Nach mehr als 40 - nicht 19! - Jahren Gewalt, Krieg, Terror in Afghanistan ENDLICH Frieden in Sicht? Der Tag öffnet die Tür zu innerafghanischen Friedensgesprächen.
Nach 18-monatigen Verhandlungen, siebentägiger Waffenruhe
Abkommen zwischen Taliban und USA unterzeichnet
W. Nachtwei, 29.02./01.03.2020
Mit der „Aprilrevolution“ 1978 und dem Einmarsch sowjetischer Truppen Ende 1979 begannen in Afghanistan vier Jahrzehnte von exzessiver politischer Gewalt, von internationalisierten Kriegen und Terrorismus. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die US-geführte Operation Enduring Freedom und die Nordallianz sollte die UN-mandatierte Internationale Unterstützungstruppe ISAF die Übergangsregierung und den Aufbau des kriegszerrütteten Landes unterstützen. Nicht zuletzt wegen massiver strategischer Fehler der intervenierenden Staaten kehrte Krieg ab 2006 – zuerst im Süden - erkennbar wieder nach Afghanistan zurück. ISAF war zunehmend mit einem Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert, der Stabilisierungseinsatz wurde zur Aufstandsbekämpfung. Als die ISAF-Kampftruppen 2014 abzogen, hinterließen sie kein sicheres Umfeld. Seitdem gab es jährlich über 10.000 im Kontext des bewaffneten Konflikts getötete oder verletzte Zivilpersonen.
Nach 18-monatigen Verhandlungen zwischen den Taliban und den USA und einer weitgehend eingehaltenen siebentägigen Waffenruhe in der letzten Woche wurde in Doha/Qatar das „Agreement for Bringing Peace to Afghanistan“ von den Verhandlungsführern unterzeichnet.
Die Waffenruhe und das Abkommen machen Hoffnung auf einen Rückgang der opferreichen Terror- und Kriegsgewalt. Sie sind ein Türöffner für Friedensgespräche und einen Prozess, wo verlässlicher Frieden allerdings längst nicht garantiert ist, sondern noch erhebliche Risiken und Herausforderungen bewältigt werden müssen.
Jetzt kommt alles darauf an, diese historische Friedenschance bestens zu nutzen. Deutschland kann dazu nicht unerheblich beitragen.
Hier
- der Text des Doha-Abkommens https://twitter.com/1TVNewsAF/status/1233753218854813696/photo/1
- der aktuelle Artikel von Thomas Ruttig, Kabul „Doha-Abkommen: Türöffner für Afghanistan-Friedensgespräche“, erweitertes Fassung seines am 29.09. auf taz-online erschienenen Artikels: https://thruttig.wordpress.com/2020/02/29/doha-abkommen-turoffner-fur-afghanistan-friedensgesprache-taz-29-2-20/
- aktueller Bericht von TOLOnews https://tolonews.com/afghanistan/us-taliban-sign-afghan-peace-agreement-doha
- aktuell auf TOLnews-TV am 28.02., 28 Min.: https://tolonews.com/nightly-news/tolonews-6pm-news-28-february-2020-0
- TOLOnews 01.03. „Reactions to US and Taliban Deal“ und „Balkh Residents Call for Govt Unity to Allow for Peace“ https://tolonews.com/afghanistan/reactions-us-and-taliban-peace-deal ; https://tolonews.com/afghanistan/balkh-residents-call-govt-unity-allow-peace
- After Taliban Deal, Afghans Worry About the Details, New York Times 01.03.2020, und
Why Afghanistan Became an Invisible War, New York Times 01.03.2020, https://www.nytimes.com/topic/destination/afghanistan
UNAMA-Report AFGHANISTAN Protection of Civilians in Armed Conflict 2019, 22.02.2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/22_february_2020_-_afghanistan_10000_civilian_casualties_for_sixth_straight_year_english.pdf
„Parties to the conflict in Afghanistan killed and injured more than 10,000 civilians in 2019, according to a new United Nations report that describes continuing record-high levels of civilian harm in the ongoing conflict.The new report documents 3,403 civilians killed and 6,989 injured, with the majority of the civilian casualties inflicted by anti-government elements. It is the sixth year ina row that the number of civilian casualties has exceeded 10,000.In addition to continuing record-high levels of harm to civilians, civilian casualty figures for 2019 surpassed a grim milestone. After more than a decade of systematically documenting the impact of the war on civilians, the UN found that in 2019 the number of civilian casualties had surpassed 100,000.“
Almost no civilian in Afghanistan has escaped being personally affected in some way by the ongoing violence,” said Tadamichi Yamamoto, the Secretary-General’s Special Representative for Afghanistan and head of the UN Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA). ”The figures outlined in the new report –released jointly by UNAMA and the UN Human Rights Office –represent a five per cent decrease over the previous year, mainly due to a decrease in civilian casualties caused by Islamic State of Iraq and the Levant -Khorasan Province (ISIL-KP). Civilian casualties caused by the other parties increased, particularly by the Taliban (21 per cent increase) and the international military forces (18 per cent increase), mainly due to an increase in improvised explosive device attacks and airstrikes.“
Historischer Rückblick: Die ersten 23 Jahre Gewalt und Krieg in Afghanistan
Putsche, Schreckensherrschaft
1973 putschte sich Mohammad Daud, der Vetter des Königs, mit Hilfe einer kommunistischen Fraktion und in der Sowjetunion ausgebildeter Offiziere an die Macht. Unter seiner autoritären Herrschaft richteten sich Verhaftungs- und Verfolgungswellen gegen die traditionelle und islamistische Elite.
Am 27. April 1978 putschte die Kommunistische Partei (KP) gegen Daud. Die „Aprilrevolution“ soll rund 2.000 Todesopfer gefordert haben. Der radikalere Parteiflügel der Khalq setzte schnell seine Alleinherrschaft durch. Um die Macht der traditionellen Elite zu brechen, verband Khalq härteste Repression gegen alle potenziellen Gegner mit radikalen, an sowjetischen Vorbildern orientierten Reformen, vor allem einer Landreform und einer Alphabetisierungskampagne. Der Zwangscharakter der Radikalreformen (u.a. koedukativer Unterricht) provozierte Widerstand und Aufstände. Der Schreckensherrschaft von Khalq fielen 50.000 bis 100.000 Menschen zum Opfer, beim Aufstand in Herat allein über 20.000, darunter hundert russische Entwicklungshelfer. Als auch in der KP Machtkämpfe entbrannten, fürchtete die Sowjetunion als ihr wichtigster Bündnispartner den Zusammenbruch des Kabuler Regimes.
Um ihren Einfluss in Afghanistan zu sichern, besetzte die Sowjetunion ab Weihnachten 1979 Kabul und die wichtigsten Städte. Schon nach wenigen Wochen standen 85.000 sowjetische Soldaten im Land.
Sowjetisch-afghanischer Krieg
In den Folgejahren wurde Afghanistan zum wichtigsten Schlachtfeld des Kalten Krieges. Was als Blitzinvasion geplant war, traf auf den erbitterten Widerstand breiter Teile der Bevölkerung. Der Islam wurde zum ideologischen Gegenpol der Invasoren, wo sich die Mudschaheddin im Heiligen Krieg gegen den gottlosen Kommunismus sahen und gegen die Invasoren einen sehr wirksamen Guerillakrieg führten. Die USA, Saudi-Arabien und der pakistanische Militärgeheimdienst ISI unterstützten die Mudschaheddin-Gruppen massiv mit Waffen, Geld, Ausbildung und Organisationshilfe. Die USA instrumentalisierten und förderten dabei ausdrücklich den Islamismus. Die sowjetischen Truppen versuchten mit einer Kriegführung der „verbrannten Erde“ (z.B. Bombardierung von Dörfern und Bewässerungssysteme) dem Widerstand seine Basis zu nehmen. In den Städten betrieb die afghanische Regierung eine Politik der Modernisierung und Sowjetisierung der Gesellschaft, was teilweise den Bedürfnissen der städtischen Bevölkerung entgegen kam, so bei der Frauenemanzipation und Bildung. Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, Literatur-Nobelpreistägerin 2015, schildert in ihrem 1989 erschienen Buch „Zinkjungen“ die äußerst grausame Kriegführung aller Seiten in Afghanistan – und wie die sowjetische Führung ihre eigenen Soldaten verheizte und den Krieg vertuschte. 1 bis 1,6 Millionen Afghanen verloren ihr Leben in den zehn Kriegsjahren, auf sowjetischer Seite mindestens 50.000 Soldaten. Die Hälfte der damals 15 Millionen Afghanen mussten fliehen, nach Pakistan allein über 3 Millionen.
Unter dem neuen Generalsekretär der sowjetischen kommunistischen Partei Michail Gorbatschow wuchs in der sowjetischen Führung die Bereitschaft, sich aus dem Afghanistan-Desaster zurückzuziehen. Als die Mudschaheddin 1987 mit amerikanischen Stinger-Luftabwehrraketen 270 sowjetische Flugzeuge abschossen, verstärkte das den Abzugswillen. Am 14. April 1988 unterzeichneten Afghanistan und Pakistan das Genfer Abkommen zur Beendigung des Sowjetisch-afghanischen Krieges mit der Sowjetunion und den USA als Garantiemächten. Am 15. Februar 1989 verließen die letzten sowjetischen Soldaten Afghanistan. Die Garantiemächte setzten ihre Unterstützung der Kabuler Regierung unter Najibullah bzw. Mudschaheddin fort.
Bürgerkrieg und Taliban
Als Moskau 1992 die Finanz- und Militärhilfe für Kabul einstellte, folgte kurz später der Zusammenbruch des Najibullah-Regimes. Das staatliche Gewaltmonopol zersplitterte in Einflussgebiete vieler Warlords und ihrer Milizen. Die Herrschaft der Mudschaheddin stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, der besonders hart in Kabul ausgetragen wurde. Die in der kommunistischen Zeit nahezu unversehrte Hauptstadt wurde jetzt von den „Befreiern“ in Schutt und Asche bombardiert. Bei den Kämpfen in Kabul kamen 60.000 bis 80.000 Menschen um`s Leben. Die Bürgerkriegszeit gilt im kollektiven Gedächtnis der Afghanen bis heute als die schlimmste aller Zeiten.
1994 begann mit der Einnahme des südafghanischen Kandahar der schnelle Vormarsch der Taliban (Religionsschüler), die 1996 Kabul besetzten und das „Islamischen Emirat Afghanistan“ ausriefen. Im Vergleich zu völlig diskreditierten Mudschaheddin galten die Taliban für viele jetzt als Ordnungsfaktor. Die Taliban-Bewegung war in Koranschulen für afghanische Flüchtlinge in Pakistan entstanden und radikal sunnitisch-orthodox ausgerichtet. Der pakistanische Militärgeheimdienst entwickelte sie mit saudischem Geld zu einer Streitkraft, um darüber für Pakistan und Saudi-Arabien in Afghanistan wieder Einfluss zu gewinnen.
Die bisherigen Bürgerkriegsparteien schlossen sich gegen die Taliban in der sogenannten „Nordallianz“ zusammen. Die Kämpfe um Mazar-e Sharif waren besonders opferreich und eskalierten zu Massakern beider Seiten. Die Minderheit de Hazara hatte hierbei die meisten Opfer zu beklagen. Begünstigt durch Zwistigkeiten in der Nordallianz eroberten die Taliban ganz Nordafghanistan. Allein Badakhshan im äußersten Nordosten und das Pandschirtal – 10% des Landes – unter Achmad Shah Massud, dem „Löwen von Pandschir“, blieben ihrer Herrschaft entzogen.
Ziel der Taliban war die Errichtung eines „Gottesstaates“ auf der Basis der Scharia, vermischt mit Normen des Paschtunwali, mit rigorosen Verboten zur Lebensführung (z.B. Rasieren, Musikhören) und Strafen. Hauptleidtragende waren die Frauen, die durch die Burka-Pflicht, Schließung von Mädchenschulen und Arbeitsverbot aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden. Wirtschaftlich wurde Afghanistan unter den Taliban zu einem Drehkreuz internationalen Schmuggels und zum größten Heroinproduzenten weltweit mit 75% Marktanteil.
Fehlende staatliche Strukturen und ideologische Radikalität der Taliban öffneten das Land für globalisierte Netzwerke militanter Islamisten, denen die Taliban Ausbildungscamps boten. Afghanistan wurde zu einem „sicheren Hafen“ für militante Islamisten und „Afghanistan-Veteranen“, die seit Beginn der 90er Jahre in Krisengebieten von Algerien über Balkan und Kaukasus bis Tadschikistan kämpften. Als 1998 Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania 224 Tote und mehrere Tausend Verletzte forderten, identifizierten die USA den Al Qaida Führer Osama bin Laden in Afghanistan als Drahtzieher. Der UN-Sicherheitsrat forderte von den Taliban seine Auslieferung.
(aus: W. Nachtwei, Hintergründe zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan(Prolog), in: Nadine Düe/Fabian Forster (Hg.), Auch. Wir. Dienten. Deutschland. Über die Zusammenarbeit mit afghanischen Ortskräften während des ISAF-Einsatzes, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 10298, Bonn, S. 16 ff.)
Rückblick II: 2001-2019
Vgl. Liste meiner Beiträge + Berichte zu Afghanistan 2001-2019 – Devise: GENAUER HINSEHEN! http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1393
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: