise führt nach aller Erfahrung der afghanischen (Kriegs-)Geschichte und von Counterinsurgency-Operationen zur wachsenden Entfremdung und auf Dauer ins Desaster. Bei seinem jüngsten Besuch in Kabul hat NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer sich ausdrücklich auf die letztjährigen Operationen bezogen und erklärt: „NATO will do it again."

Die niederländischen Streitkräfte sollen hingegen Verbesserungen für die Bevölkerung und ihre Sicherheit zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Strategie in Uruzgan, der dritten Krisenprovinz im Süden, gemacht haben. Dazu gehörte auch eine Dialog-Strategie gegenüber Teilen der Taliban. In Bedrohungsfällen gingen die NL Streitkräfte nichtsdestoweniger militärisch massiv gegen die Taliban vor.

Die bisherige Drogenbekämpfung war - abgesehen von einzelnen positiveren Provinzen - insgesamt erfolglos. Felderzerstörungen (Eradication) trafen in einem Umfeld fehlender Alternativen oder nicht eingehaltener Zusagen vor allem die ärmsten Bauern. Auch dies förderte neben Korruption sowie fehlenden Sicherheits- und Rechtsinstitutionen die Entfremdung gegenüber der Regierung und Staatengemeinschaft - und den Zulauf zu den Taliban. Für dieses Jahr ist eine massive Ausweitung der Eradication angekündigt. Die afghanische Regierung konnte bisher noch dem massiven US-Druck für einen Herbizid-Einsatz widerstehen. Der zukünftige US-Botschafter in Afghanistan, William B. Wood, kommt direkt aus Kolumbien und wird eine kompromisslose Linie in der Eradication-Politik weiterverfolgen.

Eine wirkliche Überprüfung, gar Korrektur der Afghanistan-Strategie der Internationalen Gemeinschaft, insbesondere der Militärstrategie(n) und der Drogenbekämpfung am Boden, ist bisher nicht erkennbar. Dieses fordern längst nicht nur die Grünen. Besonders deutlich wurde der Korrekturbedarf bei der Ausweitung der ISAF-Mission auf den Süden und Osten und damit in den Bereich der Operation Enduring Freedom, deren Operationsführung und Parallelexistenz nach allen unseren Informationen mehr zur Eskalation von Hass und Gewalt als zur Eindämmung von Terrorismus beitrug. Als dies von den Grünen gegen die weitere deutsche Beteiligung an OEF in Afghanistan vorgebracht wurde, verweigerte die Bundesregierung jede konkrete Stellungnahme.

Auf den verschiedenen politischen NATO-Spitzentreffen seit November blieb die angekündigte Strategiediskussion offenbar noch sehr im Allgemeinen: dass Sicherheit und Entwicklung sich gegenseitig bedingen, dass es einen ganzheitlichen Ansatz vernetzter Sicherheit brauche, dass es darum gehe, Köpfe und Herzen der Menschen zu gewinnen ist alles richtig. Aber Hinweise auf eine konkrete Überprüfung und Korrektur der Strategie (bzw. der realiter verschiedenen Strategien) gab es bisher nicht. Die „Zusammenarbeit" von NATO und EU in Afghanistan soll weiterhin mangelhaft sein.

Bisher sehe ich keine Anhaltspunkte dafür, dass die USA in Afghanistan eine grundsätzlich klügere und aussichtsreichere Militärstrategie verfolgen als im Irak. Unter den im Süden eingesetzten ISAF-Soldaten sind viele mit „robuster" Irak- und OEF-Erfahrung. Der neue US-Verteidigungsminister Gates hob bei der Münchener Sicherheitskonferenz die bisherigen „Siege" gegen die Taliban hervor und beschwor den Erfolg der NATO-Frühjahrsoffensive - als würde das Gewinnen von Gefechten reichen, wo es in erster Linie um das Gewinnen der Bevölkerung geht. Auch da, wo die USA - wie z.B. im Polizeibereich oder beim Aufbau der afghanischen Armee - massiv in den Aufbau afghanischer Kapazitäten investieren, geschieht dies in einer Art und Weise, die von vielen als nicht nachhaltig und z.T. kontraproduktiv beurteilt wird.

