David Rohde, später New York Times, stieß im August 1995 aurf die Spuren der Massaker von Srebrenica, recherchierte, sprach mit vielen Überlebenden, Akteuren und Beteiligten auf verschiedenen Ebenen. Sein umfassender, aufwühlender und aufklärender Bericht zum Fall von Srebrenica ist seit Jahren vergriffen. Der Rohde-Bericht ist ein historisches, politisch-menschliches Dokument sondergleichen. Im Folgenden versuche ich ihn in Auszügen wiederzugeben.
Srebrenica - Was damals geschah:
Auszüge aus dem Tag-für-Tag-Bericht „Die letzten Tage von Srebrenica“
von David Rohde (1997). Links zu Dokumenten, Videos von 1995
Zusammengestellt von W. Nachtwei (18. Juli 2020)
(A) Zeitzeugenberichte, Dokumente,Videos
Srebrenica Genocide Memorial Center & Cemetry, https://www.srebrenicamemorial.org/en , 25 years later Srebrenica genocide, Video 1:02 M., https://www.youtube.com/watch?v=blsw0o4N01g
Srebrenica Web Genocide Museum, Virtual Tour, Aljazeera Balkans,
Plattform „Devedesete.net“ (Neunziger): „Learning history that is not yet history“, Unterrichtsmaterialien zu den kriegerischen 1990er Jahren in Ex-Jugoslawien:, erstellt von Historiker*innen und Geschichtslehrer*innen aus Bosnien, http://www.devedesete.net/
„Srebrenica Genocide in eight acts“ Timeline vor 11.07., 11.-16.07., nach 16.07. mit vielen Dokumenten, Fotos, Videos, http://srebrenica.sensecentar.org/en/
Die Zeugin – Christine Schmitz, deutsche Krankenschwester in Srebrenica, DIE SEITE DREI der SÜDDEUTSCHEN am 10. Juli 2015. („Die Zeugin“ von Stefan Klein, http://www.sueddeutsche.de/politik/srebrenica-die-zeugin-1.2558950?reduced=true )
Im März 1995 war die Mitarbeiterin der „Ärzte ohne Grenzen“ aus Tschetschenien zurückgekehrt. Als Ersatz für eine erkrankte Person traf sie am 24. Juni zusammen mit einem australischen Arzt in Srebrenica ein. Am 6. Juli begann der Angriff der bosnisch-serbischen Armee auf die Enklave. Eine Evakuierung war wegen der Bombardierungen nicht möglich. Sie und der Arzt waren die einzigen internationalen und unabhängigen Helfer vor Ort. Sie erlebten die niederländischen UN-Soldaten, die jede medizinische Hilfe verweigerten und keinen einzigen Schuss zur Verteidigung der Enklave abgaben; den Abzug von zehn-, vielleicht fünfzehntausend Menschen, die versuchten sich durch serbische Linien und vermintes Gelände die 80 km nach Tuzla durchzuschlagen; den Rückzug einiger Tausend, hauptsächlich Frauen und Kinder, auf ein verlassenes Fabrikgelände im Weiler Potocari. Hier begegnete Christine Schmitz General Mladic, den sie aufforderte, die Patienten nicht wegschaffen zu lassen. Er reagierte ungehalten – aber die Patienten blieben. Dann begannen die Selektionen, Deportationen.
„Wenn Christine Schmitz heute an Potocari zurückdenkt, dann findet sie, dass es damals durchaus möglich gewesen wäre, den Massenmord zu erkennen, der da in Vorbereitung war. Es fehlte ja nicht an Indizien. (…)“
(B) „Die letzten Tage von Srebrenica – Was geschah und wie es möglich wurde“ von David Rohde, Reinbek 1997, 476 Seiten
Der amerikanische Journalist war im August 1995 als Berichterstatter für „The Cristian Science Monitor“ in Bosnien unterwegs und hörte von Massengräbern, die US-Aufklärungs-flugzeuge in der Nähe von Srebrenica ausfindig gemacht hatten. Er stieß auf erste mutmaßliche Massengräber, befragte in Flüchtlingslagern Überlebende und entdeckte weitere Exekutionsstätten. Für seine Bosnien-Berichterstattung erhielt Rohde 1996 den Pulitzer-Preis. In seinem detaillierten Tag-für-Tag-Bericht schildert er das Geschehen in der Schutzzone und das Verhalten der direkt und indirekt Beteiligten. Im Mittelpunkt stehen die Erlebnisse von sieben Menschen: zwei serbischen Soldaten, zwei niederländischen Soldaten und drei muslimischen Überlebenden. Er verknüpft die aufwühlenden persönlichen Geschichten, die politische und psychosoziale Motivation der direkt Beteiligten sowie das Verhalten der UNO, der NATO, der Europäer und Amerikaner.
Das Buch war vom Autor gedacht als „vorläufiger Bericht über den Fall von Srebrenica“. Er schildert detailliiert aus verschiedenen Perspektiven die Gewalteskalation im eingekesselten Srebrenica, in den Wäldern und an den Exekutionsorten. Da das aufwühlende Buch vergriffen ist, gebe ich im Folgenden wesentliche Passagen wieder. Der Fokus meiner Zusammenfassung liegt auf den Geschehnissen in der „Schutzzone“ und bei den fünf Massaker-Tagen, weniger bei den Kommandoebenen in Tuzla, Sarajevo, Zagreb. Die wichtigen Passagen zum Verhalten der relevanten Regierungen von Washington, New York über Paris und London bis Den Haag (Bonn spielte keine erkennbare Rolle) bleiben außen vor.
Filmmaterial + Fotos zu den verschiedenen Stationen (Chaos in Srebrenica, Flucht nach Potocari, Busevakuierung von Frauen + Kindern, Mladic in Srebrenica und mit NL-Kommandeur, Exekutionsorte + Befehle) auf http://srebrenica.sensecentar.org/en/
Kontext: Bei Ausbruch des Krieges im April 1992 hatte Bosnien 4,3 Millionen Einwohner mit 44% Muslimen, 31% Serben und 17% Kroaten.
„Von den sechs Teilrepubliken Jugoslawiens war Bosnien die mit der meistentwickelten ethnischen Integration. In großen und mittelgroßen Städten waren Mischehen zwischen Serben, Kroaten und Muslimen verbreitet.“ (S. 12) Vor dem Krieg zählte das Bergbaustädtchen „Silberstadt“ im Osten Bosniens unweit der Drina 9.000 Einwohner. Anderthalb Kilometer östlich der Stadt liegt eine Heilquelle. Srebrenica erstreckt sich durch ein drei Kilometer langes und 800 Meter breites Tal, umgeben von steilen Hängen. Die Grenze zu Serbien ist nur 16 km entfernt. 3 km nördlich im Dorf Potocari entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg Fabriken für Autobatterien u.a. „Srebrenica genoss einen Lebensstandard, der dem der Vereinigten Staaten und Westeuropas gleichkam.“ (S. 15)
Kurz nach Ausbruch der Kämpfe 1992 „brachten paramilitärische, nationalistische Verbände aus Serbien die Stadt unter ihre Kontrolle mit dem Ziel, die Muslime aus der Stadt zu vertreiben. (…) Drei Wochen später eroberten sie unter der Führung von Naser Oric, einem 26-jährigen, charismatischen Polizisten, die Stadt zurück.“ Die Serben hielten die Stadt aber eingekesselt. 1993 gingen „bosnische Serben mit der Unterstützung von Truppen, Panzern und Artillerie aus dem benachbarten Serbien zur Gegenoffensive über,“ UN-Lebensmittelkonvois wurden blockiert, US-Maschinen warfen Lebensmittel mit Fallschirmen ab. „Bis Mitte 1993 drängten sich in Srebrenica und dem kleinen Streifen Umland 60.000 muslimische Zivilen.“ (S. 15)
Der Oberkommandierende der UN-Truppen in Bosnien, der französische General Philippe Morillon, suchte ohne Absprache mit New York die Enklave auf und versprach dort spontan den Schutz der UN. Als die muslimische Verteidigung zu bröckeln begann, „verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 16. April die Resolution 819 und erklärte Srebrenica und ein 130 Quadratkilometer großes Umland zur ersten UN-Schutzzone der Welt.“ (S. 16)
Die Forderung von UN-Generalsekretär Boutros-Ghali nach 34.000 Blauhelmsoldaten zur Überwachung der inzwischen sechs Schutzzonen scheiterte an der Weigerung möglicher Truppensteller. Angenommen wurde dann eine „Schutzzonen-light“-Version mit 7.600 Blauhelmsoldaten. Nach Srebrenica wurden 750 leicht bewaffnete UN-Soldaten entsandt, zuerst kanadische, dann niederländische. Ihr Auftrag: Entwaffnung der muslimischen Verteidigungstruppen und „Abschreckung“ gegen bosnisch-serbische Angriffe.
6. Juli
UN-Beobachtungsposten (BP) Foxtrott im Südostzipfel der „Schutzzone“, sechs NL-Blauhelmsoldaten, die mit ihrem Bataillon seit fünf Monaten vor Ort sind: Kurz nach 5.00 Uhr detonieren erste Mörsergranaten in Nähe des BP, der auch den Spitznamen „Urlaub“ hatte, weil dort wenig passierte. (Um 3.15 Uhr wurden auch sechs Raketen über das NL Hauptquartier im Dorf Potocari gefeuert)
Die niederländischen Soldaten der neutralen UN-Friedenstruppe tragen leuchtend blaue UN-Helme, Baretts und Kappen. Der BP Foxtrott ist kilometerweit zu sehen. „Muslimische Soldaten hatten diesen und ein halbes Dutzend andere strategisch wichtige Berge murrend den UN-Truppen übergeben, als Srebrenica zur Schutzzone wurde.“ (S. 28)
Die NL Blauhelme waren Fallschirmjäger, aber nur schwach bewaffnet. Ihre UN-Maxime war, mit ihren Aktivitäten transparent zu sein – und sich damit verwundbar zu machen.
Die Muslime weigerten sich, sich voll entwaffnen zu lassen, und unternahmen nachts Vorstöße in serbisches Gebiet. Gelegentlich schossen beide Seiten aus dem Hinterhalt auf die Niederländer.
„Seit Monaten hatten die bosnischen Serben die UN-Nachschubkonvois blockiert.“ Seit dem 18. Februar war kein Diesel mehr durchgekommen. Die meisten der 13 BP wurden mit Maultieren und Traktoren versorgt. Seit zwei Monaten gibt es keine frischen Lebensmittel mehr.
Nach der ersten halben Stunde Artilleriefeuer ist klar, dass es nicht auf die BP zielt, sondern auf primitive Schützengräben der Muslime. In ca. anderthalb Kilometer Entfernung drei Panzer, zwei Feldhaubitzen und ein Mehrfachraketenwerfer.
„Die Ankunft der UN-Truppen im April 1993 war für die Verteidiger von Srebrenica eine militärische Katastrophe. Die Muslime hatten ihre Einheiten offiziell aufgelöst und die beiden Panzer und die Handvoll Artilleriegeschütze, die sie von den Serben erobert hatten, abgeliefert.“ (S. 31)
Ein alter Weltkrieg-II-Panzer feuert alle halbe Stunde zwei, drei Schüsse auf BP Foxtrott, wenn sich Soldaten auf dem Turm zeigen. Der Postenführer, ein Feldwebel, bittet bei der Kompanie um Luftnahunterstützung oder Erlaubnis zum Rückzug. Der Kp-Chef forderte an, ohne Erfolg. (Genehmigen muss das UN-Oberkommando in Sarajevo.)
Erst um 19.00 Uhr verstummt das Feuer. Ca. 200 Granaten landen am Rand des Lagers oder im Stacheldraht, der Posten bekommt sechs Treffer.
7. Juli
Regen und dichter Nebel, kein Artilleriebeschuss.
8. Juli
UN-BP Foxtrott: Als sich der Morgennebel lichtet, ist wieder die serbische Artilleriestellung zu sehen. Um 11.25 Uhr setzt der Artilleriebeschuss gegen die muslimischen Schützengräben rund um den BP ein, Ab 14.00 Uhr beschießt der T-34-Panzer den BP. Die BP-Besatzung bereitet ihren Rückzug mit ihrem gepanzerten Mannschaftstransportwagen (MTW) vor, als in 100 m Entfernung ein T-54-Panzer auftaucht – und sich ca. 20 schwer bewaffnete serbische Soldaten nähern, darunter einige in Uniformen der berüchtigten Arkan-Tiger. Überraschenderweise winken die Soldaten, kommen näher, Handschlag, zunächst freundliches Gespräch. Dann dringen die Soldaten in den BP ein, nehmen Wertgegenstände und Waffen an sich, durchsuchen den MTW. Um 15.00 Uhr verlassen die UN-Soldaten entwaffnet den BP. Foxtrott ist aufgegeben.
Im 500 m entfernten Schützengraben der Muslime entsteht Panik.
Auf der Asphaltstraße blockieren ein Bauer mit zwei Frauen und zwei Jugendlichen mit Ästen die Straße. „In den vergangenen Monaten hatten muslimische Soldaten die Niederländer gewarnt, dass sie alle Blauhelmsoldaten töten würden, die einen der strategisch wichtigen Beobachtungsposten aufgaben. Viele der Niederländer hatten schon jetzt mehr Angst vor den Muslimen, die sie beschützen sollten, als vor den Serben, die die Enklave belagerten.“ (S. 57)
Als der MTW weiterfährt, wirft der Bauer eine Handgranate. Der MG-Schützen wird am Kopf getroffen. Im UN-Lager in Potocari stirbt er.
Um 17.00 Uhr fahren zwei MTW aus dem UN-Lager die Berge hinauf, um zu erkunden, wieweit die Serben in die Enklave vorgedrungen sind. Mit leuchtend blauen UN-Helmen und weit hörbarem Scheppern der Ketten sind sie ein leichtes Ziel. Die UN-Soldaten treffen auf muslimische Soldaten, Zwei Handgranaten werden Richtung MTW geworfen, der zurückfährt.
Um 18.30 Uhr wird BP Uniform, ein Kilometer westlich von Foxtrott, von serbischen Soldaten umstellt. Die Niederländer werden in das serbische Bratunac eskortiert.
Am heutigen Samstag, 8. Juli, wurden insgesamt 200 Granateinschläge in der Enklave gezählt. Seit Beginn des Angriffs am 6. Juli wurden sechs Menschen getötet und sechs Niederländer als Geiseln genommen. Die Südostecke der Enklave ist voll unter serbischer Kontrolle. Von muslimischer Seite gibt es kaum Widerstand.
Niederländisches UN-Hauptquartier in Potocari: Der NL Bataillonskommandeur Oberstleutnant (OTL) Thomas Karremans kommt zu dem Schluss, dass die Serben nur daran interessiert seien, die Südhälfte der Enklave zu kontrollieren.
Luftnahunterstützung? Wie am 6. Juli lehnt auch heute (um 13.00 Uhr) der Stabschef der UN-Truppen in Bosnien, der NL General Cees Nicolai, die von UN-Kommandeur Karremans angeforderte Luftnahunterstützung der NATO ab. Auch der Oberkommandierende aller UN-Truppen im ehemaligen Jugoslawien, der französische General Benard Janvier, sieht in Angriffen auf BP keinen ausreichenden Grund für den Einsatz von NATO-Kampfflugzeugen. BP seien nicht zu verteidigen, sondern zu räumen. Für Janvier und den Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs, Yasushi Akashi, steht die Neutralität der UN-Truppe an erster Stelle. Im Gegensatz dazu tritt General Rupert Smith, Oberkommandierender der UN-Truppen in Bosnien, dafür ein, „den Serben mit Gewalt entgegenzutreten. Solange man zuließ, dass die Serben UN-Nachschubtransporte blockierten, UN-Schutzzonen beschossen und UN-Beobachtungsposten stürmten, würde sie das nur ermutigen und ihr Verhalten aggressiver machen.“ (S. 44)
Dissens der Westmächte: „Viele offizielle Vertreter Großbritanniens und Frankreichs standen den Behauptungen der Muslime skeptisch gegenüber, dass die Serben, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Alliierten gekämpft und gewaltige Verluste an Menschenleben erlitten hatten, in großem Maßstab Gräueltaten begingen. Unter Führung des britischen Außenministers Douglas Hurt hielten Briten und Franzosen die Sicht der Amerikaner, die in dem Konflikt einen völkermörderischen Aggressionskrieg der Serben gegen die wehrlosen Muslime Bosniens sahen, für ahistorisch, übertrieben und naiv.“ (S. 45)
„Im Mai 1995 erreichte die Auseinandersetzung über Luftwaffeneinsätze ihren Höhepunkt. (…) Die UN-Mission hatte einen Tiefpunkt erreicht. Bosnische Serben blockierten 70% der Hilfstransporte und die UN waren nicht imstande, ihre eigenen Friedenstruppen in den (..) Enklaven (…) zu versorgen. (…) Die erbitterte Spaltung zwischen Briten, Franzosen und Amerikanern über Luftwaffeneinsätze führte zum „Zwei-Schlüssel-System“ von UNO und NATO bei der Bewilligung von Luftangriffen.“ (S. 47)
Am 29. Mai gab Janvier die neuen Richtlinien für Lufteinsätze heraus. Jetzt musste der UN-Generalsekretär selbst bei jedem angeforderten Luftangriff seine Zustimmung geben. Um dafür das notwendige stillschweigende Einverständnis des Sicherheitsrates zu bekommen, konnte es Tage dauern.
9. Juli
Massenflucht vom Süden: Am Morgen strömen von Süden Flüchtlinge in die Stadt: „Großmütter umklammerten mit müden Armen Decken, Taschen und Enkelkinder. Gebeugte alte Männer schoben schweißtriefend Schubkarren voller Kinder und Lebensmittel. Angsterfüllte Mütter führten Kleinkinder an der Hand. Magere Kühe – ein kostbarer Besitz in der langsam verhungernden Enklave – trotteten träge mittenunter ihren besorgten Besitzern einher. (…) Alle zehn bis fünfzehn Minuten pfiffen Granaten und Raketen über ihre Köpfe hinweg und schlugen mit donnerndem Knall ein. Anfangs trieb jeder Einschlag die Herde Menschen auseinander. Mit der Zeit ignorierten die Leute die Gefahr. Zunächst zielten die Serben nicht direkt auf Zivilisten.“ (S. 76)
Militärische Lage: Um 8.30 Uhr beobachten 20 UN-Soldaten demonstrativ sichtbar mit zwei MTW die einzige vom Südostzipfel in die Stadt herunterführende Straße. Die bosnischen Serben halten die Gipfel rund um die Schutzzone, eine ideale Ausgangslage für Artilleristen.
Um 8.45 Uhr die Nachricht dass BP Sierra, der letzte UN-BP der Niederländer in der Südostecke, von den Serben genommen und geplündert worden sei. Wieder werden die UN-Soldaten vor die Wahl gestellt, entweder nach Srebrenica oder ins serbisch besetzte Bratunac zu fahren.
(General Janvier empfiehlt in einem Bericht an den Sicherheitsrat, aus den östlichen Schutzzonen bis auf wenige Fliegerleitoffiziere aller UN-Truppen abzuziehen. Der Sicherheitsrat lehnt die Empfehlung ab, verweigert aber auch eine Truppenaufstockung.)
Gegen 12.00 Uhr neue Lagebeurteilung durch OTL Karremans, dass kurzfristig nicht mit einer Eroberung der gesamten Enklave zu rechnen sei. Er spricht sich gegen die Anforderung von Luftnahunterstützung aus. weil dies die bosnisch-serbische Armee provozieren würde, Srebrenica, die BP und das Lager mit allen Mitteln anzugreifen. „Da die Raketenwerfer mit einer Salve sechs bis 42 Raketen auf einmal losschießen könnten, hätten sie ein Gelände von 4.000 Quadratmetern – die Größe des niederländischen Lagers – in nur 15 Sekunden in Brand setzen können. Seit der Angriff am 6. Juli begonnen hatte, folgten jedem niederländischen Fahrzeug, das die UN-Lager in Srebrenica oder Potocari verließ, sofort Granaten. Auch Häuser außerhalb des UN-HQ in Potocari hatten die serbischen Schützen unter Beschuss genommen. Der Versuch, die Niederländer einzuschüchtern, war offensichtlich, und er wirkte.“ (S. 101)
Rückzüge: Um 13.30 Uhr war erneut ein NL MTW als Spähtrupp nach SO unterwegs, vor dem plötzlich 15-20 serbische Soldaten auftauchten. Diese entwaffneten die UN-Soldaten und weisen sie an, nach Bratunac zu fahren. Die Serben verfügten inzwischen über 20 niederländische Geiseln.
Gegen 15.00 schlagen bei den BP Kilo und Delta, den letzten niederländischen BP im ganzen Süden, Granaten ein. In der Nähe des BP Mike im Norden schlagen ebenfalls mehrere Granaten ein. „Die Serben griffen die UN-BP direkt an. Die Bedingungen für eine Luftnahunterstützung waren erfüllt. Aber OTL Karremans und sein Stellvertreter forderten sie nicht an.“ Sie erlauben den Soldaten, den BP zu räumen. Den Vorschlag des niederländischen Stabschefs bei UNPROFOR in Sarajevo, NATO-Flugzeuge show of force über der Enklave zu fliegen, lehnen beide ab, weil das die Serben aufbringen könne.
Um 16.30 Uhr räumen die UN-Soldaten den Posten Mike. 200 m weiter werden sie von wütenden muslimischen Soldaten und Zivilisten bedrängt und aufgefordert, in den BP zurückzukehren. Als die UN-Soldaten sich weigern, verlangen die muslimischen Soldaten die Übergabe der Waffen und drohen mit Gewehrgranaten. (S. 106)
Zur selben Zeit wird den Besatzungen von BP Delta und Kilo erlaubt, ihren Posten zu räumen. Damit ziehen sich die Niederländer aus der Südhälfte der Enklave zurück, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben.
Um 18.00 Uhr sind die Serben fünf Kilometer in die Enklave vorgedrungen und stehen knapp einen Kilometzer vor Srebrenica. Erstmalig kommt bei OTL Karremans und dem UN-Kommandeur für den NO-Sektor Bosniens der Gedanke auf, dass die Serben vorhaben könnten, die Schutzzone ganz einzunehmen.
Oberst Harm de Jonge, Chef des operativen Planungsstabes in Zagreb, entwirft einen „Plan, nach dem das niederländische Bataillon einen knappen Kilometer südlich von Srebrenica eine Auffangstellung einrichten sollte. Auf den drei Hauptstraßen in die Stadt sollen niederländische Soldaten mit MTW eingesetzt werden.“ (S. 109) Für den Fall des Angriffs auf die Auffangstellung werde NATO-Luftnahunterstützung angefordert. General Janvier und und UN-Sondergesandter Akashi stimmen zu.
Am Abend ruft General Nicolai OTL Karremans an und bespricht mit ihm die für den Folgetag geplante Auffangstellung. Die Warnung mit NATO-Luftunterstützung wird in Zagreb (Luftnahunterstützung bei Angriff auf die Niederländer) und Potocari (massive Luftangriffe auf alle serbischen Truppen in der Enklave) unterschiedlich interpretiert
Bei Sonnenuntergang haben die Serben 30 niederländische Geiseln in ihrer Gewalt und kontrollieren die gesamte Südhälfte der Enklave. Die Frontlinie der Enklave war 30 km lang. „Der Hauptangriff kam offenbar aus Süden und bestand aus vier Panzern und etwa 200 Infanteristen. Mehrere Schlüsselstellungen auf den Bergen an der Ostgrenze (gehalten von muslimischen Soldaten) nahmen die Serben heute unter schweren Beschuss.“ (S. 116)
10. Juli
Bosniakischer Gegenangriff: Um 6.50 startet einen Kilometer nördlich vom ehemaligen BP Foxtrott ein Gegenangriff von 20 bosniakischen Soldaten auf einen serbischen T-54-Panzer und etwa 30 schlafende serbische Soldaten. Einige serbische Soldaten fallen sofort. Die anderen ziehen sich zurück. Rechts und links rückt je ein muslimischer Zug vor. Nach einiger Zeit reagieren die serbischen Kräfte mit massivem Artilleriebeschuss.
Um 7.00 Uhr sind drei der vier Auffangstellungen eingerichtet mit 60 niederländischen Soldaten, sechs MTW`s und vier Fliegerleitoffizieren. Jeder MTW ist mit äußerst präzisen Dragon-Panzerabwehrraketen ausgestattet, die aber nur eine Reichweite von 450 m haben – serbische T-54-Panzer hingegen 1.500 m.
„Den Morgen übernahmen serbische Artillerie und Mörser die Stadt unter den intensivsten Beschuss seit Beginn des Angriffs. (…) Dutzende Sprenggranaten sausten in Häuser, Straßen und Wohnblocks.“ (S. 124)
Die Niederländer melden in der Nacht per Fax 15 serbische Stellungen nach Sarajevo. Es herißt, vierzig Flugzeuge würden über der Adria kreisen.
Dritte Anforderung: „Um 8.55 fordert OTL Karremans zum dritten Mal seit Beginn des Angriffs Luftnahunterstützung an. Die Anforderung wird abgelehnt. Sarajevo teilt mit, Da die Niederländer nicht zu 100% sicher seien, dass die Auffangstellung von Serben beschossen worden sei, seien die Kriterien für Luftunterstützung nicht erfüllt.“ (S. 124) Um 10.30 kreisen vierzig Flugzeuge über der Adria, höchstens sechs davon für Luftangriffe, die anderen als Eskorte und zur Unterstützung.
Um 11.00 Uhr im UN-Hauptquartier in Zagreb: Die Vorbehalte vieler westlicher Offiziere in der UN-Mission gegenüber den bosnischen Muslimen sind erheblich. Manche glauben, diese würden Granaten auf die eigenen Leute abfeuern, um die Serben zu verteufeln und weltweit Sympathien zu gewinnen. „Für diese Behauptungen gab es nie einen Beweis, aber bei manchen hochrangigen Offizieren und UN-Vertretern dass das Mistrauen tief, dass bosnische Muslime versuchten, die UN und die NATO in einen Krieg gegen Serbien zu verwickeln.“ (S. 127)
Kurz nach 11.00 Uhr detonieren Granaten in unmittelbarer Nähe der Auffangstellung nach Westen. Etliche Soldaten stehen unter Schock. Ein britischer Fliegerleitoffizier ist verwundet, ein niederländischer steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Gegen 16.00 Uhr: Von NATO-Flugzeugen ist immer noch nichts zu sehen.
„Als Oberleutnant Egbers die Stadt erreicht, ist er entsetzt über das Chaos. Tausende von Menschen drängen sich auf den Straßen. Hunderte Menschen umringen in Panik sein Fahrzeug und schreien auf Englisch: „Fuck you!“ Schwer bewaffnete muslimische Männer schwenken Gewehrgranaten in der Luft und schreien Egbers zu, er solle nach Süden zu den Serben fahren. Andere versuchen auf das Fahrzeug aufzuspringen und sein Maschinengewehr zu benutzen.“ (S. 13)
Um 18.00 Uhr 80 serbische Infanteristen auf dem Hang oberhalb Srebrenica. Ab 18.30 schießen niederländische Soldaten mit MG über die Köpfe der anrückenden serbischen Soldaten, zusätzlich mit Leuchtgranaten Meldung aus dem UN-HQ in Potocari: Vorbereitung auf einen Luftangriff.
Die Anforderung von Luftnahunterstützung geht um 19.15 Uhr in Sarajevo ein. Der stv. Oberkommandierende unterzeichnet. Um 19.50 Uhr Krisenstab in General Janviers Büro in Zagreb. Ausführliche Beratung. (S. 144-148) Oberst de Jonge: „Dass Sie gestern eine energische Erklärung gegenüber Mladic abgegeben haben und er sie ignoriert, denke ich, dass Sie Luftnahunterstützung anordnen müssen.
„Die Anforderung zur Luftnahunterstützung von 19.00 Uhr war mittlerweile anderthalb Stunden alt. OTL Karremans in Srebrenica rief alle Viertelstunde General Nicolai in Sarajevo an, um zu hören, ob sie endlich bewilligt sei. De Jonge, der die Idee mit der Auffangstellung entwickelt hatte, konnte nicht fassen, wie lange es dauerte.“[1] (S. 147) Rückfrage beim niederländischen Verteidigungsminister, weil jetzt auch das Leben von dreißig niederländi-schen Geiseln auf dem Spiel steht. Verteidigungsminister Joris „Voorhoeve trifft eine der wenigen mutigen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Angriff auf Srebrenica. Er entscheidet, dass das Leben der 30 Blauhelmsoldaten gleichrangig zu betrachten ist wie das Leben von 30.000 Muslimen. Die UN-Schutzzone und die Bevölkerung sollen verteidigt werden. (…) keine Einwände gegen Luftnahunterstützung.“
Weitere Rücksprachen Janviers mit Akashi. Rückzug der Serben vom Berg über der Stadt. Umgekehrt serbisches Ultimatum an die UN. Einzelne Offiziere drängen auf Einsatz. Die Flugzeit nach Srebrenica sei 20 Minuten. General Janvier lehnt Luftnahunterstützung ab. Der serbische General Tolimir hat ihm gerade am Telefon versichert, man habe nicht vor, die Enklave einzunehmen.
Nach Mitternacht teilt OTL Karremans der muslimischen Führung in Srebrenica mit, dass „bis morgen um 6.00 Uhr 40-60 Flugzeuge über Srebrenica eintreffen werden. Es wird einen massiven Luftangriff geben.“ (S. 158)
11. Juli
Warten, Warten: In der Nacht hört das Artilleriefeuert nicht auf. UN-Militärbeobachter zählen 182 Detonationen. Die UN-Soldaten vor Ort erwarten ab 6.00 Uhr NATO-Luftangriffe. Am Vorabend war eine aktualisierte Zielliste an das übergeordnete Kommando gegangen. 6.00, 7.00 Uhr überall Stille. Die Südostecke der Enklave ist in einen regelrechten Schießstand verwandelt. „Auf den drei strategisch wichtigsten Bergen (…) haben serbische Artillerie und Panzer Stellung genommen.“ (S. 166) Der Nebel lichtet sich, um 8.00 Uhr immer noch keine NATO-Flugzeuge. Das UN-HQ in Potocari fordert erneut beim HQ für den NO-Sektor in Tuzla Luftangriffe an, zum vierten Mal seit dem 6. Juli. In der SO-Ecke wird wieder gekämpft.
Um 9.00 Uhr keine Flugzeuge. Bosnisch-serbische Infanterie steht einen halben Kilometer vor Srebrenica. Anruf aus Potocari in Tuzla. Man erfährt, dass die Anforderung von 8.00 Uhr abgelehnt wurde, weil die Niederländer ein Anforderungsformular für Luftangriffe und nicht für Luftnahunterstützung eingereicht hatten. Um 9.45 geht die aktualisierte Anforderung auf dem richtigen Formular von Tuzla nach Sarajevo, die zweimal korrigiert werden muss. Um 10.45 trifft eine korrekte Anforderung in Sarajevo ein. Da war es bereits zu spät.“ Den Flugzeugen, die seit 6.00 Uhr über der Adria kreisten, geht der Treibstoff aus. In zwei Stunden stünden sie wieder zur Verfügung.
Als von Bravo 1 wieder ein MTW den Serben zwecks demonstrativer Beobachtung entgegenfahren soll, revoltieren die niederländischen Soldaten. Auch der Fliegerleitoffizier weigert sich.
Serbische Geschütze nehmen wieder die gesamte Enklave unter Beschuss und vor allem auch Stellungen, wo Fliegerleitoffiziere vermutet werden. BP Mike und BP November am Nordrand der Enklave werden um 11.10 Uhr von Mörsern und schweren MG beschossen.
Als kurz nach 11.00 Uhr die Anforderung zur Luftnahunterstützung in Zagreb eintrifft, zögert General Janvier wieder. Die UN-Truppenführung ist sich immer noch nicht sicher, ob die Serben die ganze Enklave einnehmen wollen. Um 12.05 Uhr unterzeichnet Janvier die Anforderung, vier Stunden nach Eingang. Um 12.06 starten die Flugzeuge in Italien. Sie können frühestens um 13.45 über Srebrenica eintreffen.
Fünf Tage nach der ersten Anforderung wird die inzwischen sechste bewilligt.
Flucht aus der Stadt: „Draußen ziehen Großeltern, Soldaten, Mütter und Kinder in einem unübersehbaren Menschenstrom vorbei. 15.000 Menschen sind auf dem Weg zum niederländischen Lager am Nordende der Stadt, um dort Schutz zu suchen. Schüsse hallen von den Bergen im Süden und Osten der Stadt wider. Über den Köpfen der Flüchtenden zischen Granaten.“ (S. 177)
„Der Rückzug der Niederländer und der Muslime schaukelt sich gegenseitig hoch. Beide Seiten, völlig demoralisiert durch das Ausbleiben der NATO-Flugzeuge, halten die Lage für hoffnungslos. Langsam ziehen die Niederländer in Schritten von jeweils 200 m Richtung Norden zurück. Nirgends gibt es einen entschlossenen Versuch, die Serben aufzuhalten. Eine Handvoll Muslime feuert auf dem Rückzug wie wild auf die vorrückenden Serben. Die Niederländer geben, gemäß Hauptmann Groens Strategie, neutral zu bleiben, keinen Schuss ab.“ (S. 178)
Über der Adria gruppieren sich 18 NATO-Flugzeuge zur Formation, darunter sechs niederländische und amerikanische F-16, zwei F-111 mit Systemen zur Bekämpfung gegnerische Luftabwehr, zwei Tankflugzeuge, eine C-130 als Kommando-, Kontroll- und Fernmeldezentrale, eine AWACS-Maschine und mehrere Eskorten. Die NATO ist eine Stunde hinterm Zeitplan zurück, Eintreffen um 14.30 Uhr.
Srebrenica: Die gesamte Enklave fällt offenbar über die NL Basis her, übe 5.000 Zivilisten. Es „wimmelt von verzweifelten Menschen. Mit beängstigender Geschwindigkeit breitet sich Panik aus.“ Die UN-Soldaten drängen die Menschen nach Norden, zum UN-HQ in Potocari.
Mit Lkw`s sollen Verwundete nach Potocari evakuiert werden. „Doch sobald die Fahrzeuge ins Freie kamen, stürzen sich Zivilisten auf sie. Jüngere Menschen stoßen Ältere von den Lastern. Frauen streiten sich erbittert. Die ersten, die auf dem Lastwagen sind, werden von Dutzenden weiteren zerquetscht, die sich mit Gewalt einen Weg auf die überfüllten Ladeflächen bahnen. Menschen sitzen auf den Dächern. Klammern sich seitlich fest und hängen sogar an der Windschutzscheibe. (…) Je weiter die Serben vorrücken, desto mehr breitet sich in der Schutzzone eine Stimmung aus, in der der nackte Überlebenswille herrscht.“ (S- 180 f.)
Luftnahunterstützung: Um 14.30 Uhr meldet ein Fliegerleitoffizier das Eintreffen von NATO-Flugzeugen, allerdings nur zwei. Es sind zwei F-16 der Königlich-Niederländischen Luftwaffe, eine von einer Pilotin geflogen. Der Fliegerleitoffizier dirigiert die Maschinen zur Straße südlich der Stadt zu einem Panzer. Die F-16 greift im Sturzflug an, wirft eine Bombe. NL Soldaten in der Nähe meinen, „einen brennenden Panzer zu sehen.“ Blauhelmsoldaten jubeln. Mehrfach gehen die beiden Flugzeuge im Sturzflug auf Panzer herunter, werfen aber keine Bomben ab. Eine zieht im Tiefflug über das UN-HQ in Potocari weg und wirft eine zweite Bombe auf dem Berg ab. Dann verschwinden die Flugzeuge. Das Artilleriefeuer geht unvermindert weiter.
Die Flugzeuge hatten keine lasergesteuerten, sondern frei fallende Bomben. Die Serben hatten die Niederländer gehindert, die entsprechende Laserausstattung mit in die Enklave zu bringen.
Zwei weitere amerikanische F-16 haben Schwierigkeiten, geeignete Ziele auszumachen. In Potocari meldet sich ein serbischer Dolmetscher: „Wenn die NATO-Angriffe nicht sofort aufhören, werden alle niederländischen Blauhelmsoldaten in serbischem Gewahrsam getötet. Auch das niederländische Lager in Potocari wird unter Beschuss genommen.“ (S. 188)
Nach Potocari zieht eine gut drei Kilometer lange Kolonne von 13.000 Flüchtlingen, Die Serben nehmen sie nicht unter Beschuss.
Um 15.30 Uhr trifft in Zenica der Vorstand der muslimisch-nationalistischen Demokratischen Aktionspartei mit Präsident Izetbegovic, Armeechef Delic u.a. zusammen. Von Delic`s Ausführungen befassen sich nur fünf Minuten mit Srebrenica. „Dass die Armee den Kommandeur und einen Großteil der militärischen Führung aus Srebrenica abgezogen hatte, erwähnt er mit keinem Wort.“ (S:. 191)
Einmarsch serbischer Soldaten in Srebrenica: Gegen 16.15 dringen Soldaten der Bosnisch-Serbischen Armee in das UN-Lager in Srebrenica ein. „Die erste UN-Schutzzone der Welt ist gefallen. Ein niederländischer und etwa 50 bis 75 muslimische Soldaten sind bei der Verteidigung der Schutzzone getötet worden. Ebenso viele bosnisch-serbische Soldaten sind bei den Kämpfen um diesen wohl überraschendsten Sieg des Krieges gefallen“ (S. 191 f.)
Die niederländische Regierung bittet den zivilen Leiter der UN-Mission, keine weiteren Angriffe zur Luftnahunterstützung zu fliegen.
Um 17.00 Uhr zieht General Ratko Mladic triumphierend in Srebrenica ein: „Wir machen dem serbischen Volk diese Stadt zum Geschenk. Nach der Rebellion der Dahijas (Anm.: serbischer Aufstand, den die Türken 1804 gewaltsam niederschlugen) ist endlich der Zeitpunkt gekommen, Rache an den Türken dieser Region zu nehmen.“ (S. 193)
In Potocari lassen die Niederländer etwa 5.000 Zivilisten auf das Gelände des UN-HQ.
Um 20.30 Uhr wird OTL Karremans von den bosnischen Serben zu einer Besprechung nach Bratunac ins Hotel Fontana zitiert, Hier trifft er auf General Mladic, den Befehlshaber der bosnisch-serbischen Armee. Hier kommt es zu der berüchtigten Szene, wo Karremans und Mladic einander mit Sektgläsern gegenüber zu stehen scheinen.
Um 22.30 Uhr eine zweite Begegnung mit General Mladic im Hotel Fontana,
Kolonne bosniakischer Männer: In Susnjari, im äußersten Nordwesten der Enklave und unweit BP Mike, berät die muslimische Führung der Enklave, welche Route die Kolonne nach Tuzla im Norden nehmen sollte. 10.-15.000 Männer sind auf den Feldern von Susnjari versammelt, nur ein Drittel von ihnen ist bewaffnet. Die Gruppen an der Spitze haben die besten Überlebenschancen.
Susnjari ist von einem Minenfeld umgeben. Die Räumung eines Pfades durch das Minenfeld wird wesentlich schwieriger als erwartet. Der Pfad ist gerade so breit, dass ein Mann darauf gehen kann. „Der ´Todesmarathon`, wie er später heißen sollte, hatte begonnen.“ (S. 207)
12. Juli
Die 42-jährige bosnisch-muslimische Buchhalterin Camila Omanovic aus Srebrenica befindet sich unter 20.000 Flüchtlingen auf dem Parkplatz vor dem UN-HQ in Potocari. Sie wird gebeten, als Vertreterin der Flüchtlinge an einem Treffen mit General Mladic im Hotel Fontana teilzunehmen. Unterwegs begegnet sie vier bosnisch-serbischen Bekannten bzw. Schulfreunden. Diese reagieren abweisend, zum Teil hasserfüllt. (S. 211)
Die Kolonne der Männer aus dem Nordwesten der Enklave ist acht Kilometer lang, einer marschiert hinter dem anderen. Mehr als 20% der Strecke sind gefährlich freies Gelände. Viele Väter gehen neben ihren Söhnen. „Es war ein grausames Gelände. Endlose Berge und Täler zehrten an den Kräften der Männer. Ihre Essensvorräte reichten für einen Tag, aber vor ihnen lag ein sechstägiger Marsch. (…) In regelmäßigen Abständen hallten Artilleriefeuer und Detonationen über die Berge. Gelegentlich pfiffen Gewehrsalven über ihre Köpfe.“ (S. 218)
UN-Basis Potocari: Gegen 13.00 Uhr nähern sich dem UN-HQ ein serbischer Panzer und ein MTW. 20 bis 30 schwerbewaffnete Serben nähern sich. Zwei Kanonen, zwei Panzer, drei Mehrfachraketenwerfer und ein Flak-Geschütz haben die Serben in unmittelbarer Sichtweite des NL-Lagers aufgestellt. OTL Karremans an seine Vorgesetzten: „Ich bin nicht imstande, (a) diese Menschen zu verteidigen, (b) mein eigenes Bataillon zu verteidigen.“ Der einzige Ausweg seien Verhandlungen auf höchster Ebene. (S. 222) „In den Fabrikgebäuden fangen die Serben an, den Niederländern CD`s, persönliche Dinge und andere Ausrüstungsgegen-stände zu stehlen. (…) Eifrig bemüht, die Serben nicht zu provozieren, hatten niederländische Offiziere beschlossen, alle Niederländer zu entwaffnen und die Waffen der Blauhelme in einem der MTW`s zu deponieren.“ (S. 223) Einzelne Serben bieten den Niederländern Schnaps und Zigaretten an.
Erste Selektionen von Männern: Serben beginnen, Männer aus der Flüchtlingsmenge zusammenzutreiben. Angeblich, um sie zur Befragung wegzubringen.
Gegen 15.00 Uhr kommt ein kleiner Laster, von dem serbische Soldaten den Menschen Brot zuwerfen. Ein Fernsehteam filmt die Szene.
General Mladic: Um 16.00 Uhr trifft General Mladic ein. „Vor laufenden Kameras verteilen seine Männer Süßigkeiten an die Kinder. Mladic spielt den liebevollen Großvater. ´Es wird niemandem etwas geschehen. Sie haben nichts zu befürchten. Sie werden alle evakuiert.“
„Evakuierungen“: Es fahren Busse und Laster vor, wenden und parken in einer langen Reihe. Der niederländische Offizier vom Dienst zu Mladic: „Wir werden in keiner Weise kooperieren. Sie dürfen die Leute nicht ohne unsere Erlaubnis wegbringen. Was haben Sie vor?“ Mladic: „Wir bringen die Flüchtlinge an einen besseren Ort. Uns hält nichts auf.“ (S. 231)
Serbische Soldaten zerren Niederländer aus der Blauhelmkette, um Flüchtlinge zu den Fahrzeugen zu treiben. 50 schwer bewaffnete serbische Soldaten stehen 30 weitgehend unbewaffneten Blauhelmsoldaten gegenüber. Muslime hasten zu den Bussen und Lastern und werden von den Serben beschimpft. „Einigen Blauhelmsoldaten werden mit vorgehaltener Waffe ihre Helme und Schutzjacken abgenommen. (…) Die Serben führen die muslimischen Männer weg, die kaum oder gar nicht Widerstand leisten. (…) Die Serben verhaften, verspotten und vertreiben Menschen, die die Niederländer beschützen wollen. (…) Die Demütigung ist komplett.“ (S. 232)
Alte und behinderte Männer werden in ein nahe gelegenes Gebäude getrieben.
Der niederländischer Leutnant van Duijn stößt sich daran, wie die Serben mit den Flüchtlingen umgehen und wird selbst initiativ. Als serbische Soldaten muslimische Männer von ihren Familien trennen und in ein nahes Haus führen, fragt van Duijn nach. Sie würden verhört und überprüft, ob es Kriegsverbrecher seien. Mehrfach protestiert van Duijn am Nachmittag, denn er findet, dass die fortgebrachten Männer zu jung oder zu alt sind. Die Männer werden freigelassen.
UN-Soldaten begleiten einzelne Flüchtlingskonvois, die muslimische Zivilisten tatsächlich nach Zentralbosnien bringen. Bei Durchquerung von bosnisch-serbischem Gebiet “verhöhnen serbische Menschenmengen die Muslime und bewerfen den Bus mit Steinen.“ (S. 239)
„Die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung der Stadt war offenbar von langer Hand geplant.“ (S. 240)
In Potocari verhalten sich die serbischen Soldaten auch gegenüber den UN-Soldaten immer dreister, Pistolen und Schutzjacken werden ihnen abgenommen.
(Zum Bild der Muslime in der nationalistisch-serbischen Propaganda, S. 241 ff.)
Erschießungen: Unter den Augen der Niederländer versuchen fünf muslimische Gefangene zu fliehen. Zwei werden auf der Stelle erschossen, drei ergeben sich. Ein anderer Zwischenfall: Ein mit Pistole bewaffneter serbischer Soldat führt fünf muslimische Männer in das Fabrikgebäude gegenüber der UN-Basis. Minuten später sind fünf oder sechs Schüsse zu hören, und der serbische Soldat kommt allein heraus. „Auch aus den Bergen hinter dem Haus, in das man die alten Männer gebracht hatte, halten Schüsse wieder. Als Leutnant van Duijn und ein UN-Militärbeobachter das Gebäude nachmittags kurz inspizierten, fanden sie nur völlig verängstigte Muslime. Später war aus den Wäldern zwei bis vier quälende Stunden lang systematisches Einzelfeuer von Kalaschnikow-Sturmgewehren zu hören.“ (S. 244)
Eine Kolonne zwischen der Enklave und Konjevic Polje: Neun Stunden haben die Männer bis Kamenica gebraucht. Dreimal mussten sie einen Höhenunterschied von 600 m bewältigen. „Plötzlich sausten Granaten über ihre Köpfe hinweg. Ohne Vorwarnung hallten Schüsse wider. Immer wieder ließen sie Leichen am Wegrand zurück. Eine serbische Mörsergranate war um 13.00 Uhr vor ihnen eingeschlagen und hatte fünf Männer getötet. (…) Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich in der Kolonne Gerüchte über Serben, die sich als Muslime verkleidet hätten.“ (S. 254)
Gegen 20.30 Uhr: Der Hang explodiert. Schreie gellen. Schrapnelle bersten in der Luft und prasseln auf den ganzen Hang nieder. Aus allen Richtungen schießen Automatik-Gewehre. „Männer hetzten den Hang hinunter, hinauf und kreuz und quer. In dem Inferno lassen sie Waffen und Taschen fallen. Männer fallen hin und bleiben keuchend und stöhnend liegen. Träger lassen die Verwundeten zu Boden fallen und suchen im nächsten Gebüsch oder Wäldchen Deckung. Männer, die bergab rennen, stolpern und fallen in dem steilen Gelände kopfüber 50 Meter tief. Die wenigen, die Gewehre haben, wissen nicht, wohin sie schießen sollen, weil das Feuer aus so vielen verschiedenen Richtungen kommt.
Das serbische Flugabwehrgeschütz und der Mörser stehen offenbar auf dem Hang unmittelbar gegenüber der Wiese, auf der 3.000 bis 5.000 Muslime rasteten. Die Kanoniere haben als Ziel eine knapp einen Kilometer breite Lichtung voller Menschen vor sich. (…)
Schließlich liegen mindestens 125 Tote und Hunderte Verwundete auf dem Hang zerstreut. Die Verwundeten bleiben sich selbst überlassen, verurteilt, langsam an ihren Verletzungen zu sterben. Die Lebenden kauern sich schutzsuchend unter das Gebüsch oder rennen panisch durch den Wald. Tausende sind von ihren Verwandten, Freunden oder Führern getrennt. Die zehn Kilometer lange Kolonne ist in zwei Teile gerissen.
Srebrenicas Führung, die an der gut bewaffneten Kolonnenspitze geht, entkommt dem Gemetzel. Als der Überfall aus dem Hinterhalt losbricht, ist die fünf Kilometer weit vorn.“ (S. 255 f.)
Potocari: „Abgrundtiefe Angst breitet sich in Potocari aus. Sie nagt an den 15.000 Muslimen auf den Parkplätzen und in den Fabrikgebäuden; hysterisch, ausgehungert, jenseits der Erschöpfung. Sie lähmt die Niederländer, die vorsichtig die nähere Umgebung der Basis patrouillieren oder sich auf dem Lagergelände verstecken. Und sie berauscht die Raubtiere unter den serbischen Soldaten und Polizisten.“ (S. 257)
„Männer und Jungen verstecken sich unter Decken oder verkleiden sich als Frauen. Junge Mädchen verhüllen ihre Gesichter.“ (S. 258)
13. Juli
An der UN-Basis Potocari: Im Lauf der Nacht beobachtet Camila Omanovic, wie Serben aus der Flüchtlingsmenge an der UN-Basis Dutzende von Männern abholen, vier von ihnen kennt sie. Keiner wird zurückkehren. Am Morgen und Vormittag werden in der Umgebung der UN-Basis mehrere Leichen gefunden: Ein Bauarbeiter, der am Vortag verhört wurde, hat sich erhängt. Ein zweiter Selbstmörder wird in einem Gebäude auf der anderen Straßenseite in einem als Toilette benutzten und verdreckten Raum gefunden. In Fabrikgebäuden rund um die UN-Basis werden weitere Leichen entdeckt: ein erhängtes 14-jähriges Mädchen, das serbische Soldaten in der Nacht vergewaltigt haben, ein Baby, eine alte Frau und zwei alte Männer. Später an einem Bach auf der anderen Straßenseite neun männliche Leichen: alle mit Schusswunden im Rücken und in der Herzgegend.
Die Flüchtlinge, die mittlerweile 36 Stunden ohne Essen vor dem niederländischen Lager verbracht haben, plündern die Gärten und Küchen der naheliegenden Häuser.
Kolonne Richtung Nova Kasaba: „Überall in den Bergen ließen Freunde und Verwandte Verwundete sterbend zurück. Andere irrten orientierungslos umher.“ (S. 274)
In der Kolonne fünf Kilometer voraus an der Landstraße zwischen Nova Kasaba und Konjevic Polje: „Nur ein neun Meter breiter Asphaltstreifen, ein nahezu ausgetrocknetes Flussbett und dahinter ein 200 Meter breites Feld trennen Tausende von Muslimen von der Freiheit. Die meisten Männer aus Srebrenica waren vor dem Krieg unzählige Male durch diese Landschaft gefahren. Jetzt hatte sich das vertraute Tal und die Straße (…) in einen Todesstreifen verwandelt. bewacht von einstigen Freunden, die heute Feinde waren.
Die letzten Flüchtlingsgruppen huschten gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit hinüber. (…) Serbische MTW`s bezogen entlang der Straße Stellung. Verstärkt waren jetzt serbische Fußstreifen im Einsatz. (…) Serben in gestohlenen niederländischen Uniformen patrouillierten in der Umgebung in ebenfalls gestohlenen gepanzerten MTW`s der UN.
Nördlich von Konjevic Polje wurden 17 Gefangene ans Ufer des Flusses Jada geführt. Ohne Vorwarnung eröffneten die Wachen das Feuer. Abseits der Landstraße verschwanden plötzlich die Wachen, die vor einer Gruppe von 25-30 Gefangenen hergingen. Von hinten eröffneten die übrigen Wachen das Feuer. (…)
Dutzende erschöpfter, benommener und unbewaffnete Muslime stolperten bei der Hitze von über 32° C aus den Wäldern. Sie trugen Verwundete auf improvisierten Tragen aus Decken und Baumstämmen. Ihre schweißbedeckten Gesichter waren gezeichnet von Resignation und Angst. Es waren gebrochene Menschen.“ (S. 275)
Lagerhalle in Bratunac mit über 400 Gefangenen: Die Wachen haben es vor allem auf jene Muslime abgesehen, die in Bratunac gut bekannt waren, und auf jüngere und gesündere Gefangene. Diese werden geprügelt, verhört und gefoltert. Einzelnen wird mit einer Axt in den Rücken geschlagen oder die Kehle aufgeschlitzt. (S. 279)
Fußballplatz in Nova Kasaba: „Tausende muslimische Männer knien auf dem Platz, die Hände übe dem Kopf, ihre Blicke gesenkt. Serbische Soldaten brüllten etwas. (…) Hier liegt etwas in der Luft, ein deutlicher Unterschied zu den serbischen Soldaten, die die Enklave eingenommen hatten. Viele gehören anscheinend zu den Drinawölfen. (…) Viele der Männer gehören nicht zu den großspurigen muslimischen Soldaten (…); es sind stolze, eigensinnige Bauern, vor denen sie Respekt haben.“ (S. 284)
UN-Basis Potocari: Im Laufe des Nachmittags leeren sich die Fabrikgebäude allmählich. Im Lager der noch 5.000 Muslime breitet sich Resignation aus.
Gefangene auf einer Wiese an der Straße von Bratunac nach Konjevic Polje: Unter den 1.000 bis 2.0000 muslimischen Gefangenen sind auch Männer, die sich nach dem gestrigen Hinterhalt von Kamenica ergeben haben. Nach einer Rede von General Mladic marschieren die Gefangenen in Kolonne nach Kravica, bewacht von Soldaten mit Kalaschnikow`s. Die Gefangenen werden in drei Betonlagerhallen gebracht, die sonst als Scheunen genutzt werden.
Die Männer, die der Tür und den Fenstern am nächsten sitzen, sind vermutlich bestürzt, als sie sehen, wie die Serben ihre Gewehre heben. Sie stehen vor den Fenstern und Türen, eröffnen plötzlich das Feuer und werfen Handgranaten in die Halle. Im Innern bricht Chaos aus. Männer schreien, als ihnen klar wird, dass sie in der Falle sitzen. Andere heulen auf, als Granatsplitter und Kugeln sie treffen. Die wenigen, die über die Leichen springen und ins Freie gelangen, werden niedergemäht. Mit ohrenbetäubendem Lärm explodieren Hand- und Gewehrgranaten im Innern der Scheune. Leichen werden völlig zerfetzt. (…) Lebende verstecken sich unter den Toten.“ (S. 292)
„Muslime jagen“: Nach dem Hinterhalt von „Kamenica hatten Serben in kleinen Gruppen angefangen, in der Todeszone der Landstraßen „Muslime zu jagen“. Schwer bewaffnete Serben durchstreiften die Wälder, legten Minen, versteckten Sprengladungen und schossen aus dem Hinterhalt auf muslimische Soldaten und Zivilisten.“ (S. 293)
Nova Kasaba: „In der Umgebung patrouillieren Hunderte von Serben, teils mit Hunden, um Muslime aufzuspüren. Viele von ihnen gehören zu den Drinawölfen. (…) Im Laufe des Abends sind vom Fußballplatz und aus den Wäldern im Norden Gewehrschüsse zu hören. (…) Gegen 2.30 Uhr werden vom Fußballplatz einzelne Schüsse. nicht von einem Feuergefecht – gehört. Da geht anderthalb Stunden so.“ (S. 307)
14.07.
Turnhalle in Grbavci: Ein Konvoi mit sechs Bussen, darunter einer mit alten und invaliden Männern, wartet auf halbem Weg zwischen Bratunac und Zvornik im neuerdings bosnisch-serbischen Gebiet. In Kalesija soll ein Gefangenenaustausch stattfinden. Die Busse fahren durch Zvornik, wo früher zu 59% Muslime lebten und inzwischen alle Moscheen gesprengt worden sind. Statt nach Kalesija fahren die Busse in das Dorf Grbavci. Die 296 Gefangenen kommen in eine heruntergekommene Turnhalle. Weitere Konvois lassen die Zahl der Gefangenen in der Turnhalle auf 1.000 bis 1.500 steigen. „Ein Drittel der Männer sitzt anderen auf dem Schoß. Man befiehlt den Muslimen, ihre Hüte, Hemden und Jacketts am Eingang auszuziehen. Vor der Turnhalle liegt ein großer Kleiderhaufen, den die Serben nach Wertsachen durchsuchen.“ Drinnen ist es unerträglich heiß. Gefangene werden ohnmächtig. In Abständen werden jeweils 15-20 Gefangene in einen Nebenraum geführt. Ihnen werden die Augen verbunden. Sie erhalten einen Schluck Wasser und werden durch eine Seitentür hinausgeschoben und dann auf die Ladefläche eines kleinen Lasters geführt. Nach etwa dreiminütiger Fahrt zerren serbische Soldaten die desorientierten Gefangenen aus dem Fahrzeug, Der 25-jährige bosnisch-muslimische Soldat Mevludin Oric aus Sarajevo, einer der sieben Hauptzeugen von David Rohde, überlebt zufällig die Exekution und erinnert sich. (S. 318 ff., S. 330 ff.)
Fünf Stunden später werden auch den letzten 20 alten Männern die Augen verbunden. Ein kleiner Laster bringt sie in den Wald. „Hurem Suljic starrt fassungslos hinaus. Hunderte tote Muslime liegen in Reihen am Boden. Neben den Leichen stehen fünf Soldaten. Ein Bulldozer hebt ein Massengrab aus. (…) Einer aus dem Exekutionskommando weist mit dem Fuß an die Stelle, wo die 20 Großväter und Invaliden sich hinstellen sollen. Es ist eine Stelle am Ende einer Reihe mit Leichen. „Umdrehen!“ brüllt der Serbe. „Nicht umgucken!“ Als Suljic an seinen Platz neben seinem Schwager und seinen Freund humpelt, spürt er lediglich Resignation. Keine Erinnerungen, keine Abschiedsgefühle erfüllen ihn. Sein Kopf ist leer.“ (S. 323) Dann die Schüsse. (…) Sujic spürt keinen Schmerz. Die Serben haben das Feuer eingestellt. Ein Mann, der auf seine Beine gefallen ist, ist nur verwundet. (…) Suljic schlägt die Augen auf. Rechts von ihm liegen keine Leichen. 50 Meter weiter sieht er fünf Soldaten des Exekutionskommandos ihre Gewehre nachladen. In Reihe stapeln sich dort verrenkte Leichen.“ Der Lastwagen kommt alle 10-15 Minuten wieder, „und das Exekutionskommando arbeitet zügig. Sobald die Gefangenen vom Lastwagen weggetreten sind, beginnt die Erschießung. Die meisten Verwundeten werden ebenso zügig getötet. Manche treiben Spott mit den Verwundeten, bevor sie sie erschießen. „Wenn du dich nicht wohl fühlst, kann ich deine Wunde verbinden“ Jeder, der auf das Drängen des Serben etwas sagt oder stöhnt, wird sofort erschossen.“ (Sujic liegt unter Leichen und kann nach Ende der Erschießungen fliehen; S. 325 ff., S. 330 ff.)
UN-Basis Potocari: „Aus Angst davor, dass die Serben die Niederländer nicht abziehen lassen könnten, ließen sich die UN auf Mladic`s Forderung ein, die Serben für den Treibstoff zu entschädigen, den sie für die „Evakuierung“ der Muslime aus Srebrenica gebraucht hatten. Sie bekommen den Treibstoff unentgeltlich. Letzten Endes stellen die Vereinten Nationen den Diesel für die Vertreibung von 40.000 Menschen zur Verfügung, die sie zu schützen versprochen hatten.“ (S. 320)
Schule von Dulic/Roter Damm: Mehrere Hundert muslimische Gefangene aus Bratunac werden in die bereits überfüllten Klassenzimmer der Schule von Dulic gezwängt. Die meisten Männer wurden beim Hinterhalt von Kamenica und beim Versuch, die Landstraße zu überqueren, gefangengenommen. Viele von ihnen waren auf dem Fußballplatz von Nova Kasaba gewesen. Gegen 20.00 Uhr werden zwei Dutzend Gefangene in ein kleines Klassenzimmer geführt, wo sie die Hemden ausziehen müssen, gefesselt und auf einen Kleinlaster geschafft werden. Weitere Gefangene werden auf weitere Laster gebracht. Die Lastwagen halten auf einem Kiesplatz hinter einem großen Erdwall („Roter Damm“). „Dort wartet ein halbes Dutzend serbischer Soldaten. Sie zwingen die Muslime, sich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde zu legen. , und erschießen sie. Ununterbrochen kommen Lastwagen. Die Exekutionen dauern sechs Stunden.“ (S. 324)
16. Juli
Bauernhof in Pilica bei Zvornik: Der Hof liegt auf einem malerischen Hochplateau. In allen Richtungen sieht man Hügel mit Kornfeldern und vereinzelt andere Bauernhöfe mit roten Ziegeldächern. Ein Arsenal an Waffen und Munition ist vor Ort. Nach 9.30 Uhr trifft der erste Bus ein. Zehn muslimischen Männern, vom Jugendlichen bis zum 70-Jährigen, werden die Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Eine achtköpfige Gruppe der bosnisch-serbischen Armee mit Feldwebel Drazen Erdemovic soll die Exekution durchführen. Der Feldwebel protestiert, er wolle nicht mitmachen. Der Gruppenführer: „Wenn sie Ihnen leid tun, können Sie sich ja dazu stellen.“ Der 23-jährige Feldwebel und seine Gruppe schießen. Die nächsten zehn Männer, die nächsten …
Bevor die letzte Gruppe exekutiert wird steigt der Gruppenführer in den Bus und reicht dem Fahrer eine Kalaschnikow, Er wollte kein Gerede riskieren. Jeder sollte Mitschuld tragen. (S. 335 f.)
Inzwischen werden den ankommenden Gefangenen nicht mehr die Augen verbunden und die Hände gefesselt. „Bis sie an die Reihe kamen, saßen sie im Bus und mussten die Schüsse mitanhören. Manche mussten 20 Minuten gegen ihre Angst kämpfen. Jeder sah dem Tod auf seine Weise entgegen. Manche bettelten, sie zu verschonen (…). Andere versprachen Geld. Einige wenige brachten den Mut auf, ihre Henker zu verfluchen. Andere fielen auf die Knie und beteten.“ (S. 337) Gegen 15.30 Uhr treffen zehn serbische Soldaten ein. „Mit sadistischem Eifer machen sich die Serben aus Bratunac an die Arbeit. Sie zerren die Muslime aus dem Bus und schlagen mit Eisenstangen auf alle, auch auf solche Opfer, die sie persönlich kennen. Dann zwingen sie die Gefangenen, sich auf den Boden zu knien und in der traditionellen muslimischen Haltung zu beten. Als sie die Köpfe senkten, eröffneten die Serben das Feuer.“ Erdemovic schätzt, dass seine Gruppe an diesem Tag 1.000 bis 1.500 Menschen hingerichtet hat. (S. 339)
Auf der Rückfahrt von Erdemovic`s Gruppe „fingen die anderen an zu trinken. Stanko Savanovic prahlte, wie viele Muslime er erschossen hatte. Sein 17-jähriger Bruder, sagte er, war 1993 im Kampf gegen die Muslime gefallen, aber er hatte ihn gerächt und heute 250 Muslime getötet. Erdemovic hatte etwa siebzig Menschen getötet. Schweigend saß der 23-Jährige dabei, als die anderen seiner Gruppe anfingen zu singen.“ /S. 342)
Freilassung der 55 niederländischen Geiseln: Die bosnischen Serben hatten sie gefangen genommen – bei Einnahme von BP, bei Umstellung von MTW. Als Geiseln erging es ihnen besser als vorher als Blauhelmsoldat. Bei der Rückfahrt waren ihnen etliche Spuren von Massenerschießungen begegnet. Sie berichteten „hohen niederländischen Offizieren und UN-Ermittlern, was sie gesehen hatten – aber auf ihre Zeugenaussagen erfolgte keine öffentliche Erklärung.“ (S. 339)
Weitere Informationen
- Srebrenica vor 25 Jahren (I): Es war Völkermord in Europa – und die Regierungen und Gesellschaften (wir damals) ließen es geschehen. Übersichtsartikel, Dossiers, Chronologie, 04./08.07.2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1644
- Srebrenica vor 25 Jahren (II): Verweigerte Schutzverantwortung – Anstoß zur Schutzverantwortung. Beiträge aus dem Bosnien-Streit der Grünen 1995 ff. – Erfahrungen + Lehren, 04./08.07.2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1645
- Medienberichte zum 25. Jahrestag des Srebrenica-Genozid Juli 2020 (IV) + Report des UN-Generalsekretärs „The fall of Srebrenica“ (1999), http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1648
[1] 13 Jahre später war Harm de Jonge als Generalmajor neun Monate stv. Kommandeur des ISAF Regional Command South in Kandahar, wo ich ihn im August 2008 auf dem Weg nach Uruzgan aufsuchte. 11/2008 bis 07/2010 war de Jonge Kommandierender General des Deutsch-Niederländischen Corps in Münster. Der Einsatz eines niederländischen Kontingents in der konfliktreichen Süd-Provinz Uruzgan ab März 2006 zeigte, wie konsequent die NL Streitkräfte aus dem multinationalen Versagen von Srebrenica gelernt hatten. Das zeigte sich insbesondere bei den Kämpfen im Chora Valley im Juni 2007, als mehr als 800 Taliban einen kleinen Stützpunkt mit 65 niederländischen und 40 afghanischen Soldaten angriffen. Der niederländische Kompaniechef war in Srebrenica gewesen. Näheres http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=997
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: