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Jüngste Informationen + Einschätzungen zum Tornado-Streit

Veröffentlicht von: Webmaster am 13. März 2007 23:07:32 +01:00 (95142 Aufrufe)
Winfried Nachtwei befasst sich im folgenden Positionspapier mit den neuesten Informationen und Einschätzungen bezüglich des vom Deutschen Bundestag beschlossenen Einsatzes von Tornados im südlichen Afghanistan. Hier seine Ausführungen:

Jüngste Informationen + Einschätzungen zum Tornado-Streit

(Winfried Nachtwei, 13.3.2007)

Vorbemerkung

Seit Bekanntwerden der NATO-Anfrage betonte ich auf der Sachebene immer zwei Schlüsselfragen:

  • (a) Kontext Militärstrategie: Sind die Tornados Teil einer aussichtsreichen und verantwortbaren oder einer kontraproduktiven Militärstrategie und Art der Aufstandseindämmung bzw. -bekämpfung?
  • (b) Kontext Afghanistan-Strategie: In welcher Relation stehen die Tornado-Kosten zu den Gesamtinvestitionen in den Aufbau Afghanistans und zum allseits geforderten Strategiewandel?

Während die Unausgewogenheit der zivilen und militärischen Anstrengungen inzwischen ausgiebig thematisiert wurde, kam der Kontext der Militärstrategie(n) und Operationsführung(en) in den Unruheprovinzen und der Tornado-Kampfunterstützung dafür fast gar nicht zur Sprache: Das wurde bisher begünstigt durch eine Bundesregierung, die den Teilauftrag Kampfunterstützung beschönigt und die reale Lage im Süden beschweigt. Das wird begünstigt durch den allgemeinen Informationsnebel über den Konfliktprovinzen. Und beim fraktionsoffenen Abend der Bundestagsfraktion am 27. Februar präsentierten zwei hervorragende Militärs (der holländische Ex-Kommandeur eines Wiederaufbauteams in der Krisenprovinz Uruzgan und der Generalinspekteur, dazu ein ziviler Afghanistanexperte) wohl sehr gut die aussichtsreiche und kluge Variante von ISAF (wie sie in Uruzgan und im Norden praktiziert wird), konnten aber in ihrer Rolle nicht offen und nur in Andeutungen zu angelsächsischen Verbündeten bzw. der Entwicklung auf den NATO-Hochebenen sprechen.

(1) Feldstudien zu Aufstands- und Drogenbekämpfung im Süden

Die Feldstudien von Senlis Council (London/Paris/Brüssel/Kabul) zu den Provinzen Helmand, Kandahar, Zabul sind in ihrer empirischen Art einmalig. (Senlis Council ist zugleich in Afghanistan wegen seiner Fixierung auf die Opiumlegalisierung umstritten) Die Kernaussage der jüngsten Studie ist, in diesen Provinzen habe es im letzten Jahr mehr Zerstörung als Aufbau gegeben, es seien Freunde verloren und Feinde gewonnen worden. Besonders deutlich wird die Art der Luftkriegsführung kritisiert. Diese Studien sind seit Sommer 2006 im Netz frei zugänglich. Der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr waren diese Studien bei dreimaliger (!) Nachfrage meinerseits im Verteidigungsausschuss in den letzten drei Wochen nicht bekannt. Erst als ich das Thema vor der Tornado-Abstimmung zum 4. Mal im Ausschuss ansprach, versprach der Minister eine Stellungnahme!

2) Die Afghanistan-Expertin Dr. Citha Maaß schreibt in ihrer SWP-Studie „Afghanistan: Staatsaufbau ohne Staat?" vom Februar: Der „seit Ende 2001 im Süden, Südosten und in den östlichen Grenzprovinzen aggressiv vorgetragene OEF-Kampfeinsatz hat eine Entfremdung der paschtunischen Bevölkerung bewirkt. Die von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung begleitete US-geführte „Operation Mountain Thrust" von Mai bis Juli 2006 hat die Entfremdung ebenso vertieft wie die anschließende ISAF-Operation „Medusa". Zugleich dürfte das rigorose Vorgehen der USA gegen Mohnanbau und Drogenhandel in den südlichen Drogenhochburgen eine stillschweigende Duldung oder sogar Kooperation im Jahr 2006 mit den seit Winter 2005/6 erstarkten grenzüberschreitend agrierenden Aufstandsgruppen begünstigt haben. (...) Die verwirrenden und teils widersprüchlichen Mandate und Vorgehensweisen der internationalen Militäreinheiten haben verhindert, dass sie weithin akzeptiert werden. Da sie das Image neutraler Militärkräfte bis zu einem gewissen Grad eingebüsst haben, werden militärische Rückschläge oder Übergriffe auf die Zivilbevölkerung auch ihnen angelastet. Insgesamt wird ihre Rolle zusehends zwiespältig gesehen, doch unterscheidet sich die Wahrnehmung in den einzelnen Regionen deutlich und eröffnet auch unterschiedliche Handlungsspielräume. So gilt es im Süden und Südosten zu verhindern, dass die Entfremdung in offene Ablehnung von dann als Besatzern perzipierten Truppen umschlägt. Dagegen ist es im Norden und Westen gelungen, en Dialog mit der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und das Vertrauen in die Schutztruppe zu bewahren. Als Gradmesser für das Ausmaß des Vertrauens kann die Bereitschaft der lokalen Bevölkerung dienen, den internationalen Truppen zuverlässige Hinweise auf geplante Anschläge oder über Nacht gelegte Minen zu geben." (S. 27)

(3) In ihrer SWP-Kurzstudie „Eskalation in Afghanistan und der Tornado-Einsatz" (Feb. 2007) stellt Citha Maaß die Tornado-Debatte in den Kontext des Richtungsstreits innerhalb der NATO. Auf dem NATO-Gipfel in Riga im November „wurde eine neue ,umfassende` Strategie gefordert, die die militärische Bekämpfung der Neo-Taliban und ihrer Hintermänner durch eine politische Initiative ergänzen soll. Mittels wirtschaftlicher Entwicklungsprojekte will man das Vertrauen der Bevölkerung insbesondere in den südlichen Provinzen zurückgewinnen und deren starke Abhängigkeit von der Drogenökonomie verringern.

Seit Jahresanfang 2007 setzte man jedoch nach dem Motto ´more of the same` unbeirrt weiter auf militärische Lösungen. Ob auf der NATO-Tagung der Außenminister in Brüssel Ende Januar 2007 oder bei anderen Konferenzen: Die USA übten Druck auf ihre Bündnispartner aus, noch mehr Waffensysteme und Truppeneinheiten zur Verfügung zu stellen." (S.3) C. Maaß konstatiert eine Diskrepanz zwischen der beabsichtigten Revision der Stabilisierungsstrategie und dem tatsächlichen Forcieren einer primär militärischen Bekämpfung der aufständischen Gruppen.

(4) Thomas Ruttig, viele Jahre in Afghanistan für UN, dt. Botschaft und andere tätig, jetzt an der SWP, schreibt in seiner SWP-Kurzstudie „Musa-Qala-Protokoll am Ende" (Feb. 2007): „Infolge einer vermutlich gezielten militärischen Eskalation ist der Versuch der ISAF misslungen, durch indirekte, über Stammesführer vermittelte Abmachungen mit lokalen Taliban eine Stabilisierung kleinerer geografischer Einheiten in Süd-Afghanistan ((in der Provinz Helmand)) zu erreichen. (...) Nach 142 Tagen beendete Anfang Februar 2007 eine militärische Eskalation - Luftangriffe auf örtliche Taliban-Führer und ein Gegenschlag der Aufständischen - den ersten Versuch der ISAF/NATO-Truppen, indirekte Absprachen mit den Taliban zu treffen." (S. 1)

Hintergrund seien tief greifende Meinungsunterschiede zwischen Großbritannien und den USA über den Umgang mit den Taliban. „Ende 2006 brachten US-Vertreter erstmals öffentlich ihre Sorge zum Ausdruck, dass das Protokoll den Taliban de facto die Kontrolle über Musa Qala verschaffe, und traten deshalb für ein ´robustes` Vorgehen ein. Ausschlaggebend dafür scheint der zu diesem Zeitpunkt bereits gefallene Entschluss Washingtons gewesen zu sein, im Frühjahr eine Anti-Taliban-Offensive und gleichzeitig eine härtere Anti-Drogen-Kampagne zu starten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den Luftangriffen vom 31. Januar um eine gezielte Provokation handelte, die das Musa-Qala-Protokoll aushebeln und in der Drogenhochburg Helmand ´freies Schussfeld` schaffen sollte. Diese Annahme liegt umso näher, als die USA im Oktober 2006 mit ähnlicher Taktik ein Abkommen zwischen pakistanischen Taliban und der dortigen Regierung in der Bajaur Agency verhinderten. Am Tag vor der Unterzeichnung griffen sie eine Koranschule an, wobei 82 Menschen ums Leben kamen." (S.. 2/3)

„Der Fehlschlag des Musa-Qala-Protokolls hat Konsequenzen weit über den Distrikt hinaus. Beide Seiten haben Frühjahrsoffensiven angekündigt, die eine verschärfte militärische Konfrontation erwarten lassen." Auf beiden Seiten geben „derzeit jene den Ton an, die eine militärischer Konfrontation der schwierigen Suche nach alternativen Konfliktregelungen vorziehen. Die Aushebelung des Protokolls wird sich vermutlich auch auf ähnliche Abmachungen negativ auswirken, wie sie etwa in den Nachbardistrikten Nauzad und Sangin oder in der Ost-Provinz Kunar existieren." Fatal sei, dass die Rolle der Stammesführer untergraben werde, die eine soziale Schlüsselgruppe seien, die die Bevölkerung von einer Parteinahme für die Taliban abhalten könne.

(5) Ein in Sicherheitspolitik und Afghanistan erfahrener Journalist berichtete mir vorletzte Woche von seinem jüngsten Afghanistan-Besuch - der enormen Kluft zwischen den sehr ernüchternden und irritierend-kritischen Erfahrungen/Lageeinschätzungen vor Ort und dem Grad an Beschönigung, ja Realitätsverlust in „Berlin", wo man nicht angemessen Gehör finde.

Afghanistan-Praktiker, die sich öffentlich gegen den Tornado-Einsatz wenden, melden Zuspruch von aktiven, Afghanistan-erfahrenen Stabsoffizieren der Bundeswehr - allerdings immer mit der Bitte um Anonymität.

Wie ich schon in meinen „Antworten auf das Beratungspapier ´Tornados nach Afghanistan?`" schrieb: Militärs votierten - soweit sie sich überhaupt zu den Tornados äußerten - eher für die Entsendung. Bei den meisten andern mit Afghanistan-Erfahrung gab es Abraten, z.T. vehement: Siba Shakib („Nach Afghanistan kam Gott nur zum Weinen"), der landeserfahrenen + ausdrücklichen ISAF-Unterstützerin über viele Jahre, Polizisten, Monika Hauser/Medica Mondiale, Forscher mit Landeserfahrung, ein Experte für Rüstungskontrolle aus der Luft/open skies etc. Dem steht widerum das eindeutige Votum des - Grünen - afghanischen Außenministers Spanta für den Tornado-Einsatz bei seinem Berlin-Besuch entgegen. (s. letzter „Schrägstrich")

(6) Das US Central Command (http://www.globalsecurity.org/) meldete am 7. März 54 Luftnahunterstützungseinsätze (Waffeneinsatz bzw. seine Androhung aus der Luft) v.a. Nord-Helmand/Sangin und 10 Aufklärungseinsätze in Afghanistan, am 5. März 37/11, am 4. März 41/9, am 3. März 35/5 (u.a. bei Musa Qala), am 2. März 33/5. Die zumindest in NATO-Kreisen so genannte „Frühjahrsoffensive" von ISAF in Helmand findet im Ballungszentrum des Mohnanbaus und genau in der Region statt, wo britische Truppen im Mai/Juni 2006 härteste Kämpfe und ein Counterinsurgency-Desaster erlebten. Es ist auch die Gegend von Musa Qala. (Nr. 4)

(7) Die am 6. März eingetroffene Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zu den RECCE-Tornados und zur Gesamtstrategie in Afghanistan vom 15.2.2007 (Drs. 16/4325) ist äußerst lückenhaft und unbefriedigend. Nicht erbracht werden Bewertungen der verschiedenen ISAF-Operationen im Süden, der Art der Counterinsurgency Operationen (Aufstandsbekämpfung) dort. Die Ergebnisse der NATO-Spitzentreffen werden mit den bekannten Überschriften zusammengefasst. Daten, die man schnell im Internet ermitteln könnte (vgl. Nr. 6), werden nicht erbracht. Beim Polizeiaufbau wird nur die Ausweitung der ESVP-Polizeimission unterstützt. In ihrem Rahmen wird Deutschland „sein Engagement fortsetzen." Die Antwort der Bundesregierung schweigt also zur faktischen Militärstrategie im Süden und gibt keinerlei glaubwürdige Hinweise zu einem wirklichen Strategiewandel und einer substanziellen Verstärkung des deutschen Anteils dabei.

Aufschlussreich ist die Tatsache, dass im Norden das Programm „Provincial Development Funds"/ PDF mit 2,2 Mio. Euro aus Mitteln des deutschen Ressortkreises Zivile Krisenprävention gefördert wird. Ziel des PDF ist, in Ergänzung zu bisherigen Entwicklungsmaßnahmen schnell sichtbare Aufbaumaßnahmen zu fördern. Die Mittel des Ressortkreises (insgesamt 10 Mio. Euro) hatte ich im Rahmen des rotgrünen Koalitionskonflikts um das Raketenabwehrsystem MEADS vor zwei Jahren vom Verteidigungsministerium erstritten. Bis dahin standen dem mit dem Aktionsplan Krisenprävention installierten Ressortkreis keinerlei Finanzmittel zur Verfügung.

Ein Beispiel dafür, wie sehr andere Partner ihre Anstrengungen verstärken, ist Kanada, das seinen Etat für Entwicklung in Afghanistan für das kommende Fiskaljahr von 100 auf 300 Mio. Can $ erhöht!

Informell ist aus der Bundesregierung zu hören, dass im Laufe des Jahres sehr wohl mit weiteren NATO-Anfragen für den Süden zu rechnen ist.

(8) Am 9. März Bundestagsdebatte und Abstimmung über die Entsendung von Aufklärungs-Tornados nach Afghanistan: Zu Wort kommen nur Befürworter des Tornado-Einsatzes bei Koalition, FDP und Grünen sowie die Fundamental-ISAF-Gegner von der Linksfraktion, nicht jedoch ISAF-Unterstützer, die den Tornado-Einsatz ablehnen. (Ich hatte in der 1. Lesung vor einer Woche eine 4-Minutenrede.) Während Lafontaine hemmungslos demagogisch zuschlägt, reden - bis auf den nachdenklichen Hoyer von der FDP - die anderen Befürworter an den Hauptbedenken gegen den Einsatz vorbei. Alle Seiten fordern verstärkte Aufbauanstrengungen. Angesichts der realen Schwerfälligkeit der Staatengemeinschaft und auch der Bundesregierung hierbei klingt vieles davon nach Sonntagsrede.

Der Verlauf dieser Debatte schürt meine Befürchtung, dass auch in Berlin längst nicht die Zeichen der drängenden Zeit in Afghanistan erkannt sind.

Zusammen mit Alex Bonde, Jürgen Trittin, Bärbel Höhn, Ute Koczy, Thilo Hoppe, Volker Beck, Gerhard Schick, gebe ich eine Persönliche Erklärung zur Abstimmung ab.

Der Entschließungsantrag der Grünen benennt die zentralen Notwendigkeiten einer aussichtsreicheren Afghanistanpolitik, findet in anderen Fraktionen auch viel verbale Zustimmung, wird aber ritualmäßig abgelehnt und von den Medien null wahrgenommen. (alles unter http://www.nachtwei.de/)

Die namentliche Abstimmung ergibt mit 157 Nein so viele Gegenstimmen zu einem Auslandseinsatz wie nie zuvor. Bei der SPD stimmt ungefähr ein Drittel (69 zu 133) dagegen, bei uns 21 zu 26 bei vier Enthaltungen. Ich respektiere unsere Ja-Stimmen ausdrücklich, weil ich um den Abwägungsprozess der KollegInnen und unseren weitgehenden strategischen wie praktischen Konsens jenseits der Tornado-Frage weiß. Trotzdem halte ich die Zustimmung für einen erheblichen politischen Fehler.

Das unmittelbare Medienecho auf die Uneinigkeit der Grünen ist nicht gut: „gespalten", „unentschieden", ohne klare Botschaft. Ob insgesamt aber die ehrliche Uneinigkeit der Grünen besser rüberkommt als der fraktionsdisziplinierte Konsens anderer, ist schwer abzuschätzen.

In den Tagesthemen berichtet Armin-Paul Hampel aus dem Distrikt Musa Qala/Nord-Helmand, wo die jetzigen ISAF-Operationen („Frühjahrsoffensive") ihren Schwerpunkt haben: Zwischen Mai und Oktober haben hier mehr als 50 britische Bombenabwürfe auch erschreckend viele zivile Objekte getroffen. Der ARD-Korrespondent zitiert anonyme hohe Bundeswehroffiziere, die einen Bedarf an Aufklärungs-Tornados bestreiten. Hampel, ein wahrlich NATO-freundlicher Journalist, bestätigt meine bisherigen Verdachtsmomente.

(9) In einem Leserbrief in der taz (9. März) fordert NRW-MdL Rüdiger Sagel aus Münster eine „Debatte über persönliche Konsequenzen bis hin zu Rücktritten", weil „ausgerechnet Parteivorsitzende wie Reinhard Bütikofer, Fraktionsvorsitzende wie Renate Künast und Fritz Kuhn, einige Bundestagsabgeordnete und Landesvorsitzende explizit gegen einen kaum drei Monate alten Bundesparteitagsbeschluss verstoßen" hätten. Als Münsteraner Bundestagsabgeordneter und sicherheitspolitischer Sprecher, der der Grünen Fraktion die Nichtzustimmung zum Tornado-Einsatz empfohlen und selbst dagegen gestimmt hat, distanziere ich mich ausdrücklich von dieser Forderung. Sie ist politisch maßlos, unglaubwürdig und schädlich.

- Richtig ist, dass sich der BDK-Beschluss gegen eine Ausweitung des Bundeswehrmandats auf den Süden Afghanistans ausspricht. Zugleich beinhaltet er Formulierungen und Konditionen, die Interpretationsspielräume eröffnen. Parteitagsbeschlüsse sind wichtige Richtlinien. Wer aber Lageveränderungen und neue Erkenntnisse ausschließt, gefriert solche Beschlüsse zum Dogma.

- Wenn R.S. die - knappe - Mehrheitsmeinung der Fraktion sanktionieren will, dann wischt er den tatsächlich sehr intensiven Diskussionsprozess in der Fraktion beiseite und spricht den KollegInnen das Recht auf eine Gewissensentscheidung ab. Er stellt damit im Grunde schon jeden Abwägungsprozess „unter Strafe". In der Konsequenz müsste R.S. auch andere prominente Grüne, die erheblich zu den Ja-Stimmen beigetragen haben, zu persönlichen Konsequenzen auffordern - so den Sonderbeauftragten des UNO-Generalsekretärs in Afghanistan, Tom Koenigs, so den afghanischen Außenminister Spanta. Wer solche schwierigen Streitfragen wie Afghanistan mit Sanktionen „regulieren" will, beschädigt die Streitkultur, die sich bei uns Grünen im Laufe eines zum Teil schmerzhaften Lernprozesses konstruktiv entwickelt hat. Keine andere Fraktion im Bundestag diskutiert solche Themen so intensiv, breit, gewissenhaft und verantwortlich!

- Wer nicht nur die BDK-Resolution verteidigt - was völlig richtig ist -, sondern sich als ihr Gralshüter mit voller Sanktionsgewalt geriert, sollte wenigstens selbst auch inhaltlich zu der Resolution stehen. Das ist im Fall von R.S. keineswegs der Fall, im Gegenteil. Er lehnt den ISAF-Einsatz ab und votiert für eine Exitstrategie - alles im konträren Gegensatz zu den Kernaussagen der BDK-Resolution.

- Solche Art von Polarisierung, Personalisierung und Sanktionierung von politischem Meinungsstreit ist rundum kontraproduktiv und trägt keinen Deut zum notwendigen Strategiewechsel in der Afghanistanpolitik bei. Hierfür sind inhaltliche Beiträge und politischer Druck dringend erforderlich - nicht erst im Herbst, sondern hier und heute.

(10) Spiegel-Reportage „Tödliche Falle" (11/2007 vom 12. März) von Susanne Koelbl, die sich in Afghanistan ganz besonders auskennt: über die zivilen Opfer von Selbstmordattentätern und Luftangriffen, über gescheitere Versuche lokaler Friedensabkommen, die heikle NATO-Doppelstrategie von Wiederaufbau und Militärschlägen, über die internationalen Truppen als letzte Hoffnung für die Bevölkerung und die steigende Wut im Land, über einsickernde Taliban, über Amerikaner, die ihre „Glaubwürdigkeit durch ihr häufig rücksichtsloses Auftreten gegenüber der Zivilbevölkerung schon weitgehend eingebüßt" hätten und die Europäer, die gerade dabei seien, sie zu verlieren. Dieses Dilemma lässt hohe europäische Beamte fragen: „Warum gehen die Amerikaner nicht komplett raus und überlassen den Eurpäern den Wiederaufbau?" Sie sagen es nur leise, weil alle die Konsequenzen scheuen.

(11) Im taz-Leitartikel „Brunnenbohrer in Gefahr" (13. März) benennt Christian Semler exakt die Punkte, um die es bei einer an Afghanistan interessierten Debatte gehen muss: Die Überprüfung und Korrektur der realen Militär- und Aufbaustrategien in Afghanistan, die Klärung der Grundlagen der deutsche Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen generell.


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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