Der neueste - angeblich abgewehrte - Vorstoß des Sicherheitsberaters von Präsident Bush, Stephen Hadley, zielte darauf ab, dem (US-)Kommandeur ISAF die Truppen aller ISAF-Staaten uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen und jede territoriale Verantwortlichkeiten (z.B. Deutschland im Norden) abzuschaffen. Das würde nicht nur ein bewährtes Organisationsprinzip von multinationalen Stabilisierungseinsätzen aushebeln. Angesichts der US-beherrschten NATO-Kommandoposten würde das eine Unterordnung unter die „amerikanische Kampfstrategie" bedeuten, „die in einigen europäischen Hauptstädten für einen Irrweg gehalten wird." (SZ 22.2.07)

Außenminister Spanta erinnerte bei seinem Berlin-Besuch daran, dass die Staatengemeinschaft in Afghanistan weniger als ein Zehntel von dem investierte, was sie in Relation zu Fläche und Bevölkerung für das Kosovo aufwandte: Wenn der Aufbau im bisherigen Tempo fortgesetzt werde, habe man in fünf Jahren erst 10 % der Zerstörungen von 26 Jahren Krieg wiederaufgebaut. Afghanische Polizisten und Soldaten erhalten 50-60 US-$ im Monat, Taliban-Söldner 200-600 $. Die breit - insbesondere von Spitzenmilitärs der NATO und Außenminister Spanta - erhobene Forderung nach einer Forcierung des zivilen Aufbaus fand bisher nur ein unzureichendes Echo: Die USA haben ihren Ressourceneinsatz kräftig um 10,6 Mrd. US-$ erhöht, davon zu mehr als 80% für den Armee- und Polizeiaufbau. Dabei wird deren Art der Ausbildung im Schnellverfahren ähnlich wie im Irak kritisiert, da die Polizisten kaum den schwierigen Anforderungen genügen und eher paramilitärischen Einheiten gleichen, die anfällig für Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit sind, aber wenig zur Stabilisierung beitragen können. Norwegen will seine zivile Hilfe um 50% auf 80 Mio. $ erhöhen. Die EU-Kommission hat demgegenüber ihre Afghanistan-Aufwendungen von 600 Mio. Euro bis 2010 im Vergleich zu den Vorjahren gesenkt. Deutschland bleibt bei seinen ca. 80 Mio. Euro/Jahr bilateral; plus 20 Mio. Euro multilateral für den zivilen Aufbau in Afghanistan. Bei der beschlossenen Polizeimission der EU ist längst nicht ausgemacht, ob diese auch mit einer deutlichen Verstärkung der Kapazitäten einhergeht. Notwendig wäre ihre Vervielfachung - auch des deutschen Beitrags. Das ist nicht in Sicht. Deutschen PRT-Kommandeuren stehen weiterhin nur 15.000 Euro pro Jahr (!) „Handgeld" für quick-impact-Projekte zur Verfügung. Die Bundesregierung handelt weiter nach der Devise „Wir tun unser Bestes im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten. Aber an diese Grenzen rühren wir nicht." Es ist ist immer wieder beschämend und frustrierend zu erleben, wie mühsam einzelne Polizisten und zivile Experten oder bescheidene Summen für zivile Projekte erbettelt werden müssen. Die Leichtigkeit, mit der in kürzester Zeit 35 Mio. Euro, 500 Soldaten samt Infrastruktur und hochwertiger Ausrüstung für einen Einsatz in ein weit entferntes Einsatzland bereitgestellt werden können, zeigt, wie weit wir von einer Infrastruktur für ein effektives ziviles Krisenmanagement entfernt sind. Angesichts eines Zeitfensters, das viele Afghanistan-Beobachter bei sechs bis zwölf Monaten sehen, ist eine solche Halbherzigkeit nicht hinnehmbar. Nicht kleckern, sondern klotzen ist jetzt im zivilen Bereich angesagt.

Wo Militär- und Antidrogenstrategien nicht korrigiert werden, sondern z.T. eher in die falsche Richtung driften, wo die internationale Afghanistan-Politik die bisherige Unausgewogenheit zwischen militärischem und zivilen Engagement nicht zugunsten des letzteren überwindet, da läuft der Einsatz der RECCE-TORNADOs neben dem positiven Teilnutzen für die Stabilisierungsoperationen auf die Unterstützung einer falschen Strategie hinaus, da verstärkt dieser die militärisch-zivile Unausgewogenheit des deutschen Engagements.

Als bündnispolitisches Signal ist der TORNADO-Einsatz so verständlich wie symbolisch und kurzsichtig: Das Drängen von USA, GB und anderen auf eine volle Beteiligung DEU`s, FR`s etc. im Süden lässt sich damit nicht beschwichtigen. Der TORNADO-Einsatz wird der deutschen Seite mehr Einblicke, aber vermutlich nicht viel mehr an Einfluss bringen. Damit übernehmen wir eine unmittelbare Mithaftung ohne maßgebliche Mitwirkung.

Während die Bundesregierung einerseits einer offenen Diskussion über die Vorgehensweise von ISAF und OEF im Süden ausweicht, kommen vermehrt Signale aus der Großen Koalition, die Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen zu lockern. Bereits bei der Frage, ob das Parlament einer TORNADO-Entsendung zustimmen muss, wurde hartnäckig versucht, das Parlament zu umgehen. Die permanenten Sticheleien gegenüber dem Parlamentsbeteiligungsgesetz, die Androhung, das Parlament künftig nur noch über das Land und die Dauer eines Einsatzes abstimmen zu lassen und die dürftige Informationspolitik wecken Zweifel, wieweit der Bundesregierung überhaupt an einer Zustimmung aus den Reihen der Opposition gelegen ist. Unterrichtungen kurz vor Toresschluss können diese Zweifel nicht ausräumen.

Konditionierte Empfehlung

Vor dem Hintergrund der Gesamtverantwortung für Afghanistan und einer solidarischen Lastenteilung könnten die TORNADO-Aufklärer im Rahmen einer aussichtsreichen, tatsächlich gewalteindämmenden Militärstrategie und einer ausgewogenen Afghanistan-Politik insgesamt Sinn machen.

Es hat keinen Sinn, dass die Bündnisgrünen in einem Begleitantrag lediglich erneut - aber folgenlos -beklagen, was von der Regierung getan werden müsste. Die Bundesregierung ist in der Bringpflicht:

Solange die Bundesregierung nicht glaubhaft gemacht hat, dass ISAF den Aufstand im Süden mit einer aussichtsreichen statt mit einer kontraproduktiven Strategie einzudämmen versucht,

solange die Bundesregierung sich nicht erkennbar stark macht für eine konstruktive statt destabilisierende Art der Drogenbekämpfung (Vorrang einer breit geförderten alternativen Entwicklung, Verzicht auf Felderzerstörung bei den ärmsten Bauern),

solange die Bundesregierung nicht erkennbar ihre zivilen Aufbauanstrengungen substanziell forciert (z.B. Vervielfachung des Deutschen Polizeianteils) und den Etatansatz dafür deutlich aufstockt,

kann ich eine Zustimmung zu dem TORNADO-Einsatz nicht empfehlen.

Seit 2002 habe ich immer wieder vor Ort erlebt, wie notwendig, klug und wirksam der ISAF-Ansatz ist, wie er von Deutschland und etlichen anderen Verbündeten praktiziert wird. Bei Soldaten im Einsatz und in Deutschland erfahre ich inzwischen wachsenden Unwillen über die zurückbleibenden zivilen Anstrengungen und Fähigkeiten - und umgekehrt bei Zivilexperten ihre unzureichende Ausstattung. Seit Juli 2006 mache ich auf die verschärfte Situation in Afghanistan aufmerksam und forderte zusammen mit der Fraktion in mehreren Entschließungsanträgen (zu ISAF, zu OEF) eine Überprüfung der Afghanistan-Strategien a m B o d e n und ihre Korrektur da, wo nötig. Die dringenden Appelle bekamen unter Fachleuten viel Zuspruch, blieben in der realen Afghanistan-Politik aber weitgehend ohne Wirkung. Vor diesem Hintergrund ist eine Nichtzustimmung zum TORNADO-Einsatz in keiner Weise gegen das bisherige deutsche ISAF-Engagement gerichtet und ganz und gar kein Exit-Signal - im Gegenteil. Eine Nichtzustimmung ist viel mehr ein Warrnruf, das internationale Engagement und ISAF insgesamt nicht vor die Wand zu fahren und das schmale Zeitfenster für Veränderung und Koordination der Militärstrategie sowie der zivilen Anstrengungen jetzt zu nutzen. DAS muss unsere Botschaft sein.


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Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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