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Mein Buchbeitrag "Die Bundeswehr in Afghanistan - ISAF und Resolute Support" - Gesamtdarstellung und selbstkritrische Bilanz eines politisch Mitverantwortlichen

Veröffentlicht von: Nachtwei am 20. März 2020 16:38:26 +01:00 (59958 Aufrufe)

19 Jahre Beteiligung am multinationalen und multidimensionalen Afghanistan-Einsatz - Das größte, komplizierteste, teuerste, opferreichste deutsche Krisenengagement, das seine Ziele nach hoffnungsvollen ersten Jahren letztendlich nicht erreichte und heute - außer die Zigtausenden AFG-RückkehrerInnen - hierzulande kaum noch interessiert. Hier ein erneuter Versuch einer selbstkritischen Bilanz, um aus richtigen Ansätzen, vor allem aus den politisch-strategischen Großfehlern zu LERNEN.   

Die Bundeswehr in Afghanistan: ISAF und Resolute Support

Winfried Nachtwei

(Erschienen in:“ Wegweiser zur Geschichte – Afghanistan“, im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, hrsg. von Bernhard Chiari, neu bearbeitet von Karl-Heinz Lutz, vierte, aktualisierte und veränderte Auflage, Paderborn 2020. Weitere Autoren u.a. Conrad Schetter, Jörg Baberowski, Bernhard ChiariKatja Mielke, Philipp Münch, Nicole Birtsch, Martin Rink. Der Band ist auch als PDF-Datei abrufbar unter http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/afghanistan?PHPSESSID=3ffe2fda9bcb4128171c0d8f19158373

Das Manuskript meines Beitrags wurde im April 2017 abgeschlossen, kurz vor dem Großanschlag am 31. Mai, durch den die Deutsche Botschaft zerstört wurde, und in einem deutschen Umfeld, wo in den Programmen von Union, FDP, SPD, Grünen, Linken Afghanistan als politische Herausforderung nicht mehr auftauchte. Beiträge zur aktuellen Entwicklung in Afghanistan (UNAMA-Zivilopfer-Berichte, mein 20. AFG-Besuch im Oktober 2019) auf www.nachtwei.de .

Am 22. Dezember 2001 billigte der Deutsche Bundestag den Antrag der Bundesregierung zur Teilnahme von bis zu 1200 Bundeswehrsoldaten an der UN-mandatierten International Security Assistance Force (ISAF). Der Auftrag lautete, die vorläufige Regierung Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung so zu unterstützen, dass sie und das Personal der UN in einem sicheren Umfeld arbeiten könnten. Diesem begrenzten Unterstützungsauftrag stimmte die große Mehrheit der Abgeordneten zu – im Unterschied zur hoch strittigen und knappen Bundestagsentscheidung fünf Wochen zuvor zur Beteiligung von bis zu 100 Spezialsoldaten an der Operation Enduring Freedom (OEF) in Afghanistan. Es gebe keine Absicht, so die Bundesregierung, wie im Kosovo länger zu bleiben. Landeskundige widersprachen dieser Erwartung von Anfang an.

Dreizehn Jahre später ging mit ISAF der komplizierteste, teuerste und opferreichste Großeinsatz der Bundeswehr zu Ende. Das Ende der ursprünglich auf zwei Jahre terminierten Folgemission Resolute Support ist noch nicht abzusehen.

Bis 2017 unterlag der internationale und deutsche Afghanistan-Einsatz extremen Veränderungen im Hinblick auf den Einsatzraum, die konkreten Aufgaben, die Sicherheitslage, den Kräfteansatz, die Operationsweise, die zivil-militärische Zusammenarbeit und die Wirkungen.

Der ISAF-Einsatz stellte die Bundeswehr von vorneherein vor größte Herausforderungen: 5000 km entfernt von der Heimat; extreme geographische, klimatische Bedingungen; eine fragmentierte, kriegszerrüttete Gesellschaft mit hohem Konflikt- und Gewaltpotenzial; eine besonders fremde Kultur und so viele Mitakteure wie nie zuvor. Vor allem einsatzerfahrenen Bundeswehrsoldaten war bewusst, dass internationales Militär unter solchen Bedingungen nur Zeit kaufen für politische Konfliktlösung würde kaufen können.

Der ISAF-Einsatz von 5000 Soldaten aus 21 Nationen beschränkte sich ab Januar 2002 zunächst auf den Großraum Kabul. ISAF sollte vor allem Vertrauen bei der einheimischen Bevölkerung aufbauen. Diese empfing die ausländischen Soldaten ausgesprochen freundlich. Gemeinsam patrouillierten ISAF-Soldaten und afghanischen Polizisten leicht bewaffnet durch die Millionenstadt. Der Ansatz des „light footprint“ erschien angesichts der verheerenden britischen und sowjetischen Interventionserfahrungen im 19. Und 20. Jahrhundert plausibel.

Nach einem Jahr wurde die Obergrenze des deutschen Kontingents auf 2500 verdoppelt, um 2003 die ISAF-Führung durch das Deutsch-Niederländische Korps zur ermöglichen. Im August 2003 übernahm die NATO die Führung von ISAF. Die Führungsrolle bei der Koordination der internationalen Polizeihilfe nahm Deutschland mit zwölf Beamten vor Ort bis 2006 nur unzureichend wahr.

Ausweitung des ISAF-Mandats

Mit dem Beschluss des UN-Sicherheitsrates im Oktober 2003, angesichts kritischer Entwicklungen in einigen Landesteilen das ISAF-Mandat auf das ganze Land auszuweiten, begann die zweite Phase des ISAF-Einsatzes. Deutschland übernahm die vier Nordostprovinzen Kunduz, Baghlan, Takhar und Badakhshan als Verantwortungsbereich. In Kunduz entstand Anfang 2004 das erste deutsch geführte Provincial Reconstruction Team (PRT), gefolgt vom PRT Feyzabad in Badakhshan. Die PRTs mit ihrem militärischen und zivilen Leiter entstanden aus der Einsicht, dass Stabilisierung eines Nachkriegslandes allein mit Militär nicht zu schaffen, sondern vielmehr auf das vernetzte und abgestimmte Wirken der diplomatischen, militärischen, entwicklungspolitischen und polizeilichen Akteure angewiesen sei. Beeinträchtigt wurde dieser grundsätzlich sinnvolle Ansatz durch unzureichende strategische Vorgaben (kein gemeinsames Lagebild, fehlende Zielabstimmung), mangelnde ressortgemeinsame Einsatzvorbereitung und die jahrelange personelle Unterausstattung insbesondere der diplomatischen und polizeilichen Komponente. Hinzu kamen die sehr unterschiedlichen PRT-Konzepte von ISAF-Truppenstellern.

Im Herbst 2006 umfasste das PRT Kunduz 470 Soldaten, davon 90 Infanteristen für einen Raum von der Größe Hessens. Mit Aufgaben wie Präsenzpatrouillen, Maßnahmen der zivil-militärischen Kooperation (CIMIC), Key-Leader-Engagement und Konfliktmanagement wirkten die militärisch schwachen, aber klug eingesetzten ISAF-Kräfte zunächst erfolgreich als Pufferkraft. Fortschritte waren unübersehbar.

Im Sommer 2006 hatte sich der Schwerpunkt des deutschen Afghanistaneinsatzes nach Norden verschoben. Deutschland übernahm die Rolle der Lead Nation im ISAF Regional Command North (RC North). Dazu gehörte der Betrieb der Nachschubbasis Camp Marmal bei Mazar-e Sharif für 16 ISAF-Nationen. Trotz erheblichen Drucks einiger Verbündeter kam es 2006 nicht zu einer generellen Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in die Kampfzonen des Südens.

Erst die Indienststellung des ersten „Operational Mentoring and Liaison Team“ (OMLT) der NATO in Kunduz im August 2006 markierte die beginnende Professionalisierung der Aufbau- und Ausbildungshilfe für die Afghanische Nationalarmee (ANA). Gebremst wurde sie durch konzeptionelle Schwäche und einen Mangel an OMLT-Kräften. Feldjäger übernahmen zeitweilig die Ausbildung afghanischer Polizisten, weil deutsche Polizeiausbilder nicht ausreichend zur Verfügung standen.

Anfängliche Befürchtungen in Deutschland, mit ISAF in einen Kriegseinsatz zu geraten, bestätigten sich für den deutschen ISAF-Einsatz zunächst nicht. In den ersten vier Jahren des deutschen ISAF-Einsatzes wurde nur ein Schusswechsel gemeldet. Sieben Angriffe mit Sprengfallen forderten aber acht deutsche Gefallene und über 40 Verwundete.

Die dritte Phase des Einsatzes war geprägt durch eine sukzessive Verschärfung der Sicherheitslage in Teilen des deutschen Einsatzgebietes. Frühe Warnungen verantwortlicher Offiziere waren 2006 in Berlin ohne Resonanz geblieben. Zu einem Wendepunkt wurde ein Selbstmordanschlag am 19. Mai 2007 in Kunduz, dem drei Bundeswehrsoldaten und sieben afghanische Zivilisten zum Opfer fielen. Priorität bekam jetzt der Nahbereichsschutz auf Kosten der Präsenz in der Fläche, in der Aufständische zunehmend Fuß fassen konnten. Mitte 2007 standen für die Nordregion, ein Raum von der Größe halb Deutschlands mit schwierigen geographischen und infrastrukturellen Bedingungen, knapp 4000 ISAF-Soldaten zur Verfügung. Nachrichtengewinnung, Aufklärung und Luftbeweglichkeit waren unzureichend, so dass ihre Wirkungsmöglichkeiten begrenzt blieben.

Krieg?

Im Juli 2008 löste die Bundeswehr Norwegen in der Stellung der Quick Reaction Force im RC North ab, mit der auch erstmalig offensiv gegen Aufständische operiert werden konnte. Gleichzeitig wurde, sechs Jahre nach Beginn, nun auch die deutsche Polizeiaufbauhilfe massiv aufgestockt. Im Oktober 2008 eröffnete der Kommandeur des PRT Kunduz den Obleuten des Verteidigungsausschusses, man habe in der Provinz die Initiative verloren. Als am 29. April 2009 der erste Bundeswehrsoldat bei einem komplexen Hinterhalt im Kampf fiel und danach weitere schwere Gefechte folgten, wurde offenkundig, dass ISAF vor allem in den Provinzen Kunduz und Baghlan mit einem Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert war. Der defensiv ausgerichtete Stabilisierungseinsatz war zum harten Kampfeinsatz geworden. Die bisher restriktiven Einsatzregeln wurden angepasst. Die Tatsache des Krieges vor Ort wurde allerdings von der politischen Leitung in Abrede gestellt, bis sie nach dem von einem deutschen PRT-Kommandeur befohlenen Luftangriff auf zwei entführte Tanklaster mit vielen Ziviltoten am 4. September 2009 bei Kunduz unübersehbar wurde. In der Regierungserklärung vom 10. Februar 2010 äußerte Außenminister Westerwelle, in Afghanistan handele es sich um einen „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“. Erst damit bestand für die Einsatzsoldaten Rechtsklarheit beim Einsatz militärischer Gewalt.

In der vierten Phase erreichte der ISAF-Einsatz mit knapp 150 000 Soldaten, davon 100.000 aus den USA und über 5 000 aus Deutschland, seinen größten Umfang und die höchste Intensität. Die USA bewirkten bei ISAF einen Wechsel zur Counter Insurgency Strategie (COIN), bei der die Zivilbevölkerung zum Zentrum aller Bemühungen werden sollte. Eine Voraussetzung dafür war die massive Verstärkung der eigenen Kräfte („Surge“). Allein in der Nordregion kamen 5000 zusätzliche US-Soldaten und eine Combat Aviation Brigade mit 57 Hubschraubern hinzu. Ab August 2010 wurden zwei deutsche Ausbildungs- und Schutzbataillone (Task Forces Kunduz und Mazar) mit je einem Marder-Zug sowie zwei Panzerhaubitzen 2000 aufgestellt (umstrukturiert in „Partnering and Advisory Task Forces, PATF, ab Juli 2012). Sie sollten dauerhaft in der Fläche operieren, im Partnering mit den afghanischen Sicherheitskräften deren Fähigkeiten fördern, Schwerpunktdistrikte freikämpfen und die Bevölkerung für die Regierung gewinnen. Exemplarisch dafür stand die Operation „Halmazag“ (31. Oktober bis 3. November 2010) im Distrikt Chahar Darah, dem Rückzugsraum der Aufständischen westlich von Kunduz. Die TF Kunduz vertrieb zusammen mit einem ANA-Bataillon sowie amerikanischen und belgischen ISAF-Truppen die Aufständischen aus dem Raum und ermöglichte darüber die Stromversorgung von sieben Dörfern und einen Straßenausbau durch das Chahar Darah-Tal. Funktionierendes Partnering mit der ANA, ein überlegener militärischer Kräfteeinsatz unter Vermeidung von Zivilopfern, die Abstimmung mit der Bevölkerung durch zwei Shuras (traditionelle afghanische Ratsversammlungen) während der Operation sowie die zügige ressortübergreifende Zusammenarbeit bei Aufbauprojekten ermöglichten den Erfolg der Operation Halmazag.

Durch die Verstärkung der ISAF-Kräfte und die konzertierte Anstrengung der COIN-Kampagne konnten Initiative und Bewegungsfreiheit teilweise zurückgewonnen werden. Der jahrelange Trend ständig zunehmender Sicherheitsvorfälle konnte 2012 erstmalig gedreht werden.

Konterkariert wurden diese Fortschritte am Boden auf der strategischen Ebene durch die Entscheidung von US-Präsident Obama, anderer ISAF-Truppensteller und afghanischer Führung, die ISAF-Kampftruppen bis Ende 2014 abzuziehen. Sollte  ursprünglich die Übertragung der Sicherheitsverantwortung für Provinzen an die afghanischen Sicherheitskräfte nach der jeweiligen Übergabereife erfolgen, wurde nun die Einhaltung des Abzugstermins zum ausschlaggebenden Kriterium. Die Aufständischen brauchten nur noch den Abzug der ISAF-Kampftruppen abzuwarten, um dann die erheblich geschwächten afghanischen Sicherheitskräfte anzugreifen.

Die Jahre 2010/2011 waren die intensivsten des deutschen ISAF-Einsatzes mit rund 160 Feindkontakten, darunter 65 Feuergefechten mit eigenem Schusswaffengebrauch, mit 15 Gefallenen und über 110 körperlich Verwundeten. Insgesamt waren Bundeswehrsoldaten in Afghanistan seit 2002 über 380 Mal mit gegnerischen Angriffen konfrontiert und mindestens 150 Mal standen sie in Schusswechseln und Gefechten. 35 deutsche Soldaten fielen durch unmittelbare Feindeinwirkung, über 260 wurden körperlich verwundet. Die Zahl der seelisch Verwundeten lässt sich nicht präzise benennen, liegt aber um ein Mehrfaches über der Zahl der körperlich Verwundeten. In Afghanistan erfuhren erstmals in der bundesdeutschen Geschichte Tausende Bundeswehrsoldaten alle Konsequenzen ihres Berufes: ständige Bedrohung durch IEDs und Hinterhalte, hoch intensive Gefechte, Verwundung, Tod, Töten.

Von ISAF zu Resolut Support

Die Übergabe der Raum- und Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte und des Übergangs von ISAF zur Folgemission Resolute Support (RS) bestimmte die fünfte Phase des Einsatzes. Sie begann im Oktober 2012 mit der Übergabe des Feldlagers Feyzabad an die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Juni und Oktober 2013 folgten die Übergaben des Außenpostens OP North in Baghlan und des Feldlagers Kunduz. Im Laufe des Jahres 2014 verließen die ISAF-Kampftruppen das Land. Die komplexe Operation der Rückverlegung gelang trotz unfriedlicher Bedingungen ohne (größere) Störungen. Aus dem RC North Stab entstand das „Train-Advise-Assist-Command North“ (TAAC-N), die  Nord-„Speiche“ im „Nabe- und Speichenmodell“ von RS, mit insgesamt 1600 Soldaten.

Am 1. Januar 2015 übernahm Resolute Support den Auftrag einer deutlich reduzierten internationalen Sicherheitsunterstützung: Statt Partnering und Mentoring beschränkte sich der Auftrag jetzt auf Beratung der Korpsebene und des ANA-Ausbildungszentrums ausdrücklich ohne Kampfauftrag (sechste Phase). Die 2017 bis zu 980 Bundeswehrsoldaten kamen vor allem in Mazar-e Sharif, in geringem Umfang in Kabul zum Einsatz. Wie nachhaltig die 120 Berater, davon 80 deutsche, in der schwierigen Militärkultur des 209. ANA-Korps wirken können, ist schwer zu beurteilen. Das gilt genauso für die 60 Beamten des German Police Project Teams.

Parallel zum ISAF-Abzug verschlechterte sich die Sicherheitslage erheblich: Laut UNAMA stieg 2014 die Zahl der Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts sprunghaft um 22% auf 3699 Tote und 6849 Verletzte, 2015 um weitere 4% und 2016 um 3%. Die Zahl der Binnenvertriebenen stieg 2015 auf 1,2 Millionen. Im Nordosten, dem früheren Hauptverant-wortungsgebiet der Bundeswehr, verdoppelte sich 2015 die Zahl der Zivilopfer gegenüber dem Vorjahr vor allem infolge der harten Kämpfe in der Provinz Kunduz. Diese gipfelten im Herbst in einer 14-tägigen Besetzung der Provinzstadt durch die Taliban. Viele Distrikte, die 2010/2011 freigekämpft worden waren, sind inzwischen wieder unter Kontrolle der Aufständischen. Sehr hoch sind die Verluste der afghanischen Sicherheitskräfte: 2016 stiegen sie bis Mitte November im Vergleich zum Vorjahr um 35% auf rund 6800 Gefallene und 11780 Verwundete. Hinzu kommt eine hohe Desertionsquote.

Der politisch einmütig gewollte, terminfixierte ISAF-Abzug hinterließ kein sicheres Umfeld und war mitverantwortlich dafür, dass dem bewaffneten Konflikt so viele Menschen zum Opfer fielen wie nie seit 2002. In der deutschen Politik und Öffentlichkeit war diese Art von „Begleitschäden“ nie ein Thema.

Die düstere Lageentwicklung veranlasste die NATO, die ursprünglich bis Ende 2016 terminierte Mission für unbestimmte Zeit zu verlängern und eine Unterstützung der afghanischen Kräfte durch RS in nichtkinetischen Bereichen zu erlauben. Dem ANA-Gefechtsstand im umkämpften Kunduz wurde ein kleines Beratungselement („Expeditionary TAA“) mit 50-60 Bundeswehrsoldaten beigestellt.

Eine ressortübergreifende und systematische Wirkungsanalyse des deutschen wie des internationalen Afghanistan-Engagements und des Bundeswehreinsatzes gibt es, obwohl häufig gefordert, bis heute nicht.

Die Meinungen über die Wirksamkeit des deutschen ISAF-Einsatzes gehen in Gesellschaft, Politik und Streitkräften weit auseinander: Oft ist die Rede von einer gemischten Bilanz, von überhöhten und verfehlten Zielen, oft auch von Scheitern. Meist wird der Afghanistaneinsatz auf die militärische Komponente verkürzt, werden seine politischen und zivilen Anteile ausgeklammert.

Gleichwohl hatte und hat der Bundeswehreinsatz auch positive Wirkungen und Seiten.

- Zum Ersten hatte er eine hohe Akzeptanz in der afghanischen Bevölkerung und förderte bis 2007 ein relativ sicheres Umfeld im Norden Afghanistans, was vielfältige Aufbaufortschritte ermöglichte (danach Ab- und Aufwärtstrends gleichzeitig in verschiedenen Provinzen).

- Zum Zweiten erlaubte er die - allerdings erst 2006/08 einsetzende - forcierte Aufbauhilfe für die afghanischen Sicherheitskräfte, die teilweise eine eigenständige Operationsfähigkeit erreichten.

- Drittens er ab 2010 zur kurzfristigen Zurückgewinnung vieler von Aufständischen kontrollierter Distrikte im Rahmen der COIN-Offensive.

- Viertens unterstütze er das gut funktionierende multinationale Zusammenwirken von bis zu 19 ISAF-Nationen im RC North.

Im Innenverhältnis erhöhte der Einsatz den Ausbildungsstand und die Einsatzfähigkeit der Bundeswehrsoldaten im gesamten Aufgabenspektrum, vom respektvollen Umgang mit der Zivilbevölkerung bis zur Aufstandsbekämpfung und dem insgesamt kontrollierten Einsatz militärischer Gewalt. Schließlich war der Afghanistan-Einsatz ein enormer Erfahrungsgewinn der Bundeswehr.

Im Laufe der Jahre wurden die Teilfortschritte zunehmend durch wuchernden Terror und Krieg überschattet und infrage gestellt. Das hat eine Vielzahl von Gründen, wie Korruption, schlechte Regierungsführung oder die Rolle Pakistans.

Strategische Fehler der Staatengemeinschaft begünstigten diese Entwicklung.

- Erstens agierte die Staatengemeinschaft jahrelang auf der Basis allgemeiner UN-Mandate ohne klare, gemeinsame Strategie, ja mit konträren strategischen Ansätzen und oft kontraproduktiven Wirkungen: Militärisch beschränkte Terrorbekämpfung versus Sicherheitsunterstützung und Staatsaufbau; unterschiedliche Einstellungen zur afghanischen Eigenverantwortung, zum Umgang mit Warlords und Korruption, zum Einsatz militärischer Gewalt und zum Schutz der Zivilbevölkerung.

- Zweitens litt der deutsche Einsatz an einer unklaren und unüberprüfbaren Zieldefinition sowie am Vorrang innenpolitischer Opportunitätserwägungen auf der politisch-strategischen Ebene.

- Drittens überwog trotz verschiedener Bemühungen um interkulturelle Kompetenz insgesamt ein unzureichendes Verständnis der örtlichen Gesellschaft, der Beziehungsgeflechte und Konflikte. Es führte oft zur Dominanz westlicher Leitbilder mit überhöhten Erwartungen. Die Herausforderungen – Herstellung von Sicherheit und ein entsprechendes Aufbauprogramm in einem kriegszerrütteten Land – wurden unterschätzt.

- Viertens beschränkten knappe Mandatsobergrenzen die Flexibilität und Wirksamkeit des Bundeswehrkontingents. Über viele Jahre war die Aufbauhilfe im Vergleich zum militärischen Mitteleinsatz finanziell und personell schlechter gestellt, was Ausdruck der großen Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit des vernetzten ressortübergreifenden Ansatzes war. Zudem wurden politisch-strategische Wirksamkeitsanalysen stark vernachlässigt. Es gab viel Schönrednerei: In den ersten Jahren überwogen Aufbau- und Machbarkeitsillusionen, seit (richtig: vor und um) 2014 Abzugsillusionen. Dazu wurden die eigenen Beiträge zur Kriegs- und Drogenökonomie als Wachstumsbranche Nr. 1 ausgeblendet.

- Hinzu kam ein Mangel an strategischer Geduld und ressortübergreifender, ehrlicher Kommunikation des Einsatzes. Schließlich wurden erst nach dem Wiedererstarken der Taliban nach einer politischen Konfliktlösung gesucht. Die pakistanische Seite des Gewaltkonflikts wurde in diesem Zusammenhang viel zu lange ausgeblendet.

 

Bilanz

Die Beratungsmission Resolute Support ist, zusammen mit Polizeiberatern, unverzichtbar, damit die afghanischen Sicherheitskräfte nicht schnell zerfallen und die Kriegsgewalt nicht noch mehr eskaliert. Als Rahmennation kommt Deutschland im Norden eine Schlüsselrolle zu. RS ist mit seinem Auftrag und Kräfteansatz aber nicht in der Lage, die prekäre Pattsituation des bewaffneten Konflikts positiv zu wenden.

Ausschlaggebend hierfür ist, wieweit die afghanische Regierung ihre Blockade überwindet, wieweit Nachbarn und Regionalmächte ein gemeinsames Interesse an der Stabilisierung Afghanistans entwickeln und ob Deutschland und die Staatengemeinschaft trotz allem verlässliche Partner bei Sicherheitsunterstützung, Aufbau und Entwicklung bleiben. In keinem Land hat sich die Bundesrepublik Deutschland mit Zehntausenden ihrer Bürgerinnen und Bürger so sehr für Sicherheit, Frieden und Entwicklung engagiert wie in Afghanistan. Trotz einer verbreiteten „Afghanistan-Müdigkeit“ liegt das weitere Engagement im sicherheits- und friedenspolitischen Interesse der Staatengemeinschaft und auch Deutschlands. Die Menschen in Afghanistan und die dorthin entsandten Frauen und Männer brauchen Aufmerksamkeit, Unterstützung und Verlässlichkeit.

Zur jüngeren Entwicklung

- Schlechtere Sicherheitslage, lebensnotwendige Unterstützung, durchhaltende Aufbauprojekte: Bericht von meinem 20. Afghanistanbesuch (Mazar-e Sharif und Kunduz), November 2019, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1613

- UNAMA-Halbjahresbericht I/2019  + jüngste SIGAR-Berichte zu Zivilopfern, Sicherheits- und Risikolage in Afghanistan: Rückgang der Zivilopfer um 27%, aber: Anstieg der Zivilopfer durch Pro-Regierungskräfte um 31%, Anschlagswelle seit Juli, 06.09.2019, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1603

- Einmalige Langzeitstudie zu deutschen Afghanistan-Rückkehrern: Wie verarbeiten sie ihre Einsatzerfahrungen, wie stehen Sie drei Jahre danach zum AFG-Einsatz?, Kommentierte Zusammenfassung der Studie, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1576  

- UNAMA-Jahresbericht 2018 zu Zivilopfern in Afghanistan: Wieder um 11.000 Tote und Verletze, Zahl der Daesh-Opfer mehr als verdoppelt, höchste Opferzahl bei Luftoperationen seit 2009, 28. Februar 2019, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1573

- Erste Kommentare zur Ankündigung eines US-Teilabzuges aus Afghanistan von T. Ruttig, A. Cordesman/CSIS, TOLOnews, Longwar Journal u.a., 23.12.2018, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1566

- „Gehen oder bleiben?“ Mein Vortrag bei der 32. Afghanistan-Tagung in Villigst, 24.11.2018, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1563

- Bundestagsdebatten zur Resolute-Support-Verlängerung/Afghanistan. Nach drei Jahren Beratungsmission in Afghanistan: Klare Sicht? Gemeinsamer Kurs? Langer Atem? Kommentar zu den Bundestagsdebatten über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an „Resolute Support“ am 21.11./12.12.2017, 02.01.2018, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1513

- Statt „weiter so“ im Nebel abwärts in Afghanistan: Endlich kritische Überprüfung, Realismus, strategischer Konsens und Exit-Kriterien. Anmerkungen zur Mandatsentscheidung „Resolute Support“, 21.11.2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1506

- Afghanistan: Wuchernde Fluchtursachen, einzelne Hoffnungsträger – Zur Lagebeurteilung des AA und zur deutschen Zusammenarbeit mit AFG unter Bedrohung, 10.09.2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1495

- Mörderische Woche in Kabul – Mittwoch Lkw-Bombe in Rush Hour im Zentrum, Freitag Demo mit Toten, Samstag 3 Selbstmordattentäter bei Beerdigung, 1./2./3./7. Juni 2017 http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1475

- Mai 2007: Unser Besuch in der Hoffnungsprovinz Kunduz, 14 Tage später Selbstmordanschlag auf dem Markt von Kunduz – Wendepunkt des deutschen AFG-Einsatzes, 14. Mai 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1471   

- Massakerangriff auf afghanische Soldaten in Mazar-e Sharif beim Freitagsgebet: Hierzulande keine Anteilnahme, kein Interesse mehr? 01.05.2017,www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1468


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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