Seit mehr als vier Jahren forderte Nachtwei eine Wirksamkeitsbewertung des Afghanistan-Einsatzes. Jetzt nahm er als Sachverständiger in einer Öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Auschusses des Bundestages hierzu Stellung. Hier die - erweiterte - Fassung seiner Stellungnahme:
Winfried Nachtwei, MdB a.D.
Vorbemerkung:
Endlich findet eine Anhörung zur Frage der Wirksamkeit des Afghanistan-Einsatzes statt. Seit mehr als vier Jahren, seit der offenkundigen Verschärfung der Sicherheitslage in 2006, habe ich auf eine Bilanzierung gedrängt. Seit mehr als drei Jahren versuchte ich mit „Hausmitteln" zu einer laufenden und differenzierten Lageerfassung beizutragen.[1] SPD und Bündnis 90/Die Grünen forderten in einem gemeinsamen Antrag vom 9. Juni 2010 eine „Evaluierung der deutschen Beteiligung an ISAF und des deutschen und internationalen Engagements für den Wiederaufbau Afghanistans seit 2001"und die Einsetzung einer begleitenden Kommission (BT-Drs. 17/1964).
An der vom Ausschussvorsitzenden Ruprecht Polenz (CDU) geleiteten Anhörung von 7.30 bis 10.00 Uhr nahmen als weitere Sachverständige Dr. Babak Khalatbari (Konrad-Adenauer-Stiftung Islamabad), Dr. Citha Maaß (SWP) und Jan Koehler (Osteuropa-Insitut der Freien Universität Berlin) teil. Herr Wadir Safi (Kabul University) war am Erscheinen gehindert. Die Anhörung verfolgten bis zu 40 Abgeordnete des Auswärtigen, aber auch des Verteidigungs- und Entwicklungsausschusses (AWZ), sowie ca. 60 Zuhörer, darunter Afghanistan-Verantwortliche und -Rückkehrer, Vertreter von Presse und Botschaften. Nicht anwesend ist wegen des heutigen Besuches von COMISAF General Petraeus der Afghanistan-Beauftragte der Bundesregierung, Botschafter Michael Steiner.
Dieser hatte den Abgeordneten und Sachverständigen im Vorfeld die achtseitige Gliederung des Fortschrittsberichts der Bundesregierung zu Afghanistan zugeleitet, der erstmalig im Dezember vor der für den 16. Dezember geplanten Regierungserklärung der Kanzlerin erscheinen soll.[2] Da für das Eingangsstatement im Ausschuss 5-8 Minute vorgegeben waren, konzentrierte ich mich auf die Fragen 3 und 4. Der folgende Text ist gegenüber dem mündlichen Vortrag und der vorgelegten Kurzstellungnahme erweitert.
Das Wortprotokoll der Anhörung wird demnächst veröffentlicht.[3]
(1) Wie beurteilen Sie die Maßnahmen im zivilen und militärischen Bereich, die die Bundesregierung seit der Londoner Konferenz ergriffen hat?
(a) Das im Februar 2010 auf Antrag der Bundesregierung vom Deutschen Bundestag beschlossene neue Mandat krankt an seiner Abstraktheit und Militärlastigkeit: Die erste Bundeswehraufgabe Unterstützung der afghanischen Regierung bei der „Aufrechterhaltung der Sicherheit" übergeht die Tatsache, dass in Teilen des Einsatzgebietes physische Sicherheit verloren gegangen, (Guerilla-)Krieg zurückgekehrt war und Wiederherstellung von Sicherheit notwendig wurde („Friedenserzwingung" statt „Friedensbewahrung"). Die fortgesetzte Beschränkung des Mandats auf die militärischen Aufgaben, Kräfte und Fähigkeiten begünstigte eine militärlastige Wahrnehmung des Gesamteinsatzes und eine Vernachlässigung der politisch-polizeilich-zivilen Aufgaben, Kräfte und Fähigkeiten.
(b) Richtig ist die Schwerpunktsetzung des militärischen Einsatzes stärker auf Schutz der Bevölkerung und Ausbildung der Sicherheitskräfte. Unehrlich war, diese Schwerpunktverlagerung als eine „grundsätzlich defensive Ausrichtung" auszugeben, wo de facto auf taktischer Ebene mehr Offensive praktiziert wird. Der Kräfteansatz wurde nicht aus dem Bedarf abgeleitet, sondern war ein Verhandlungskompromiss zwischen AA und BMVg.
(c) Die Verdoppelung der Etatmittel für das zivile Engagement („Entwicklungsoffensive") ist ausdrücklich zu begrüßen, weil es andere Spielräume schafft und Sinnvolles nicht mehr am Geldmangel scheitern muss. Zugleich ist das Problem mangelnder Absorptionsfähigkeit und Korruptionsförderung sehr wohl bewusst.
(d) Nicht erkennbar ist eine - mit afghanischer Seite und Verbündeten abgesprochene - „Road Map" für das deutsche Engagement im deutschen Hauptverantwortungsbereich, orientiert auf eine „Übergabe in Verantwortung" im Sicherheitsbereich bis 2014.
(2) Wie beurteilen Sie die Maßnahmen, die die afghanische Regierung nach ihrer Selbstverpflichtungen bei der Kabuler Konferenz ergriffen hat, insbesondere hinsichtlich der Verbesserung er Regierungsführung und der angestrebten innerafghanischen politischen Lösung?
Diese Frage können andere Sachverständige mit umfassender Vor-Ort-Präsenz besser beantworten. Angesichts des Ausmaßes von Klientelismus und Korruption ist von einer sehr tiefen Kluft zwischen Forderungen und Versprechen einerseits und realer Umsetzung andererseits auszugehen.
(3) Wie lautet Ihre Einschätzung zu dem von der Bundesregierung vorgelegten Kriterienkatalog? Wie stellt sich dieser im Vergleich zu den „Benchmarks" anderer internationaler Organisationen und ISAF-Länder dar? Welches sind realistische und in welchem Zeithorizont erreichbare Ziele?
(a) Das Projekt einer Wirksamkeitsbewertung (Evaluierung) des politisch-militärisch-zivilen Afghanistan-Einsatzes ist seit Jahren überfällig. Eine ehrliche, ungeschönte Zwischenbilanz ist nötig, um ein mögliches desaströses Scheitern des gesamten Engagements zu verhindern, um einen eskalierten Militäreinsatz glimpflich reduzieren zu können, um schließlich teils zu recht verlorenes Vertrauen etwas zurückgewinnen zu können.
(b) Bisher gibt es seitens der Bundesregierung keine fortlaufende Sicherheitslage Afghanistan, aus der Trends und Schwerpunkte erkennbar wären, sondern nur Berichterstattung über Einzelereignisse.[4] Auch gibt es keine umfassende zivile und Aufbaulage. Es überwiegen Input- und Tätigkeitsberichte zu Sektoren und Projekten. Eine positive Ausnahme sind die BMZ -Studien von Jan Koehler u.a..[5] Über die Jahre bildeten sich Strukturen von Beschönigung, Selbsttäuschung, Realitätsverlust und Täuschung heraus. Das Abdriften der früheren Hoffnungsprovinz Kunduz ab 2007/2008 wollte man in der politischen Führung in Berlin nicht wahrhaben.[6] Die Schlüsselfrage nach der Wirksamkeit des deutschen und internationalen Engagements und damit nach dem Sinn des Einsatzes wurde nur „politisch", nicht systematisch-seriös beantwortet. Eine realitätsnahe und glaubwürdige Bewertung der eigenen Wirkungen war damit nicht möglich. Das lieferte die Öffentlichkeit dem üblichen Bad-News-Mechanis-mus aus und leistete Pauschalwahrnehmungen und Vertrauensverlust Vorschub.
(c) Die methodischen Probleme einer Wirksamkeitsbewertung sind erheblich, aber kein Hinderungsgrund: Untersuchungen werden erschwert, gar verhindert durch Unzugänglichkeit vieler Regionen, durch den Mangel an verlässlichen „Sensoren", durch Eigeninteressen der vielen beteiligten Nationen, Organisationen, Ressorts (Selbstrechtfertigung, Absicherungsdenken). Militärische, politische und zivile Akteure haben sehr unterschiedliche Wirkungsmöglichkeiten und sind damit sehr verschieden evaluierbar. Militärischer Alltag auf der taktischen Ebene ist die Orientierung auf und die Messung von kurzfristigen Effects.[7] Im politischen Prozess, bei Förderung von Nachhaltigkeit ist das nicht möglich. Eine besondere Herausforderung ist, in einem doppelt komplexen Umfeld von Multilateralismus und fragmentierter afghanischer Gesellschaft Wirkungen zu identifizieren und zuzuordnen. Schließlich: Wirksamkeitsbewertungen dürfen nicht missverstanden werden als eine Art individuelle Leistungskontrolle für die Entsandten vor Ort.
(d) Im Mittelpunkt des Fortschrittsberichts steht richtigerweise der deutsche Hauptverantwortungsbereich im Norden, vor allem die fünf Provinzen im Norden und Nordosten. Dabei muss aber die bisher übliche deutsche Nabelschau überwunden werden: Mit im Blick sein müssen das enorm aufgewachsene US-Engagement im Norden wie auch die Entwicklung in anderen Regionen. Was in Helmand und Kandahar geschieht, ist für den Norden von eminenter Bedeutung.
(e) Der vorliegende Katalog von 27 Bereichen/Handlungsfeldern ist sehr umfassend - und birgt damit zugleich das Risiko, sich analytisch zu übernehmen, sich politisch zu verzetteln und in der Öffentlichkeit nicht mehr kommunizierbar zu sein. Deshalb bedarf es - zusätzlich - der Schwerpunktbildung und Priorisierung nach Dringlichkeit, Wirkungschancen und Zeithorizonten. Schwerpunktfelder sollten sein:
- physische Sicherheit der Afghanen und Leistungsfähigkeit der ANSF (afghanische Sicherheitskräfte), Bedrohungspotenzial für internationale Sicherheit
- Leistungsfähigkeit von Verwaltung und Konfliktregelung auf subnationaler Ebene
- materielle Infrastruktur (Trinkwasser, Energie, Transport)
- Gesundheitsversorgung
- Bildung, Lehrerausbildung, berufliche Bildung, Universitäten
- Beschäftigung vor allem für junge Leute (49% sind jünger als 15 Jahre; die Zahl der 15-
bis 19-Jährigen steigt in den nächsten fünf Jahren um 1 Million auf 3,7 Millionen).
(Schwerpunktsetzung bedeutet nicht, sich von anderen Feldern zu verabschieden. Die För-
derung zum Beispiel von Zivilgesellschaft und innerafghanischen Reformkräften ist weiterhin dringend nötig, auch wenn sie relevante Wirkungen erst mittelfristig entwickeln kann.)
(f) Ein wichtiger Punkt fehlt: die eigenen Kräfte, nicht nur die bekannten militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten, auch die - weniger bis gar nicht bekannten - diplomatischen, zivilen und polizeilichen, sowie der Stand ihres Zusammenwirkens und des Erfahrungslernens. Die zivil-militärische Zusammenarbeit in den PRT`s gilt offiziell als vorbildhaft. Auch wenn sich die Zusammenarbeit im Alltag vor Ort deutlich verbessert haben soll. Es gibt weder eine gemeinsame Lage noch ein institutionalisiertes Gedächnis. Eine Evaluierung der PRT`s war mal vorgesehen, wurde aber von der politischen Ebene gestoppt. Unter Insidern ist Konsens, dass der viel beschworenen Comprehensive Approach in erster Linie Lippenbekenntnis und kaum Realität ist.
(g) Um zu tatsächlichen Indikatoren zu kommen, müssen die vorgelegten Gliederungspunkte operationalisiert werden. Ausgesprochen lehrreich sind hierzu die Lage- und Evaluierungsberichte anderer Verbündeter und Institutionen.[8]
- Der seit 2008 erscheinende, inzwischen neunte kanadische Quartalsbericht geht aus von sechs Prioritäten, runtergebrochen auf 21 Benchmarks und jeweils 44 Fortschrittsindikatoren, Ausgangslagen und Zielen für 2011.[9]
- Das unabhängige „The Liaison Office" (TLO) aus Kabul erstellte eine Vierjahresbilanz zum niederländischen Engagement in der südlichen Unruheprovinz Uruzgan, ausgehend von seiner Startstudie von 2006. Hier werden für Development sechs Felder, für Governance fünf und Security drei Felder bewertet, außerdem die verschiedenen internationalen Akteure. Die TLO-Studie kommt zu einem differenziert positiven Ergebnis.[10]
- Der Halbjahresbericht von Pentagon und anderen US-Ressorts "Report to Congress on Progress Toward Security and Stability in Afghanistan"[11] bringt als einziger eine landesweite Bewertung, fokussiert auf die - von ISAF definierten - 80 Key Terrain Districts und 41 Area of Interest Districts. Governance, Development, Security und Unterstützung für Regierung bzw. Aufständische werden in fünf Stufen bewertet.
- Das Bewertungssystem von ISAF ist am umfassendsten und differenziertesten, aber zugleich nur wenig einsehbar.[12] In 2009 wurden zehn „Effects" für Sicherheit, Regierungsführung und Aufbau/Entwicklung bewertet. Gegenwärtig gibt es zwei Bewertungs"welten": umfassend von den PRT`s über die Regionalkommandos bis zum ISAF Joint Command in Kabul (operatives Hauptquartier); reduziert auf wenige grobe Kriterien zu Sicherheit, wenig zu Regierungsführung auf der politisch-strategischen Ebene des ISAF-Headquarter unter General Petraeus. Hier steht offenbar die politische Definitionsmacht und Botschaftskontrolle im Vordergrund.
- UNAMA stützt sich vor allem auf die Indikatoren der Millenium Development Goals.[13]
(h) Fallbeispiel Sicherheit: Wo ein sichereres Umfeld und Schutz der Bevölkerung der Auftrag sind, reichen Sicherheitsvorfälle/kinetc events (Feuerwechsel und Gefechte, Sprengstoffanschläge, indirektes Feuer) als Kriterium nicht aus. Hier sind Bewegungsfreiheit und Zugänglichkeit zu Distrikten für Staatsbedienstete, Helfer, Bevölkerung, Sicherheitsgefühl ausschlaggebend. Dies erfassen UNAMA und Afghanistan NGO Safety Office (ANSO).[14] Ein „desired end state" aus der Sicht weiter Landesteile wäre immer noch die Lage im Norden, insbesondere in Mazar.
(i) Realistische Ziele und Zeithorizonte:
- Zeithorizont (Sofort)Abzug 2011: Ich kenne keine Hinweise, dass dies zu einem Rückgang von Kriegsgewalt führen würde. Ich habe nur Hinweise, dass dann eine Gewaltexplosion erwartet wird: Bürgerkrieg im Norden, ausstrahlende Destabilisierung nach Pakistan und Richtung zentralasiatische Republiken.
- Zeithorizont Verantwortungsübergabe und Kampftruppenrückzug 2014: Dieses Datum ist gesetzt, zu allererst durch die nächste US-Präsidentschaftswahl. Eine „begleitete Verantwortung" im Sicherheitsbereich muss innerhalb weniger Jahre erreicht werden. Das scheint - wenn überhaupt - nur mit größter und gut konzertierter Anstrengung am ehesten möglich bei der afghanischen Armee ANA. Eine solide Polizei ist bis 2014 sicher nicht erreichbar. Dasselbe gilt für eine ansatzweise wirksame subnationale Verwaltung und die anderen Felder von Aufbau und Entwicklung. Die notwendige und gewollte militärische Abzugsperspektive in den nächsten drei Jahren muss flankiert werden durch eine verlässliche, zivile und polizeiliche Unterstützungspräsenz deutlich darüber hinaus.
Im nächsten Frühsommer kommt die Stunde der Wahrheit: Dann wird erkennbar sein, ob die große Anstrengung dieses Jahres Wirkung zeigt, ob der jahrelange Trend von immer mehr Sicherheitsvorfällen (im 3. Quartal 2010 +59% gegenüber dem Vorjahrszeitraum) gestoppt, gar umgekehrt werden konnte.
(4) Welche Veränderungen schlagen Sie für das weitere deutsche Engagement in Afghanistan vor?
Eine Bilanzierung darf kein Selbstzweck sein. Sie soll realistische Ausgangsbasis für politische Schlussfolgerungen sein.
Ich konzentriere mich hier auf die vordringlichen Voraussetzungen eines aussichtsreichen und verantwortbaren deutschen Engagements.
(a) Ein klares und erfüllbares Mandat von Bundesregierung/Bundestag für das deutsche Engagement: Die Hauptziele müssen realitätsnäher benannt werden. Über die Verpflichtung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes hinaus sollten auch zentrale politische, zivile und polizeiliche Aufgaben und Kräfte definiert werden. Nur so können die Rückstände im nichtmilitärischen Bereich aufgeholt werden. (Umfassendes Mandat)
(b) Wirksamkeitsbewertungen sollen wirksamere Unterstützungsmaßnahmen und Politik ermöglichen. Diese brauchen zwingend entsprechende und verfügbare Personalkapazitäten. Das gilt vor allem für die Diplomatie, die bisher schon mangels Masse vor Ort den Primat der Politik nicht ausfüllen kann, und das gilt für die Polizeihilfe, die endlich eine verlässliche Rekrutierungsstruktur und einen Pool an neuen Stellen in Deutschland braucht. „Vom Einsatz und Auftrag her denken" muss ressortübergreifend gelten und muss den bisherigen Primat innenpolitischer Interessen ablösen. Angesichts des Akzeptanzverlustes des Afghanistan-Einsatzes bedarf es aber enormer Überzeugungskraft und innenpolitischer Risikobereitschaft. Ich weiß allerdings nicht, woher diese Führungsstärken im Jahr der Landtagswahlen herkommen sollen.
(c) Um die eigene Politik so kohärent wie möglich zu machen und den richtigen Anspruch des Comprehensive Approach mit Leben zu füllen, ist eine ressortgemeinsame Lageerfassung, Planung und Auswertung, d.h. eine ressortgemeinsame Task Force der Regierung dringend nötig. Zumindest bis zum Ende der 16. Legislaturperiode galt, dass auch auf Seiten des Bundestages ein Mehr an Ressortgemeinsamkeit nötig und möglich gewesen wäre. Bezeichnend ist, dass es zum ressortübergreifenden Thema der zivil-militärischen Beziehungen und Zusammenarbeit nie eine gemeinsame Meinungsbildung der verschiedenen Ausschüsse zusammen gab.
(d) Ohne den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ressorts zu nahe treten zu wollen: Nach aller Erfahrung wird eine interne Evaluierung durch Loyalitäten, Legitimations- und Ressortinteressen, individuelle Rücksichtnahmen beeinträchtigt. Von eingebundenen Beamten kann nicht erwartet werden, dass sie politische Fehler markieren und ggfs. ein Scheitern feststellen. Eine verlässliche und glaubwürdige Evaluierung braucht organisierte Unabhängigkeit und politisches Gewicht.[15]
(e) Kommunikation: An der Schwelle des zehnten (!) Jahres steckt der Afghanistan-Einsatz in dem Dilemma, dass er für einen glimpflichen und verantwortbaren Ausgang besonderer Anstrengungen bedarf, zugleich aber in der Bevölkerung die Ablehnung dominiert und unter Soldaten und Politikern die Zweifel am Sinn und der Erfüllbarkeit des Einsatzes massiv sind. Nach Jahren einer beschönigenden offiziellen „Informationspolitik" ist nun eine ehrliche und differenzierte Kommunikation des Afghanistan-Engagements unabdingbar. Die letzte Chance dazu bietet der kommende „Fortschrittsbericht". In ihm müssen die massiven politischen Fehler deutscher und internationaler Afghanistanpolitik, beginnend mit „unseren" unter Rot-Grün, rücksichtslos benannt werden. Der Fortschrittsbericht muss seine Fortsetzung in Quartals- bzw. Halbjahresberichten finden.
Abschließende Bemerkung:
Wer Afghanistan besucht, kommt immer wieder mit gespaltenen Eindrücken zurück.
Deprimierend ist meist das, was man zum politischen Prozess, auch zur Verschärfung der Sicherheitslage erfährt.
Motivierend hingegen sind immer wieder die Begegnungen mit den vielen phantastischen und mutigen Menschen, mit Afghaninnen und Afghanen, mit internationalen Unterstützern.
Auch hier im Saal sind einige Afghanistan-Rückkehrer.
Stellvertretend möchte ich mit Ihnen unseren Diplomaten, Soldaten, Entwicklungshelfern, Polizisten danken für ihre hervorragende Arbeit. Ich habe Sie vor Ort erlebt.
Sie verdienen Interesse an Ihrer Arbeit, an Ihren Erfahrungen. Daran fehlt es hierzulande meist, oft auch in den eigenen Institutionen.
Verlässliche Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchen diejenigen, die körperlich und/oder seelisch verwundet wurden, brauchen die Angehörigen.
Soldaten stehen in der Pflicht zum treuen Dienen.
Die Politik steht Ihnen allen gegenüber in der Pflicht zu einem klaren, erfüllbaren und verantwortbaren Auftrag, zur Ehrlichkeit.
Â
[1] Brief von Jürgen Trittin und Winfried Nachtwei an die Minister Steinmeier, Jung, Wieczoreck-Zeul, Schäuble, 5. September 2006; „Genauer Hinsehen: Sicherheitsvorfälle Afghanistan, v.a. Region Nord bis Mitte August 2010" und „Better News statt Bad News aus Afghanistan", Nr. VII, Mai 2010, beides unter www.nachtwei.de
[2] Die Gliederung umfasst unter Sicherheit neun Felder und 41 Unterpunkte, unter Staatswesen und Regierungsführung elf Felder mit 34 Unterpunkten, unter Wiederaufbau und Entwicklung sieben Felder mit 23 Unterpunkten.
[3] www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a03/anhoerungen/index.html; zusammenfassender Bericht über die Anhörung in „Heute im Bundestag" Nr. 384, www.bundestag.de/presse/hib/2010_11/2010_384/01.html. Am 24. November berichten Süddeutsche Zeitung und Junge Welt von der Anhörung.
[4] Wöchentlich erstellt das Bundesministerium der Verteidigung eine "Unterrichtung des Parlaments", die unter „VS - Nur für den Dienstgebrauch" an die Abgeordneten der zuständigen Ausschüsse geht. Inzwischen steuern auch das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium zu den UdP bei.
[5] Jan Böhnke/Jan Koehler/Christoph Zürcher: Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005-2009, Final Report, Bonn 2010
[6] Vgl. W. Nachtwei: Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr - Anmerkungen zu einer überfälligen Bilanzierung, in: Friedensgutachten 2010, Berlin 2010. Die aktualisierte Fassung (Stand Oktober 2010) erscheint in Kürze im Jahrbuch des Hauses der Niederlande Münster.
[7] Bei der Command Post Exercise „Nemesis Sword" des 1 (Ge/NL) Corps Ende Oktober 2010 in Bergen wurde das exemplarisch vorgeführt: In den drei Dimensionen External + Internal Security und Support to Humanitarian Assistance und zehn Lines of Effort tägliche Bewertung der Wirkungen gemessen an den gesetzten Zielen und Ausgangslagen.
[8] Eine umfassende und laufend aktualisierte Datensammlung zu Indikatoren für Sicherheit, Regierungsführung/Rule of Law, Wirtschaft und Lebensqualität sowie öffentliche Meinung und Umfragen, afghanische Untersuchungen präsentiert der Brookings Afghanistan Index Tracking Variables of Reconstruction and Security in Post-9/11 Afghanistan, letzter Stand 11. November 2010, www.brookings.edu
[9] Canada`s Engagement in Afghanistan, Quarterly Report to Parliament, April to June 2010, www.afghanistan.gc.ca/canada-afghanistan/documents/r06_10/index.aspx
[10] The Dutch Engagement in Uruzgan 2006-2010. A socio-political assessment, August 2010, www.tlo-afghanistan.org/publications/province-district-assessments/dutch-engagement-uruzgan-tlo-report-2010
[11] Zuletzt über den Zeitraum 1. April bis 30. September 2010, November 2010, www.defence.gov/pubs/November_1230_Report_Final.pdf
[12] Die reichhaltige Datenbank von ISAF ist allen ISAF-Truppenstellern zugänglich. In der Vergangenheit nutzten nur die USA dieses Potenzial für die eigene umfassende Bewertung, nicht die Bundesrepublik.
[13] Indicators of Sustainable Development: Guidelines and Methodologies, October 2007 Third Edition (Economic & Social Affairs), www.un.org/esa/sustdev/natlinfo/indicators/guidelines.pdf
[14] Zweiwochenberichte und Quartalsberichte (zuletzt 3. Quartal bis 30. September 2010) jeweils zu den einzelnen Provinzen. ANSO wird von der Europäischen Kommission, dem norwegischen Außenministerium, der Swiss Agency for Development and Cooperation und der Welthungerhilfe gefördert. Zum Schutz der Zivilbevölkerung vgl. auch Nowhere to Turn - The Failure to Protect Civilians in Afghanistan. A Joint Briefing Paper by 29 Aid Organizations Working in Afghanistan for the NATO Heads of Government Summit, Lisbon, November 2010 (u.a. Oxfam, AIHCR, Afghanaid, Christian aid, CPAU, Open Society Foundations, www.oxfam.de/sites/www.oxfam.de/files/afghanistan-nowhere-to-turn-2010-11.pdf
[15] Der Vorschlag der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Afghanistan (AGA) zur Einsetzung einer unabhängigen Sachverständigenkommission für Afghanistan fand 2008 bei der Regierung und Koalition keine Zustimmung.
Hin weis:
Die Stellungnahme lässt sich hier als PDF-Datei herunterladen.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: