Delegationsbesuch der „ISAF-Insel“ PRT Kunduz am 31. Januar 2004

Von: Webmaster amDo, 22 Januar 2004 10:36:03 +01:00

Am 31. Januar 2004 besuchte Verteidigungsminister Struck erstmalig das deutsche Einsatzkontingent in Kunduz/Nordafghanistan. Zur Delegation gehörten der Vorsitzende und die Obleute des Verteidigungsausschusses sowie der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst Bernhard Gertz. Die Delegation wurde begleitet von Siba Shakib, der Autorin von "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen", und 24 Medienvertretern.



Am 15. Oktober 2003 hatte das Bundeskabinett die Entsendung eines ressortübergreifenden Wiederaufbauteams nach Kunduz sowie die Eröffnung einer Außenstelle der Botschaft in Herat beschlossen. Am 24. Oktober billigte der Bundestag die damit verbundene Entsendung von bis zu 450 Soldaten nach Kunduz. Dieser Entscheidung ging eine längere und kontroverse Diskussion in Parlament und Öffentlichkeit voraus, die fast ausschließlich um den militärischen Anteil kreiste.

Die Befürworter sprachen für eine Ausweitung der internationalen Stabilisierungsbemühungen in die Provinzen und für ein deutsches regionales Wiederaufbauteam (Provincial Reconstruction Team PRT) in Kunduz als Beitrag dazu aus. Für Kunduz sprach, dass es dort im Sinne von Stabilisierung und „nation building" viel zu tun gibt, sowie der mittlere Schwierigkeitsgrad und die Nähe zum dt. Stützpunkt Termez/Usbekistan. (In den high-risk-Regionen müssen demgegenüber PRT`s eng mit Kampftruppen zusammen agieren.)

Kritiker des Kunduz-Einsatzes bezweifelten angesichts der relativen Ruhe den Sinn des Einsatzes, befürchteten eine Beeinträchtigung der Neutralität von humanitären Organisationen vor Ort sowie eine stillschweigende Kumpanei der Bundeswehr mit den dortigen Drogenbossen und Warlords.

Der Reise voraus gingen im Verteidigungsausschuss ausführliche Stellungnahmen des AA, des BMZ und des BMI zum zivilen Aufbau in Afghanistan.

Der Anflug erfolgt am 30. Januar über die usbekische Hauptstadt Taschkent. Wegen schlechter Witterungsbedingungen verzögert sich der Transall-Flug am 31. Januar nach Kunduz um fast vier Stunden. Der deutsche Militärattache, OTL Bergander, berichtet äußerst lebendig und humorvoll von Land und Leuten. Während des Fluges ist zunächst noch ungewiss, ob in Kunduz ausreichend Sichtflugbedingungen herrschen. Schließlich landet die Maschine nach mehreren steilen Kurven auf dem Feldflughafen Kunduz.

Empfang der Delegation durch den deutschen Botschafter Eberle, die Generale Riechmann (Befehlshaber Einsatzführunskommando) und Gliemeroth (ISAF-Kommandeur) sowie die örtlichen Machthaber General Muhammad Doaud Khan, Gouverneur Latif Ibrahimi, den Polizeichef NO-Provinzen, Ghollam, und andere.

Nach Anlegen der Schutzwesten setzt sich der Konvoi aus zivilen Geländefahrzeugen in Bewegung. Vor allem in der Umgebung des Flugplatzes erinnern zerstörte Gebäude und Panzer an die Kriegszeit. Alle hundert Meter säumen Soldaten des VI. Korps von General Daoud die Strecke, teils mit Gewehr, teils nur in Grußstellung.

Der Blick über das Kunduz-Tal zeigt viel mehr Grün als das grau-braune Kabul. Baumreihen und Felder lassen erahnen, dass hier mal die „Kornkammer" Afghanistans war.

Zwischendurch immer wieder die landestypischen fortähnlichen Gehöfte, die von fensterlosen Außenmauern umgeben sind.

Für die zehn km nach Kunduz braucht der Konvoi eine halbe Stunde. Die Schlaglochstrecke der „Nationalstraße 2" gilt als vergleichsweise „mittelprächtig". Sofort stellt sich die Frage, wie über solche „Straßen" eine Evakuierung unter unfriedlichen Bedingungen geschafft werden soll. Ein begleitender Offizier: Evakuieren müsse man schon, wenn die Stimmung feindlich werde. Umfassende Angriffe könne man hier nicht durchstehen. Unterwegs fädelt sich ein Pkw in den Konvoi. Er wird schnell überholt und rausgedrängt.

Am „Stadttor" von Kunduz ein kleiner provisorischer Militärposten. Linker Hand in einem Hof eine Menge von Panzern. Sie seien seit Oktober nicht bewegt worden. Auch gebe es keine Ausbildung an den Panzern. Kurz danach das „Deutsche Haus", Sitz des BMZ-Koordinators mit Büros von DED, GTZ, KfW.

Einstöckige Bauten aus Lehmziegeln bestimmen das Bild der Provinzhauptstadt, der man ihre schätzungsweise 120.-140.000 Einwohner nicht ansieht. Überall Antennen. Nur manche offiziellen Gebäude haben ein zweites Stockwerk. Vom dreitägigen Regen zeugt noch die großflächige Schlammsuppe auf den Straßen. Die Pferde vor den kleinen Fuhrwerken sind auffällig geschmückt. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung leidet an Tuberkulose.

Irrtümlich fährt der Konvoi erst zum Hauptquartier des VI. Korps, dreht um und gelangt dann zum deutschen Camp.

Briefing

durch den Kommandeur des dt. Einsatzkontingents, Oberst Baur, und den Leiter ziviler Anteil PRT, Dr. Ziegler. Auf Nachfrage des Ministers skizziert der BMZ-Koordinator, Ministerialrat a.D. Sahlmann, die Beiträge der Entwicklungszusammenarbeit (EZ).

Das PRT Kunduz ist ein Pilotprojekt - als integrierte Einrichtung der Bundesregierung, der vier Ressorts AA, BMVg, BMZ und BMI, sowie als erstes PRT der NATO für die vier Nordost-Provinzen Kunduz, Baghlan, Takhar und Badakhshan. Hier liegt das Kernland der ehemaligen Nordallianz. Auf deutsche Initiative hin untersteht das von den US-Streitkräften übernommene PRT Kunduz (damals 40 Personen) dem ISAF-Kommando und fällt damit unter das ISAF-Mandat des VN-Sicherheitsrates. Die anderen sieben PRT unterstehen dem Kommando Operation Enduring Freedom/OEF. Fünf sind US-geführt (Gardez, Bagram, Herat, Kandahar, Jalalabad), je eins wird von Großbritannien (Mazar-e-Sharif) und Neuseeland (Bamian) geführt. Geplant sind sechs weitere in Ghazni, Khwost, Asadabad (Prov. Konar), Qualat (Prov. Zabul), Tarin Kowt (Prov. Uruzgan), Sharan (Provinz Paktika). Lt. General Gliemeroth beabsichtigt die NATO bis Jahresmitte die Übernahme/Aufstellung von vier bis fünf PRT`s.

Lage:

Die Aufgaben und Akteure des PRT sind in seinem Emblem, einem Balken mit zwei schrägen Stützpfeilern, zusammengefasst und der um 90° nach links gedreht das Kunduz-K ergibt: Den linken Pfeiler „Sicherheit" stellt die Bundeswehr, den rechten Pfeiler „Wiederaufbau" das AA, BMI und BMZ, daran angedockt Regierungsorganisationen wie GTZ, DED.

Um den integrierten Ansatz in die Tat umzusetzen, gibt es in Deutschland eine interministerielle Steuerungsgruppe. Vor Ort ist die Kooperation zwischen den verschiedenen Säulen von zentraler Bedeutung.

Im Rahmen der vom Mandat erlaubten 450 Soldaten steht für Kunduz ein Personalpool bereit, so dass der Personalbedarf lagebezogen gedeckt werden kann. (Pull-Prinzip) Zzt. sind hier 218 Soldaten, davon 48 Offiziere, 129 Unteroffiziere und 40 Mannschaften. Geplant sind 317. Das Camp ist für ca. 200 vorgesehen. Das AA ist zzt. mit drei Beamten vor Ort vertreten, das BMZ und BMI jeweils mit einem Beamten. (Der bloße Vergleich der Personalstärken ist allerdings irreführend, weil die Wirkungskreise von Soldaten, Polizisten und Zivilexperten sehr unterschiedlich sind. Wo Polizisten oder Entwicklungshelfer beratende und koordinierende Funktionen wahrnehmen, wirken sie über einheimische Polizeitrainer, über GO`s und NGO`s und lokale Mitarbeiter weit in die Gesellschaft hinein. Zum BMZ-Koordinator sind deshalb hinzu zu zählen die Mitarbeiter von DED, GTZ, KfW - und indirekt 25 deutsche und internationale (N)GO-Mitarbeiter sowie lokale Helfer.)

Das bisher dt. PRT soll zunehmend multinationalisiert werden: Für den militärischen Teil gibt es Zusagen von Belgien (10, v.a. Flugplatz), Schweiz (1 Arzt, 2 Militärbeobachter), Frankreich (Unterstützungsflüge), Ungarn (Unterstützung und Militärpolizisten), Rumänien (Logistik und Stab). Für den zivilen Teil zugesagt haben die Niederlande eine politische Referentin, Dänemark 1-2 Berater, Frankreich einen Kulturreferenten für Herat. Schweden, Finnland und Norwegen haben bisher Bereitschaft signalisiert.

Auftrag des BW-Kontingents:

Schwerpunkt der BW-Aufgaben ist die Verbindungsarbeit, Networking, um darüber die Sicherheitslage genau beobachten und beeinflussen zu können. Inzwischen bestehen Kontakte zu mehr als 150 formellen und informellen, politischen und religiösen Führern. Die dafür notwendigen Fahrten demonstrieren genug an Präsenz.

(Aus Gesprächen am Rand: Eigene Präsenzpatrouillen wie im anonymen Kabul werden hier nicht gefahren. Sie sind nicht nötig, wären angesichts der relativen Überschaubarkeit und Lage unverhältnismäßig. Gegenüber Waffenträgern haben klug und entschieden auftretende Soldaten am ehesten die Autorität zur „gleichen Augenhöhe". Der Landessitte entsprechend tragen die Offiziere Bart - „Weiße Bärte" haben besondere Autorität. Seit Riechmann einmal von eigenen Trümmererinnerungen in Deutschland erzählte und sich damit als ca. 60-Jähriger entpuppte, gilt auch der General mit dem markanten rasierten Kinn als „Weißer Bart".)

Auf die Frage, ob zum Selbstschutz nicht Panzerung notwendig sei: Nein, hier stelle man Sicherheit über Verbindungen her. Netzwerk sei der beste Schutz. Auf Abruf stehen geschützte

Fahrzeuge in Kabul bereit, sie werden nach Lageeinschätzung hierher verlegt. Über ISAF hat das PRT Zugriff auf alle Kräfte, auch zur Luftnahunterstützung. Für ein zeitgerechtes Einfliegen von Quick Reaction Forces ist Vorsorge getroffen. Hierzu bestehen Übereinkünfte mit den US-Streitkräften.

Zum Drogenanbau: In drei Provinzen wächst Reis, Mais, es gibt zwei Ernten/Jahr. Die Leute wollen den Mohnanbau nicht. Sie haben auch erlebt, was Drogen in den Familien anrichten. Je mehr zivile Einkommensmöglichkeiten wir schaffen, desto mehr kann auf den Mohnanbau verzichtet werden. (s. Anmerkungen)

CIMIC: Primäraufgabe der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit/Ausland sind entgegen verbreiteter Wahrnehmung nicht Projekte („Dachlatten-CIMIC"), sondern die Erfassung der zivilen Lage und die Beratung der militärischen Führung im Hinblick auf Akzeptanzförderung bei der Zivilbevölkerung, um darüber den Selbstschutz zu fördern (force protection). Soweit Zeit und Kapazitäten vorhanden sind, können zu diesem Zweck schnelle Unterstützungsmaßnahmen (quick impact project) und nachhaltige Unterstützungsprojekte durchgeführt werden. In Kunduz sind zwei Liasison Monitoring Teams geplant. Im Unterschied zum Balkan sind CIMIC-Projekte hier auf Situationen begrenzt, wo sie unmittelbar der eigenen Sicherheit dienen, z.B. Winterfestigkeit von Polizeistationen, Verteilung von Abdeckfolien entlang der Evakuierungsstrecke, im Umfeld der neuen Außenstelle.

Eine erste Außenstelle des PRT Kunduz wurde gestern in Taloghan (Prov. Takhar) eröffnet. Weitere sollen in den anderen Provinzen folgen. Nach Badakhshan würde man aber 12-14 Stunden Fahrtzeit brauchen. Mit Hubschraubern wird es schneller gehen.

Auftrag der zivilen Säule:

Das entwicklungspolitische Engagement umfasst (nach dem beim Briefing verteilten Papier „BMZ-Auftrag in der Region Kunduz")

Leitprinzip ist die Einbindung aller Maßnahmen in das „National Development Framework", das zwischen afghanischer Regierung und internationalen Gebern vereinbart wurde. Durchführende Organisationen sind DED, GTZ, Kreditanstalt für Wiederaufbau als Regierungsorganisationen und Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte/AGEF, Deutsche Welthungerhilfe, Katachel als NGO`s und andere internationale Organisationen.

Arbeitsergebnisse seit November 2003:

Polizeikomponente

(Im Briefing nicht berücksichtigt. Die folgenden Angaben nach der BMI-Dokumenation „Polizeiliche Aufbauhilfe in Afghanistan", Stand Januar 2004)

Für Kunduz sind fünf Beamte vorgesehen. Die Bundesrepublik hat seit Anfang 2002 die internationale Führungsverantwortung beim Aufbau der afghanischen Polizei. Die polizeiliche Aufbauhilfe ist neben dem Armee- und Justizaufbau, der Entwaffnung (DD&R) und Drogenbekämpfung Teil der Sicherheitssektorreform (SSR). Schwerpunkte des deutschen Projektbüros Polizei in Kabul mit seinen zzt. 16 Beamten sind Beratung bei der Neustrukturierung von Ministerium und Polizei, Beratung bei der Ausbildung des mittleren und höheren Dienstes/Wiederaufbau der Polizeiakademie, Aufbau der Grenzpolizei, Unterstützung der Rauschgiftbekämpfung, kriminaltechnischer Aufbau und Ausstattungshilfe, internationale Koordination. Deutsche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe flankiert den Aufbau der eigenständigen Rauschgiftbekämpfungseinheit im Innenministerium (Informationszentrale, aktive Informationsbeschaffung, Aufbau operativer Ermittlungs- und Zugriffseinheiten).

In Kunduz soll zuerst der Ausbildungs- und Ausstattungsbedarf ermittelt werden. Parallel sollen deutsche Berater mit polizeilicher Basisausbildung beginnen. Hierfür werden geeignete afghanische Kräfte und Absolventen der Polizeiakademie in Kabul als Trainer ausgebildet.

Der Außenstelle der dt. Botschaft in Herat sollen weitere vier Polizeiberater zugeordnet werden. Ab Frühjahr 2004 sollen weitere PRT`s in Gardez, Mazar-i-Sharif, Bamian und anderen Orten durch dt. Polizeibeamte unterstützt werden. Auch hier sollen sie afghanische Trainer fortbilden und Ausbildungsmaßnahmen koordinieren.

Zivil-militärische Zusammenarbeit

Laut Briefing sei das Verhältnis zu NGO`s anfangs gespannt gewesen, habe sich aber schnell ausgezeichnet entwickelt. Man habe verstanden, wer welche Aufgaben habe und dass Wiederaufbau effektiver in einem gesicherten Umfeld gehe. NGO-Vertreter vergewisserten sich, im Gefährdungsfall im Camp Schutz finden zu können. BW betont, dass sie kein Konkurrenzunternehmen zu NGO`s sei. (In der Berliner Zeitung vom 2. Februar erklärte eine Vertreterin der Hilfsorganisation Katachel, die Zusammenarbeit mit der BW habe sich „absolut positiv" entwickelt. „Sie helfen uns, wenn wir sie brauchen, und umgekehrt. Kunduz hat sich seit September gravierend verändert. Es pulsiert, viele Leute haben Arbeit oder kriegen Aufträge. Das ist das Beste, was der Provinz passieren konnte.")

Zwischen dem militärischen und zivilen Teil des PRT laufen regelmäßig Gespräche, sei die Zusammenarbeit gut. Die Zurückhaltung der Bundeswehr bei CIMIC-Projekten (Kostenobergrenze 2.500 €) hat wohl das BMZ veranlasst.

(Einzelgespräche am Rande vermitteln ein weniger einheitliches Bild:

Von BW-/AA-Seite wird das separate „Deutsche Haus" der EZ kritisiert: Das fördere den Eindruck „getrennter Politik". Auf EZ-Seite ist die Rede vom „dritten Pfeiler des deutschen gemeinsamen Engagements", gibt es Kritik an der dominanten Rolle der BW.

Offen bleibt, welchen Stellenwert hierbei traditionelle Ressortkonkurrenzen, unterschiedliche Organisationskulturen, -gewichte und -interessen sowie Kommunikationsdefizite haben.

Insgesamt aber ist das Stabilisierungs- und Wiederaufbauprojekt PRT Kunduz so breit und integriert wie kein anderes. Das ist grundsätzlich richtig, weil es die bitter nötige - und oft fehlende - Kohärenz internationaler Akteure fördert.)

Feldlagerrundgang

Die Programmabkürzung erlaubt nur einen flüchtigen Überblick. Von einem zentralen Wachturm wird das Lager samt Umgebung überwacht. Die einstöckigen Unterkunftsgebäude aus Holz kosteten nur 5.000 US-$ (Container ohne Transport 22.000$!) und brachten Beschäftigung. Das Gelände ist mit Wassergräben und Holzplankenwegen durchzogen.

Der Zug OpInfo (Operative Information) gibt eine Zeitung mit 20.000 Auflage heraus und betreibt vor allem einen Radiosender, der rund um die Uhr sendet (15.00-21.00 Uhr Lokalprogramm, sonst Rahmenprogramm aus Kabul) und in einem Radius von 65 km gehört werden kann.

Der Infrastruktur-Stabsoffizier OTL Hacker stellt den Plan für das neue Camp Kunduz vor:

Am Südrand von Kunduz (Richtung Flugplatz) auf einem Hochplateau gelegen soll es bis zu 600 Personen von militärischem und zivilem PRT-Anteil, multinationalen Streitkräften und Betreiberfirmen aufnehmen können. Die Bauweise ist lokal angepasst, so dass lt. Protokoll vom 27. Januar die Liegenschaft bei Aufgabe durch die Bundesrepublik den Bürgern der Stadt Kunduz zur zivilen Anschlussnutzung übergeben werden kann. Das Camp soll binnen sechs Monaten größtenteils ortsüblich von lokalen Unternehmen in Kooperation mit der GTZ errichtet werden. Veranschlagt sind hierfür 12 Mio. €.

(Was erfahrenere Verbündete schon länger praktizieren, tut nun erstmalig auch die BW: Sie errichtet ein Camp aus „einem Guss". Das bringt mehr Sicherheit, Arbeits- und Lebensqualität und ist letztendlich kostengünstiger als die bisherige Vorgehensweise, vorhandene Liegenschaften provisorisch aus- und ständig umzubauen. Die Geschichte von Camp Warehouse in Kabul ist dafür ein plastisches Beispiel.)

Am Wachhaus Gruppenbild des Ministers mit den einheimischen Wachsoldaten. Ein Journalist: „Struck nach der Bundeswehrreform".

Hauptquartier VI. Korps

Am Eingangstor stehen Posten auch auf den Mauern. Empfang des Ministers mit allen militärischen Ehren. Eine Militärkapelle spielt begeistert und schräg die beiden Nationalhymnen. Beim Abschreiten der Ehrenkompanie folgt der Offizier im Stechschritt. Auf dem Weg zu General Doauds zweistöckigem Hauptquartier stehen aufgereiht ca. dreißig Würdenträger aus der ganzen Region, unter ihnen viele „Weiße Bärte". Wir schütteln ihnen allen die Hand. Die Blicke und Händedrücke sind keine bloße Höflichkeit, sie transportieren viel Freundlichkeit, ja Herzlichkeit. Gegenüber den drei Frauen am Schluss der Reihe, den drei Vertreterinnen in der Loya Jirga, müssen wir aber mehr Distanz wahren.

Teerunde im Dienstzimmer von General Doaud. Shiba Shakib übersetzt. Der 36-jährige General gehörte zum engsten Kreis des Nordallianz-Führers Massud und gilt heute als erster Machthaber im ganzen Nordosten. Sein VI. Korps soll 6.-8.000 Bewaffnete umfassen. Er führt das Wort, Gouverneur Latif und Polizeichef Farhad wirken neben ihm wie Statisten. Es heißt, dass sie alle über Mittelsmänner den Drogenanbau und -handel im Nordosten kontrollieren - für Gouverneur und Polizeichef soll das in besonderem Maße gelten. Doauds Kleidung und Aussehen sind gepflegt. In Sprache und Mimik wirkt er wach, freundlich, ansprechbar und keineswegs unsympathisch. Der Begriff „warlord" scheint angesichts einer solchen Person nicht so gut zu passen. Ein führender Offizier spricht deshalb lieber von „Entscheidungsträgern".

Im lockeren Vorgespräch meint Doaud zur Wählerregistrierung (per Foto und Wählerkarte), hierfür brauche man noch ein bis zwei Monate, so dass die Wahlen vielleicht um einige Wochen geschoben werden müssten. Wenn das Wetter aber nicht so schlimm wie jetzt und die Wege offen seien, könnten die Wahlen noch rechtzeitig stattfinden.

Im Konferenzraum folgt das offizielle Delegationsgespräch.

Doaud: Für die Bevölkerung sei es eine Ehre, dass Deutschland freundliche Kontakte zu Afghanistan habe. Seit dem Frieden hätten Frauen und Kinder den Bonn-Prozess im Kopf. Erfinder seien die Deutschen, der Kanzler.

Deutschland habe vorgeschlagen, das VN-Mandat zu erweitern; Deutschland habe sich für Kunduz entschieden - er wisse gar nicht, wo er mit Dank beginnen solle.

Minister: Er habe den Eindruck, dass die Arbeit des PRT von der Bevölkerung sehr begrüßt werde. Im Hinblick auf die anwesenden Mitglieder des Verteidigungsausschusses betont er die wichtige Rolle des Ausschusses bei der Entscheidung für Kunduz. Dabei sei die entscheidende Einschränkung gemacht worden, dass deutsche Soldaten sich nicht am Kampf gegen die Drogen beteiligen sollten. In Deutschland habe die Interviewäußerung des General, Deutschland solle mehr gegen den Drogenanbau tun, zu Diskussionen geführt. Man mache sich große Sorgen um den Drogenanbau vor allem in der Provinz Badakhshan. Er hoffe, dass er, Gouverneur Latif und der Polizeichef alles täten, um den Drogenanbau und -handel zu unterbinden.

Doaud an General Riechmann: „Kommen Sie, beteiligen Sie sich am Kampf gegen den schweigsamen Töter." Er habe niemanden gesprochen, der den kleinsten Einwand gegen das Kommen der Deutschen gebracht hätte. Wir wollen von Ihren Erfahrungen lernen, vom Fleiß der Deutschen, der Disziplin der Soldaten.

Erstmalig seien hier Waffen eingesammelt worden. Die Zählung von Wählern habe begonnen. „Wir haben unsere Steuern und Abgaben gezahlt, Löhne sind gekommen." 150.000 gehen zur Schule, 50.000 davon seien Mädchen. Frauen würden in Büros arbeiten und seien an Entscheidungsprozessen beteiligt. Wahlen seien eine neue Erfahrung. Die Mehrheit der Bevölkerung werde wohl teilnehmen. Man habe mit drei Hauptproblemen zu tun:

Er habe sehr gute Beziehung zur Zentralregierung, zu Verteidigungsminister Fahim, auch zu Präsident Karzai. (Bei den Ausführungen zur Drogenbekämpfung lässt Doaud keine Unsicherheit erkennen. Seine „Kollegen" wirken unverändert verschlossen.) Beim Verlassen des Gebäudes bildet die Ehrenkompanie mit präsentiertem Gewehr ein Spalier.

Im Gebäude gegenüber Begegnung mit den örtlichen und regionalen Würdenträgern. Die drei Frauen nehmen vorne Platz. Ein Mittelalterlicher bedankt sich für die Hilfe, vor allem dass die Verfassung entstehen konnte. Er bittet die deutsche Bevölkerung, den Aufbau mit gleichem Herzblut zu unterstützen.

Eine der Frauen möchte ihre Probleme wegen der knappen Zeit für Oberst Baur aufschreiben. „Wir wollen keine Almosen, wir wollen selbst arbeiten, z.B. in der Fabrik, wo Frauen ohne Ernährer arbeiten können." Viele Frauen hätten ihre Männer im Krieg verloren und leben jetzt in Zelten.

Der Minister beglückwünscht alle Frauen und Männer in der Loya Jirga, die auf dem Weg zu einer demokratischen Verfassung geholfen hätten. Aus den Gesprächen mit Karzai, Fahim, Doaud, Latif wisse er, dass das Land sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen wolle. Deutschland wolle dazu hilfreich seine Hand reichen.

Mit uns fliegen einige Soldaten des ersten Kontingents zurück, unter ihnen der erste PRT-Kommandeur und „Weiße Bart" Oberst Schiebold, stv. Kommandeur Division Spezielle Operationen/DSO. Ein Lautsprecherwagen von OpInfo strahlt eine Abschiedsmelodie übers Flugfeld. Sechs Stunden später könnte der Empfang für die Heimkehrer auf dem militärischen Teil des Flughafens Tegel unauffälliger nicht sein. Auf wen keine Angehörigen warten, ist völlig sich selbst überlassen.

Anmerkungen zum Drogenanbau

Auf der Münchener Sicherheitskonferenz behauptete der russische Verteidigungsminister, die Drogenproduktion habe sich seit der Talibanherrschaft verneunfacht. Damit entsteht vor allem der Eindruck des Versagens der Internationalen Gemeinschaft in Afghanistan. Die Wirklichkeit ist komplizierter (lt. UN Office on Drugs and Crime/UNODC, Dezember 2003 ):

In 2003 wurden 3.600 to Opium produziert, in 2002 3.400 to, in 2001 190 to, in 2000 3.300 to, in 1999 4.600 to, in 1998 2.700 to. Seit 1980 stieg die Produktion von 200 to kontinuierlich an. Heute liefert Afghanistan 75% des weltweiten Rohopiums. 90% des Heroins in Großbritannien stammen aus Afghanistan. Der Opiumeinnahmen von rund 2,3 Mrd. US-$ entsprechen der Hälfte des afghanischen Bruttoinlandsproduktes von 2003.

Sehr unterschiedlich ist die Situation und Entwicklung in den einzelnen Provinzen. Spitzenreiter ist die Provinz Nangarhar östlich von Kabul mit 1.030 to in 2002, 964 to in 2003. An zweiter Stelle die Provinz Hilmand im Süden mit 1.300/676 to, an dritter Stelle Badakhshan im Nordosten mit 300/508 to. Schlafmohn wächst vor allem auf kargen Böden, so im unzugänglichen und gesetzlosen Badakhshan, und bringt teilweise 20-mal mehr Einkommen als Weizen. Die Drogenbekämpfungsstrategie ist auf 10-15 Jahre angelegt und richtet sich gegen den Drogenhandel und parallel auf die Entwicklung alternativer Erwerbsquellen.

Zusammenfassende Bewertung

(1) Die schrittweise ISAF-Erweitung ist die überfällige Konsequenz aus den Vereinbarungen des Bonn-Prozesses (Wahlen im Sommer), dem in der Fläche stockenden Aufbau und der verschlechterten Sicherheitslage in Teilen des Landes. Die Erweiterung entspricht dem Aufruf von 89 internationalen NGO`s vom 17. Juni 2003. Schrittweise wird die NATO-geführte ISAF die Verantwortung für bestimmte Sektoren mit „Foward Operatin Bases" übernehmen - bis Juni 2004 Sector North, danach in Halbjahresschritten die Sectoren West, South und Central East (Dezember 2005). Die Bereitstellung entsprechender Kräfte macht den NATO-Mitgliedern ausgesprochen Mühe.

(2) Die ersten PRT`s unterstanden alle der Operation Enduring Freedom. Auf Initiative der Bundesregierung wurde mit dem PRT Kunduz erstmalig eine „ISAF-Insel" geschaffen. Das entscheidende Motiv war nicht innenpolitisch, sondern die sehr unterschiedliche Akzeptanz - und damit politische Wirksamkeit - von ISAF und OEF. Ihrer unterschiedlichen Wirksamkeit wegen wäre eine Zusammenlegung der beiden Operationen über die bisherige laufende Abstimmung hinaus äußerst kontraproduktiv.

(3) Die Bundesrepublik hat mit dem PRT Kunduz und der Außenstelle Herat besondere Mitverantwortung für die Entwicklung in acht (!) Provinzen außerhalb Kabuls übernommen. Eigenartigerweise richtet sich öffentliche - aber auch parlamentarische - Aufmerksamkeit fast nur auf Kunduz und den militärischen Teil. Dabei ist die Arbeit der zivilen und polizeilichen Teile nicht weniger wichtig und riskant. Dass dt. Polizisten auch andere PRT`s unterstützen sollen, ist bisher praktisch unbekannt. Die Ungleichgewichte in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sind auffällig.

(4) Der übergreifende Ansatz von vier bzw. drei Ressorts ist in diesem Ausmaß an Integration ein Pilotprojekt. Direktes militärisches Krisen- und Sicherheitsmanagement, Reform des Sicherheitssektors, kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen des Institutionenaufbaus, der Förderung von Wirtschaft und Zivilgesellschaft wirken hier eng zusammen. Da hierbei sehr ungleiche Akteure zusammenkommen müssen, sind Differenzen natürlich. Das PRT-Experiment verdient deshalb besondere Begleitung und Unterstützung. Bei NATO und VN wird das dt. PRT mit großem Interesse beobachtet.

(5) Die Stärke des militärischen Teils PRT liegt in der klugen Mischung von bewaffneter Präsenz, Verbindungsarbeit und Konfliktmanagement. Mit traditionellen Vorstellungen von militärischem Zwang hat das nichts mehr zu tun. Kritiken, Bundeswehr werde hier nicht gebraucht, verkennen die strukturell instabile Lage in der Region und die Notwendigkeit eines internationalen „Dritten" mit Autorität gegenüber den vielen Waffenträgern. Ohne einen solchen Stabilisator kann es wohl humanitäre Projekte, aber keine Reform des Sicherheitssektors geben. Befürchtungen, das Militär beeinträchtige die Unabhängigkeit humanitärer Hilfe, bestätigten sich nicht.

(6) Das alles geschieht in einem zunächst relativ ruhigen, potentiell aber hochbrisanten Umfeld. Hier kann das Stabilisierungsinteresse, bewaffnete Auseinandersetzungen zu vermeiden, in Konflikt geraten mit Entwicklungszielen der Zentralregierung und der Internationalen Gemeinschaft, insbesondere den Zielen Rechtsstaats- und Demokratieförderung und Drogenbekämpfung. Eine Konfrontationsstrategie in Form eines Drogenkrieges würde sicher ins Desaster führen. Wenn sich die Bundeswehr ausdrücklich nicht an der direkten Drogenbekämpfung beteiligt, dann heißt das keineswegs „Wegsehen". Durch Aufklärung, Absicherung der Polizeiarbeit trägt sie indirekt sehr wohl zur Drogenbekämpfung bei. Aussichtsreich scheint allen der jetzige integrierte „Assist"-Ansatz der Unterstützung einheimischer Kräfte. Er ist eine Gradwanderung. Aber er scheint angesichts der komplexen örtlichen Herausforderungen und eigenen Fähigkeiten, der afghanischen Risiken und internationalen Risikobereitschaft der einzig angemessene zu sein.

(7) Das besondere politische, militärische, zivile und polizeiliche Engagement Deutschlands in Afghanistan entspricht zentralen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik und ihrer Partner: der wirksamen Eindämmung des internationalen Terrorismus und des internationalen Drogenhandels an einem ihrer Quellgebiete. Das besonders hohe Ansehen der Bundesrepublik in Afghanistan verbessert ihre Wirkungschancen.

Weitere Informationen:

Entwicklung und des Wiederaufbaus in Afghanistan, Stand 12.1.2004

- Abschlussbericht des Sonderbeauftragten der VN für Afghanistan, Brahimi, vom 15. Januar 2004,

www.un.org/Docs/sc/sgrep03

Zur Vorgeschichte der Kunduz-Entscheidung: Internationale Afghanistanpolitik am Scheideweg, Kabul im August 2003, www.nachtwei.de