Zum Tod von Wolf Middelmann, Göttingen
20. August 1932 – 27. November 2019
Winfried Nachtwei (09.12.2019)
(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Der ehemalige Französisch- und Erdkundelehrer aus Göttingen engagierte sich seit 1993 in einzigartiger Weise für die Holocaust-Überlebenden im Baltikum. Zusammen mit seiner Frau Hannah besuchte er über 25 Jahre halbjährlich die meist einsamen alten, oft kranken Menschen, mobilisierte für sie verlässliche Hilfe, wurde ihnen zu Freunden. In rund 50 Rundbriefen berichtete das Ehepaar persönlich-konkret und aufrüttelnd von den Schicksalen und der sozialen Situation derjenigen, die unter deutscher Besatzung Unmenschlichstes in Ghetto und KZ erlebten, die meisten Angehörigen verloren – und die danach über Jahrzehnte mit ihren Verwundungen und Verlusten allein gelassen wurden. Mit ihrer verlässlichen Zuwendung und Herzlichkeit haben Hannah und Wolf vielen Holocaust-Überlebenden im Baltikum den Lebensabend gewärmt und verlängert. Sie wurden Judenretter unter heutigen Bedingungen.
Beim politischen Einsatz für eine würdige „Entschädigung“ erlebte ich (MdB ab 1994) Wolf als beharrlichen, herausragenden Berater, „Drängler“ und Ermutiger: mit seinen kritischen Kommentaren, vielen bohrenden, detaillierten Fragen, mit strategischen und taktischen Überlegungen, mit konstruktiven Vorschlägen - und vor allem den vielen eindringlichen Berichten zu Einzelschicksalen.
Mit ihm haben wir einen hartnäckigen Streiter und Praktiker für Menschenrechte verloren, ein lebensfroher Menschenfreund, wenn nötig auch mit berechtigt-gerechtem Zorn. Für diejenigen, die ihn kennenlernen und mit ihm aktiv sein durften, lebt er anders weiter: in lebhafter Erinnerung und als bleibender Auftrag.
2014 erschien von
Hanna und Wolf Middelmann, Dem Judenmord entkommen. Bericht über zwei Jahrzehnte unseres intensiven Austausches mit den Überlebenden des Holocaust im Baltikum mit den Verfolgungsschicksalen von 31 lettischen und litauischen Juden 1941-1945,Villa ten Hompel Aktuell 20, Münster 2014
(Vgl. Göttinger Tageblatt 25.07.2015, https://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/Goettingen/Hilfe-fuer-baltische-Holocaust-Ueberlebende )
Im Folgenden mein Vorwort zu dem Band[1]
Es war ein 9. November, vier Jahre nach dem Mauerfall: Ein Herr Wolf Middelmann meldete sich am Telefon, Französisch- und Erdkundelehrer aus Göttingen, ein Kollege. Er habe am 29. März 1993 im NDR-Fernsehmagazin Panorama von der unglaublichen Tatsache erfahren, dass 138 ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS aus der Bundesrepublik eine Kriegsversehrtenrente bezogen, ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge demgegenüber keinen Pfennig. Er habe der Göttinger Abgeordneten und Bundestagspräsidentin Prof. Rita Süßmuth geschrieben – und eine empörende Antwort erhalten. Im Keller habe er nun zehn Säcke mit Medikamenten von sieben Ärzten. Ob ich Transportgelegenheiten wüsste, wie es mit dem Zoll aussehe.
Das war meine erste Begegnung mit dem Ehepaar Hanna und Wolf Middelmann und ihrem unglaublichen menschlich-politischen Engagements für die Holocaust-Überlebenden im Baltikum.
Erste Spuren
Im Sommer 1989 hatten meine Frau Angela und ich noch zur sowjetischen Zeit erstmalig die lettische Hauptstadt Riga besucht. Im Osten viel Neues: Perestroika in der Sowjetunion, die „singende Revolution“ im Baltikum für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Das gerade in der taz von Anita Kugler vorgestellte Buch „Judenmord in Lettland“ von Bernhard Press führte uns an die Orte des Nazi-Terrors ab Juli 1941.
Wir lernten die Stätten des Massenmordes und der Drangsalierungen der Juden kennen, u.a. das ärmliche Viertel der Moskauer Vorstadt, wo 30.000 lettische Juden im Ghetto zusammengepfercht worden waren und ab Dezember 1941 viele Tausende aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Wir besuchten das Wäldchen an der Bahnstation Rumbula, wo am 30. November und 8. Dezember 1941 ca. 27.000 lettisch-jüdische Ghetto-Gefangene erschossen wurden. Die Überreste der ehemaligen Großen Choralsynagoge. Die Lager „Jungfernhof“ und „Salaspils“. Schließlich die 55 Massengräber im Wald von Bikernieki, wo ab Juli 1941 etwa 35 000 Menschen erschossen wurden, davon ca. 20 000 Juden.
Aufwühlend und unfassbar war, was sich an diesen Orten vor fast 50 Jahren abgespielt hatte. Eine doppelte Schande war, wie sehr die Erinnerung an die Gequälten und Ermordeten verweht und verdrängt war: nirgendwo ein Erinnerungszeichen an sie, die Massengräber von Bikernieki in einem verwahrlosten Zustand. Dass in Riga (und in Minsk und Kaunas) die massenhafte Ermordung der deutschen Juden ihren Anfang nahm, war in der deutschen wie lettischen Öffentlichkeit über ein halbes Jahrhundert praktisch unbekannt!
Wir lernten den Historiker und Ghetto-Überlebenden Margers Vestermanis kennen. Mit der demokratischen Öffnung der baltischen Staaten konnte der 64-Jährige endlich offen die Geschichte der lettischen Juden und des Holocaust in Lettland erforschen. Es war eine Begegnung, die uns nicht mehr losließ.
Als NDR-Panorama im März 1993 den Skandal mit den Kriegsversehrtenrenten für Ex-Angehörige der Lettischen Waffen-SS enthüllte, hielten sich gerade 25 Bürgerinnen und Bürger aus dem Münsterland und Emsland zur ersten Gruppen-Erinnerungsreise in Riga auf – auf den Spuren der aus ihrer Heimat nach Riga deportierten früheren Nachbarn von nebenan. Am Ort der ehemaligen Großen Synagoge an der Gogolstraße legten sie am 31. März im Auftrag ihrer acht Herkunftsorte Kränze nieder. Das war wohl die erste Gedenkveranstaltung in Riga für die über 20.000 vor mehr als 50 Jahren hierher Verschleppten. Bei unserem ersten Treffen sprach Margers Vestermanis von der kleinen Gruppe der Überlebenden: „Das ist ein Häufchen Geretteter in einem Meer von Blut.“ Verzweifelt sei die Lage der meisten Überlebenden, wo alle Ersparnisse durch die Währungsreform (im Verhältnis 200 zu 1!) verloren gegangen waren, wo die Rente gerade für die Miete, nicht für Essen, Heizung und Medikamente reichte.
Die Panorama-Enthüllung von Volker Steinhoff und John Goetz machte deutlich, wie sehr die bundesdeutsche Regierungspolitik weiterhin von Großzügigkeit gegen die Täter und Gleichgültigkeit gegen die Opfer geprägt war – der „zweiten Schuld“ (Ralph Giordano) der jüngsten deutschen Geschichte.
Bundesweit wollten sich BürgerInnen nicht mit dem Skandal abfinden oder auf die Politik warten. Sie wurden selbst aktiv für Holocaust-Überlebende im Baltikum, so in Freiburg Margot Zmarzlik, in Tübingen Waltraud Balbarischky, in Wuppertal Roswitha Dasch, in Leipzig Pfarrer Reinhard Enders, in Bremen Hermann Kuhn, in Hamburg die Gruppe Yad Ruth[2] – und vor allem Hanna und Wolf Middelmann in Göttingen.
Das Engagement von Hanna und Wolf entwickelte sich einzigartig.
Sie sammelten Medikamente und Spenden. Seit Anfang 1994 reisten sie halbjährlich nach Riga, seit 1997 auch regelmäßig nach Litauen und gelegentlich nach Estland, bis heute 41 Mal! Sie brachten den alten, meist kranken, oft tief einsamen Menschen Überlebenshilfe, Zuhören, Herzlichkeit, Verlässlichkeit über inzwischen 21 Jahre. Sie berichteten in Deutschland, in Vorträgen, mit ihrer Wanderausstellung „Dem Judenmord entkommen“, mit ihren Rundbriefen.
Schon der „Rundbrief Nr.1 an die Spender für die überlebenden Juden in Lettland“ vom 20. Dezember 1994(nach der 2. Riga-Reise) offenbarte die menschliche Herausforderung:
„Die Alters- und Gesundheitsstruktur der 112 Mitglieder (2 starben seit Oktober): 10 sind zzt. ständig bettlägerig, (…) 85% aller Mitglieder sind über 70 Jahre alt. Laut Dr. Salzmann, Arzt und Psychotherapeut haben 2 Drittel der ehem. KZ`ler depressive Zustände, Angstsyndrome, traumbedrängte Nächte, ein Drittel leichtere psych. Schädigungen. Ganz ohne entsprechenden Befund: niemand. Regel: Je jünger die Häftlinge damals waren, (bes. 10- bis 16-jährige), desto tiefer liegende Störungen bzw. desto höhere Belastung im Alter. (…)
Trotz jahrelanger Verhandlungen hat sich die gegenwärtige dt. Regierung nicht zu individuellen Hilfen durchringen können. In Aussicht gestellte ´humanitäre` Hilfe, u.a. die in Riga strikt abgelehnte Mitfinanzierung eines Altersheims für die Überlebenden existiert nur in Politikerköpfen und Beschlusspapieren. Praktisch gibt es keine Hilfe (Rundbrief Nr 1).
Einsatz für würdige „Entschädigung“
Beim politischen Einsatz für eine würdige „Entschädigung“ in Bonn waren Wolf Middelmann mit seinen vielen umfangreichen Briefen (allein 15 bis 1997) und Hanna ein beharrliches, herausragendes Berater-, „Drängler“- und Ermutiger-Team: mit den kritischen Kommentaren, vielen bohrenden, detaillierten Fragen, mit strategischen und taktischen Überlegungen, mit konstruktiven Vorschlägen – und vor allem immer wieder den eindringlichen Berichten zu Einzelschicksalen.
- „Wenn ich im Laufe der letzten Monate an die Rigaer und die Entwicklung der Entschädigungsdebatte denke, befallen mich Gefühle der Ohnmacht, Bedrückung, Hoffnungslosigkeit. Das Ausgeliefertsein an die stahlhelmige Betonmehrheit im Bundestag! Die bewusst die in- und ausländischen „vergessenen“ Opfergruppen verschmäht.“ ( Brief vom 1.6.1995) Es folgten Überlegungen zu (a) Wie kommt man an den Egoismus der Konservativen ran? (b) Mögliche zukünftige Orientierung: jüd. Organisationen als Unterstützer, (c) Kontakte zur westlichen, ausländischen Presse, (d) Finanzielles Argument: Zerstörung und Raub durch D, keine Reparationen“
- „Die Einsamkeit so vieler Überlebender: Durch die 65 Jahre seit dem Sommer 1941 stellte sich keine länger andauernde, innere Beruhigung ein, kein „Gewöhnen“ an die Trostlosigkeit des alleinigen Zurückbleibens. (…) Es verwächst kaum etwas. Im Gegenteil: Je später im Ablauf des Lebens, desto mehr, in aufsteigender Leidens- und Erinnerungsintensität, stellt sich bei vielen das Bewusstsein des Verlustes der Angehörigen ein.“ (Rundbrief Nr. 26 vom Dezember 2006)
Zwischen der „Bürgerinitiative Middelmann“ und mir als Parlamentarier entwickelte sich eine einzigartige Form des Austausches, der gemeinsamen Beratung und Zusammenarbeit, eine menschliche Kampfgemeinschaft für die Holocaust-Überlebenden in Riga und im Baltikum.
Mitte 1997, vier Jahre nach Beginn unseres gemeinsamen Engagements, war unsere Bilanz deprimierend:
„Wer einmal an den Orten des Judenmords in den baltischen Staaten gestanden hat, wer einem der wenigen Überlebenden begegnet ist, die damals ihre ganze Familie verloren haben und selbst unermessliche Torturen haben durchmachen müssen, kann sich für die bundesdeutsche Entschädigungspolitik in Richtung Osteuropa nur schämen:
Angesichts ihrer Ignoranz gegenüber dem Lebensschicksal und der Situation der NS-Opfer, angesichts ihres Desinteresses gegenüber der Frage, was von einer „humanitären Geste“ überhaupt bei den Betroffenen ankommt, angesichts ihrer offenkundigen Antriebslosigkeit, zu einer Regelung mit Lettland zu kommen. Ein Überlebender des Rigaer Ghettos, der KZ Kaiserwald, Stutthof und Buchenwald überstanden hatte: „Wir existieren nicht für die Politiker in Bonn!“
Die Vereine der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge verlieren von Monat zu Monat Mitglieder durch Tod und Auswanderung. In wenigen Jahren wird es die Vereine nicht mehr geben. Dann ist das Problem der Entschädigung biologisch „gelöst“.
Am 30. November 1998 schrieb Alexander Bergmann in einem Brief an die Spender:
„Ab 1993 erfuhrt Ihr durch die Zeitungen und das Fernsehen über unsere trostlose Lage. Seitdem habt Ihr das getan, was wir eigentlich vergebens vom deutschen Staat erwarteten. Ihr habt mit Eurem Geld und Sachspenden, mit Euren liebevoll gepackten Lebensmittelpaketen uns unterstützt. Ihr habt aber viel mehr getan. Ihr habt uns den Glauben an die Menschheit wiedergegeben, Zeichen der Solidarität gestellt. Euer aufrichtiges Mitgefühl hat uns erwärmt. Wir übertreiben auch hier nicht, wenn wir behaupten, dass Eure Hilfe Leute vom frühzeitigen Tod gerettet und uns allen Überlebenden Zuversicht für die kurze Zukunft, die uns noch bevorsteht, gegeben habt.“
Angesichts beschämender Entwicklungen auf dem Feld der Zwangsarbeiter-“Entschädigung“ machte ich bei einer Bundestagsdebatte am 15. März 2001 auf diejenigen Bürgerinnen und Bürger aufmerksam,
„die von sich aus schon seit Jahren Verantwortung in dieser Frage übernommen haben. Sie machten ehemalige Zwangsarbeiter aus ihren Regionen ausfindig, organisierten Patenschaften und Besuchsreisen. Sie organisierten Spendensammlungen für ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge sowie für Zwangsarbeiter. Sie nahmen persönliche Kontakte auf, die oft in Freundschaften mündeten. Sie bewiesen persönlich anschaulich und überzeugend an ihren jeweiligen Orten, wie überfällig eine so genannte Entschädigung ist und dass Ressentiments, die sich oft gerade an der Entschädigungsfrage festmachen, die Wirklichkeit absolut entstellen und unmenschlich sind. Beispielhaft für solche Bürgerinnen und Bürger nenne ich das Ehepaar Hanna und Wolf Middelmann in Göttingen (…). Solchen Bürgerinnen und Bürgern hat der Deutsche Bundestag ausdrücklich zu danken.“ (Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Hanna und Wolf Middelmann haben sich in ihrem hartnäckigen Engagement nie entmutigen und nie verhärten lassen. Mit ihrer verlässlichen Zuwendung und Herzlichkeit haben sie vielen Holocaust-Überlebenden den Lebensabend gewärmt und verlängert. Sie setzen das Werk von Judenrettern fort. Sie sind Judenretter unter heutigen Bedingungen.
Ihr Buch DEM JUDENMORD ENTKOMMEN legt davon Zeugnis ab. Ihr Werk ist ein Lebenswerk.
Von Menschen, die hinsahen und zupackten, wo die meisten anderen wegsahen.
Spenden
zugunsten des „Freundeskreis für die Holocaust-Überlebenden im Baltikum“
(IBAN: DE28 2605 001 0100 4994 33 – Kennwort: Wolf Middelmann) “
[1] Zum Autor: ehemaliger Geschichtslehrer aus Münster, 1994-2009 Mitglied des Bundestages (Bündnis 90/Die Grünen), Vorstandsmitglied von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen; Veröffentlichungen zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga, Deutsches Riga Komitee unter www.nachtwe.de
[2] Die „Freunde der Überlebenden des Holocaust“ in Berlin von 1997-2006
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: