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Zivile Konfliktbearbeitung und Friedensförderung

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Neuer Buchbeitrag: "Zivile Konfliktbearbeitung: Vom Anspruch zur Wirklichkeit"

Veröffentlicht von: Nachtwei am 13. Januar 2013 22:40:54 +01:00 (27681 Aufrufe)

Mehr als 10 Jahre Erfahrungen mit neuen Instrumenten der zivilen Konfliktbearbeitung. Im Herbst 2013 nach den Bundestagswahlen Koalitionsverhandlungen - Chance für verbesserte Friedensfähigkeiten. Da kommt dieser Sammelband von Praktikern gerade zur rechten Zeit. Dass auch ich dazu einen Beitrag schreiben durfte, war mir eine Freude und Ehre. Hier meine Leseprobe:

Zur Jahreswende 2012/2013 erschien der Sammelband „Zivile Konfliktbearbeitung - Vom Anspruch zur Wirklichkeit", hrsg. von Andreas Heinemann-Grüder und Isabella Bauer. PraktikerInnen berichten von ihren Bemühungen, von den Herausforderungen und Erfolgen in der zivilen Konfliktbearbeitung. Der Band bietet eine sehr inhaltsreiche, erhellende und anregende Bilanzierung von Konzept und Praxis ziviler Konfliktbearbeitung. Da im Jahr der Bundestagswahl und der Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene die Notwendigkeit und Möglichkeit besteht, der realen zivilen Konfliktbearbeitung einen neuen Schub zu verleihen, ist das Buch eine unverzichtbare Hilfe. Die 18 Beiträge thematisieren den Anspruch, konzeptionelle Begründungen, Ansätze und Handlungsfelder, Fallbeispiele und Lehren.

 

Winfried Nachtwei

Zivile Konfliktbearbeitung:

vom Anspruch zur Wirklichkeit

Nach mehr als zehn Jahren ziviler Konfliktbearbeitung in auswärtigen Konflikten haben die beteiligten Akteuren reiche Erfahrungen gesammelt. Anfangs umstrittene neue Einrichtungen wie der Zivile Friedensdienst (ZFD) oder das Zentrum Internationale Friedenseinsätze (ZIF) sind inzwischen etabliert und international hoch angesehen. Mit dem vom Bundeskabinett 2004 verabschiedeten Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" sollte zivile Konfliktbearbeitung zum zentralen Ansatz einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik als Friedenspolitik werden. Ausgehend vom Leitbild des „Gerechten Friedens" betonen die christlichen Kirchen in ihren Friedensdenkschriften von 2000 und 2007 den ausdrücklichen Vorrang der zivilen Konfliktbearbeitung. Das Grundanliegen von ziviler Konfliktbearbeitung, Konflikte ohne Gewalt zu bearbeiten, Gewalteskalationen zu verhüten und wirksam Frieden zu fördern, ist plausibel und breit akzeptiert. Anspruch und Wirklichkeit von ziviler Konfliktbearbeitung habe ich seit Anfang der 1990er Jahre miterlebt und auch mitgestaltet - zuerst in der Friedensbewegung, dann ab 1994 als Bundestagsabgeordneter.

Dennoch: Die Wirklichkeit der zivilen Konfliktbearbeitung bleibt weit hinter ihrem großen Anspruch zurück. Ihre Vielzahl an Akteuren und Maßnahmen sind kaum strategisch miteinander verbunden und in ihren Kapazitäten und Reichweiten sehr begrenzt. Nachweisliche Wirkungen beschränken sich oft auf lokale Kontexte und sind insgesamt schwer erkennbar. Trotz aller institutioneller Verankerung ist zivile Konfliktbearbeitung weiterhin ein Politikfeld im Schatten der Außen- und Militärpolitik. Sie wird in Medien und Öffentlichkeit nur punktuell wahrgenommen.

Das Jahr 2013 bietet mit Bundestagswahlen und Koalitionsverhandlungen Chancen, deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik, darin zentral die Zivile Konfliktbearbeitung, klarer und wirksamer zu gestalten. Die Koalitionsverhandlungen von 1998 und 2002 brachten wichtige Durchbrüche für zivile Konfliktbearbeitung. 2009 regte das Memorandum von Friedensforschern die Einsetzung des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit" durch den Auswärtigen Ausschuss an. Erstmalig wird seitdem das Themenfeld im Bundestag kontinuierlich mit Tiefe und Engagement behandelt. Wie kein anderer Ausschuss auf dem Feld der internationalen Beziehungen öffnete der Ausschuss seine Türen für öffentliche Anhörungen und Expertengespräche und ermöglichte damit den Austausch mit der Fachöffentlichkeit. Der im Februar 2012 vorgelegte Zwischenbericht des Unterausschusses formuliert Empfehlungen, die einen nie da gewesenen interfraktionellen Konsens markieren. Die „Plattform Zivile Konfliktbearbeitung" nahm im März kritisch-konstruktiv dazu Stellung. Diese Art von kontinuierlichem Dialog zwischen Parlamentariern, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Fachöffentlichkeit ist ein Unikat und beispielhaft.

Vor diesem Hintergrund ist eine Bilanzierung und Fortentwicklung der zivilen Konfliktbearbeitung hoch aktuell. Die Bilanzierung in diesem Buch begnügt sich nicht mit der - berechtigten - Dauerklage über die faktische Geringschätzung der etablierten Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber der zivilen Konfliktbearbeitung, um darüber bei der bloßen Forderung „mehr vom gleichen" zu landen. Sie schließt ausdrücklich eine kritische Selbstüberprüfung ein und bemängelt insbesondere ein unzureichendes Verständnis für die machtpolitischen Voraussetzungen von Frieden. Deutliche Positionierungen ermöglichen Streit, von dem in diesem Politikfeld von außen gesehen so auffällig wenig zu sehen ist, der aber als Frischluft unabdingbar für Weiterentwicklung ist.

Standortklärung und Weiterentwicklung sind umso dringender, als die Rahmenbedingungen und Herausforderungen für eine Politik der zivilen Konfliktbearbeitung in den letzten Jahren noch komplexer, unübersichtlicher, sprunghafter und kälter geworden sind. Vermehrt drängt sich die Frage nach Wirkungschancen auf, wo Großkrisen und -umbrüche (in Nordafrika und Nahost, auf den Finanzmärkten) galoppieren, jedes normale Auffassungsvermögen überfordern und bis in die Politik Ratlosigkeit und Ohnmacht verbreiten. Wirtschaftskrise, wachsende Ungleichheit und Unsicherheit zersetzen Gesellschaften und lassen in Europa Renationalisierung, Rechtspopulismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit anschwellen. Große Stabilisierungs- und Staatsaufbauprojekte der „Internationalen Gemeinschaft" sind von Afghanistan bis Kongo ernüchternd bis desaströs verlaufen. Die mediale Globalisierung ermöglicht Kettenreaktionen von Gruppenfeindschaften und Gewalt binnen Tagen und rund um den Globus. Angesichts solcher Mega-„Unwetter" sind Fluchten in Projekte naheliegend und vielleicht überlebenswichtig. Aber wenn die Flut steigt, ist das Pflanzen von Apfelbäumchen allein nicht sonderlich aussichtsreich.

Fortschritte mit Handicaps

1996 besuchte ich erstmalig Sarajewo und Mostar, ein Jahr nach Ende des dreijährigen Bosnienkrieges. Die Waffen schwiegen. Verwundet waren Hunderttausende Menschen an Körper und Seele, verfeindet waren die früheren kroatischen, muslimischen und serbischen Nachbarn. Wo der Krieg in den Köpfen und Herzen der Erwachsenen andauerte, entstand zum Beispiel die „Junge Brücke" in Mostar. Hier kamen muslimische und kroatische Jugendliche zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten zusammen. Dies war ein Anstoß für einen gemeinsamen Antrag einzelner Bundestagsabgeordneter von CDU, SPD und Grünen, die zivilgesellschaftliche Initiative zur Einführung eines Zivilen Friedensdienstes aufzunehmen. Der Widerstand eines CSU-Entwicklungsministers konnte das Vorhaben verzögern, aber nicht verhindern. Mit den Regierungswechseln zu Rot-Grün begann 1997 zunächst in Nordrhein-Westfalen, 1999 auf Bundesebene die Ausbildung von Friedensfachkräften zur gesellschaftlichen Friedensförderung und Zivilpersonal für internationale Friedensmissionen. Der ZFD und das ZIF in Berlin wurden zu Säulen einer sich entwickelnden Infrastruktur ziviler Konfliktbearbeitung - zusammen mit dem Programm zivik (zivile Konfliktbearbeitung), der Deutschen Stiftung Friedensforschung und der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt). Gegenüber den traditionellen Mitteln von Diplomatie, Integrations- und Entwicklungspolitik brachten sie einen wichtigen Zuwachs an Friedensfähigkeiten. Bei Dutzenden Besuchen in Krisenregionen begegneten mir immer wieder Frauen und Männer, die als ZFD-Friedensfachkräfte so dicht an den einheimischen Gesellschaften, an ihren Konflikt- und Friedenspotenzialen dran waren wie kaum jemand sonst.

Mit dem Aktionsplan von 2004 machte die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einen großen Schritt hin zu einer umfassenden und kohärenten Politik der Gewaltverhütung und Friedensförderung. Seine strategischen Ansatzpunkte (Förderung verlässlicher staatlicher Strukturen und Friedenspotenziale, Sicherung von Lebenschancen) haben unverändert Gültigkeit. Die Weitschweifigkeit von 161 Aktionen überdeckte aber diese Schwerpunktsetzung. Die alle zwei Jahre erscheinenden Umsetzungsberichte der Bundesregierung zum Aktionsplan offenbaren immer wieder eine enorme Fülle an Maßnahmen und Aktivitäten. Zugleich treten konzeptionelle und Umsetzungsschwächen zutage: Durch die Einbeziehung struktureller und langfristiger Krisenprävention wurde das Querschnittthema entgrenzt, diffus, es war als Politikfeld überdehnt und kaum noch erkennbar. Bei dieser Art von All-Zuständigkeit war Überforderung vorprogrammiert. Aus dem Blick geriet der selbstreflexive „Do-no-harm"-Ansatz. Wo militärische Kriseneinsätze unterschiedslos unter Krisenprävention subsumiert wurden, wurde der Kernanspruch von Gewaltvorbeugung konterkariert. Über die realpolitische Fokussierung auf Krisennachsorge geriet die Primärprävention völlig in den Hintergrund. Ungeklärt blieb das Verhältnis zwischen Aktionsplan und dem 2006 vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Weißbuch, das in der politischen Praxis schnell ein höheres Gewicht bekam.

Die von Anfang an magere finanzielle und personelle Ausstattung der neuen Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung (ZFD, zivik) erfuhr erst seit 2009 (Schlussphase der Großen Koalition) einen deutlichen Aufwuchs, verharrte aber unverändert bei einem Bruchteil des Ressourceneinsatzes für militärische Krisenbewältigung. Der interministerielle Ressortkreis Zivile Krisenprävention blieb wegen mangelnder Personal- und Mittelausstattung und niedriger politischer Aufhängung überwiegend ein Forum des Informationsaustausches und punktueller Koordination, ohne sonderliche Wirkung auf die Förderung ziviler Krisenprävention als ressortübergreifender Querschnittaufgabe.

Bis heute ist die zivile Konfliktbearbeitung weder auf der politischen Führungsebene noch in der Breite der Außen- und Sicherheitspolitiker, geschweige des ganzen Parlaments angekommen. Bemerkenswerterweise gehören inzwischen einsatzerfahrene Offiziere zu den stärksten Befürwortern ziviler Fähigkeiten der Krisenprävention und Konfliktbearbeitung.

Warum so viel mehr Anspruch als Wirklichkeit?

Interesse: Die in Deutschland vorherrschende Friedensorientierung und Kriegsgegnerschaft ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Sie ist aber überwiegend reaktiv eingestellt und wenig orientiert auf die Vereinten Nationen (VN). Aufrüstungsschritte auf deutschem Boden (1980er Jahre), Kriege mit US-Beteiligung (Irak 1991 und 2003) können Demonstrantenmassen in Bewegung bringen. An deutschen Militäreinsätzen in Konfliktregionen erhitzen und scheiden sich die Geister (Kosovo 1999, Mazedonien und Afghanistan 2001, Kongo 2006). Wie aber Kriegsgewalt anderswo eingedämmt (Balkan bis 1995, DR Kongo) oder verhütet, wie VN-Friedenssicherung unterstützt werden kann, interessiert nur kleine Minderheiten. Wenig bewusst ist, dass die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen auch die Verpflichtung beinhaltet, jenseits unmittelbarer nationaler Interessen internationale Verantwortung zu übernehmen. Seit Jahren lehnen 40-50% der deutschen Bevölkerung eine aktive deutsche Politik zu Krisengebieten ab! Vor diesem Hintergrund ist eine verbreitete friedenspolitische Unkenntnis nicht überraschend. Dies trifft insbesondere die zivile Konfliktbearbeitung, deren Ansätze, Instrumente, Möglichkeiten und Grenzen besonders wenig bekannt sind - auch unter politischen Unterstützern der zivilen Konfliktbearbeitung.

Militärlastigkeit: Unter zivilgesellschaftlichen Akteuren der zivilen Konfliktbearbeitung ist die Sicht verbreitet, die eigene Schwäche liege an einer vorherrschenden Militärgläubigkeit. Ein Beleg dafür scheinen die sehr häufigen Debatten im Bundestag zu Auslandseinsätzen und die äußerst seltenen zu ziviler Konfliktbearbeitung zu sein. Die Wirklichkeit ist komplizierter: Gemäß Parlamentsbeteiligungsgesetz müssen alle Einsätze bewaffneter deutscher Streitkräfte vom Bundestag gebilligt und - meist im Jahresturnus - verlängert werden. Bei außen- und entwicklungspolitischen Maßnahmen ist die Befassung im Parlament längst nicht so dicht - und im Fall der Befassung auch viel weniger auffällig. Hinzu kommt, dass viele Aktivitäten „normaler" Diplomatie, von VN-, Entwicklungs- und Integrationspolitik, Rüstungskontrolle und Abrüstung de facto zu ziviler Konfliktbearbeitung beitragen, aber nicht explizit als solche etikettiert werden. Diese Maßnahmen machen aber einen beträchtlichen Teil deutscher Politik in den internationalen Beziehungen aus.

Ein Glaube an „militärische Konfliktlösung" ist in der Bundesrepublik in Regierung und Parlament kaum, bei Militärs noch weniger anzutreffen. Vorherrschend ist die Auffassung, mit dem „äußersten Mittel" Militär bestenfalls große Gewalt eindämmen und Voraussetzungen für politische Konfliktlösung schaffen zu können. Nichtsdestoweniger gibt es eine strukturelle Militärlastigkeit. Bei der Bewältigung auswärtiger Krisen und Gewaltkonflikte liegt der Fokus schnell auf militärischen Optionen. Oft kommt dann Militär zum Einsatz, weil die politische Konfliktbearbeitung schwach aufgestellt und insbesondere polizeiliche und zivile Kräfte nicht ausreichend verfügbar sind. Militär wird schnell zum Politikersatz, weil es strukturell den Vorrang hat: mit seinen breiten, flexiblen, schnell verfügbaren und autonomen Fähigkeiten, mit seinem Anspruch, mit schwierigen, riskanten Situationen umgehen und sich durchsetzen zu können, mit seiner ganz anderen finanziellen und personellen Ausstattung.

Erkennbarkeit: Je breiter das Verständnis von ziviler Konfliktbearbeitung ist, desto unübersichtlicher, konturloser und weniger greifbar wird das Politikfeld. Ein strategisches Handicap ist die strukturelle „Unsichtbarkeit" von operativer ziviler Konfliktbearbeitung. Wo Gewalt und bad news schnell Aufmerksamkeit gewinnen, wo Militär eine besondere Aufmerksamkeit bei Befürwortern wie Gegnern findet, haben Streitschlichter und Friedensmacher meistens schlechte Karten. Zivile Konfliktbearbeitung mit ihren Prozessen und vielen Akteuren findet eher hinter den Kulissen statt, ist komplex, langwierig, wenig spektakulär, produziert kaum eindringliche Bilder. Erfolgreiche Gewaltverhütung ist als Nichtereignis nicht sichtbar und auch nicht eindeutig beweisbar. Das ist wie beim vorbeugenden Brandschutz. Wenn der funktioniert, sieht man nichts. Wenn es aber brennt, die Feuerwehr eingreift, dann bringt das Bilder, Spannung, Aufmerksamkeit. Mit dem rasanten Strukturwandel öffentlicher Kommunikation und dem verschärften Kampf um Aufmerksamkeit wird es für zivile Konfliktbearbeitung, aber auch Friedens- und Sicherheitspolitik allgemein, noch schwerer, überhaupt wahrgenommen zu werden.

Die Bundesregierung versäumte es nicht nur jahrelang, diese „strukturelle Unsichtbarkeit" von ziviler Konfliktbearbeitung durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit zu reduzieren. Sie beförderte sie obendrein noch: Wo nur vier voluminöse Bundestagsdrucksachen zum Aktionsplan publiziert wurden, war die mediale Unverkäuflichkeit vorprogrammiert. Dass es auch anders geht, bewies das 2003 gegründete Peace Counts Project, das die Arbeit und Methoden von „Friedensmachern" in aller Welt recherchierte und faszinierend in verschiedensten Medien darstellte.

Zur überschaubaren Fachöffentlichkeit zivile Konfliktbearbeitung gehören Aktive und Zuständige von Ressorts, Friedensforschung, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Praktiker aus Kriseneinsätzen und Absolventen von Studiengängen zur Internationalen Politik, nur wenige Journalisten. Bei außen- und sicherheitspolitischen Journalisten ist Kompetenz in ziviler Konfliktbearbeitung die Ausnahme. Wo ein Politikfeld nur eine schwache Lobby hat, ist es für Abgeordnete, die schließlich auch an Wählerresonanz interessiert sind, weniger attraktiv.

Politisches Gewicht: Auf Bundesebene kamen die Initiativen für eine Stärkung ziviler Konfliktbearbeitung von einer Handvoll engagierter Abgeordneter: bei den Koalitionsverhandlungen 1998 und 2002, mit einem umfassenden Antrag der rot-grünen Koalition im Jahr 2000 und durch die Obleute des Verteidigungsausschusses 2009. Lange blieb es ein Politikfeld mit wenig Beachtung und Gewicht. Plenardebatten explizit zur zivilen Konfliktbearbeitung fanden äußerst selten statt, zum Aktionsplan gar nicht. Immer wurde das so wichtige, aber nie „dringende" zivile Konfliktbearbeitung von anderen dringenden und gewichtigen Themen verdrängt.

Im Auswärtigen Amt waren es die StaatsministerInnen Ludger Volmer, Kerstin Müller, Gernot Erler, Werner Hoyer und neuerdings Michael Link, die sich für die Förderung ziviler Konfliktbearbeitung einsetzten. Die Ministerebene scheint sich den Ansatz der zivilen Konfliktbearbeitung nie zu Eigen gemacht zu haben. Ausnahme war die Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul, die die Leistungen des ZFD immer wieder demonstrativ hervorhob. Es ist symptomatisch: Während für Verteidigungsminister Truppenbesuche selbstverständlicher Alltag sind, hat das - weltweit renommierte - ZIF bis heute keinen Außenminister in seinen Mauern gesehen.

Strategieschwäche: Bundesdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist traditionell multilateral. Das ist gut so. Gerade bei deutschen Beteiligungen an internationalen Krisenengagements scheint mir aber eine Art „Beitragsideologie" vor zu herrschen: Geleistet werden solide und verlässliche Beiträge. Zu kurz kommen dabei der Blick aufs Ganze, Strategiebildung, klare und erfüllbare Ziele, systematische Wirksamkeitsüberprüfung. Die militärische Seite muss ihren Auftrag operationalisieren und in die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen ausbuchstabieren. Für die Wirksamkeit der Auftragserfüllung ist die Entwicklung der Sicherheitslage ein zentraler Indikator. Demgegenüber agieren die zivilen Akteure viel weniger strategisch, weniger mit Wirksamkeits- und Fähigkeitsorientierung, eher schlichtweg im Rahmen verfügbarer Mittel. Das gilt insbesondere für das Außenressort, für die Förderung von Polizei und (Rechts)Staatlichkeit. Ausstattungsmängel der Bundeswehr sind ein Dauerthema, transportiert insbesondere über den Wehrbeauftragten. Die Unterausstattung ziviler Akteure ist demgegenüber (fast) nie ein Thema.

Getrennte Welten: Für Teile der Exekutive soll zivile Konfliktbearbeitung noch abgestempelt sein als „rot-grünes Projekt" einer friedenspolitischen Profilbildung, einhergehend mit einer indirekten Abwertung traditioneller Diplomatie und einer Distanzierung vom Militärischen. Für antimilitärische Teile der Friedensbewegung stand zivile Konfliktbearbeitung lange unter Alibiverdacht: erst als angebliches Trostpflaster für durch die Beteiligung am Kosovokrieg verletzte rot-grüne Seelen, dann als ideologischer Weichspüler für eine militärgestützte und imperiale Außenpolitik.

Zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren der zivilen Konfliktbearbeitung und Krisenbewältigung hat sich mit der Zeit einiges an Austausch, Vernetzung und Zusammenarbeit entwickelt, in Krisenregionen teilweise noch mehr als hierzulande. Das ZIF, die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, das VN-Ausbildungszentrum und die Führungsakademie der Bundeswehr, einige Ausbildungsstätten der Polizei, die Evangelische Akademie in Loccum u.a. wurden zu Inseln ressort- und akteursübergreifender Kommunikation und Kooperation.

Zugleich gibt es noch viel Binnenorientierung und Projektfixierung, Ressort- und Akteursegoismen sowie Fragmentierung. Längst noch nicht überwunden sind wechselseitige Pauschal- und Fehlwahrnehmungen („NRO-Chaos", „kriegsfixierte Militärs"). Unter zivilgesellschaftlichen Akteuren der zivilen Konfliktbearbeitung gibt es eine Tradition der Überhöhung von Zivilgesellschaft und der Distanz bis Ablehnung gegenüber der Staatenwelt. Teile der Exekutive fremdeln gegenüber zivilgesellschaftlichen Akteuren. Unter staatlichen Akteuren können gerade Polizeiberater und Internationale Polizeimissionen eine wichtige Rolle bei der Institutionalisierung von Konfliktregulierung spielen. Bisher geht die deutsche Politik aber nur pflichtgemäß und ohne strategischen Willen mit diesem Instrument um. In Zusammenhängen der zivilen Konfliktbearbeitung sind PolizistInnen deshalb auch deutlich unterrepräsentiert.

Der vage Ansatz der vernetzten Sicherheit öffnete gegensätzlichen Interpretationen Tür und Tor und leistete einer lange unproduktiven Kontroverse „Hilfsorganisationen vs. Militär" Vorschub. Erst in jüngster Zeit gewann die  Debatte über die Notwendigkeit, Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren des Zusammenwirkens ziviler und militärischer Akteure in Konfliktgebieten an Differenzierung und Klarheit. In den Kriseneinsätzen wuchs die Einsicht in die eigenen Grenzen und in die Stärken der anderen, die Notwendigkeit der anderen. Doch was als Einsicht wuchs, ist längst nicht Allgemeingut.

Vom Anspruch zu mehr Wirklichkeit

Es gibt Rückenwinde für zivile Konfliktbearbeitung: In den arabischen Revolutionen bewiesen gewaltfreie Aktionsformen - vermittelt vor allem über das Internet - eine ungeahnte Organisations- und Mobilisierungskraft. Gene Sharp, Vordenker des gewaltlosen Widerstandes in der Friedensbewegung der 1980er Jahre und hierzulande kaum noch bekannt, gewann vor allem in Tunesien und Ägypten mit seinem Handbuch „Von der Diktatur zur Demokratie" eine enorme Popularität. Der World Development Report 2011 der Weltbank „Sicherheit, Gerechtigkeit, Arbeit" stellt „Bürgersicherheit" und die Förderung legitimer Staatlichkeit in den Mittelpunkt einer nachhaltigen Sicherheits-, Friedens- und Entwicklungspolitik. Mit der aktuellen internationalen Debatte um die Weiterentwicklung der Responsibility to Protect wird der Vorrang der Prävention von Massenverbrechen besonders bekräftigt. Mit der Einrichtung des „Atrocities Prevention Board" durch US-Präsident Obama gehen die USA voran bei der Operationalisierung von Präventionskapazitäten. Die Krise der großen Kriseneinsätze von Afghanistan bis zur DR Kongo produziert Ernüchterung, Enttäuschung und Rückzüge. Da viele erst aus Misserfolgen klüger werden, könnte es nun aber auch mehr Chancen zu selbstkritischem Lernen und Strategieentwicklung geben.

  • In Deutschland wären folgende Schritte vordringlich:Im Rahmen einer breiten friedens- und sicherheitspolitischen Debatte Rückbesinnung auf die Grundwerte und Normen internationaler, VN-orientierter Friedens- und Sicherheitspolitik, wie sie in den Grundlagendokumenten der VN zum Ausdruck kommen. Angesichts einer Entgrenzung des Verteidigungsbegriffes in Richtung Interessenverteidigung und einer Rehabilitierung des Krieges „von unten", wo der  „kriegsähnliche" Einsatz in Afghanistan verallgemeinert wurde, erfuhr der Friedensauftrag des Grundgesetzes eine zunehmende Relativierung.
  • Systematische und unabhängige Wirksamkeitsanalyse der deutschen Beiträge zu internationalen Krisenengagements und speziell der deutschen Beiträge zu ziviler Konfliktbearbeitung in auswärtigen Konflikten. Eine solche Analyse würde mehr Klarheit und Nüchternheit über die Leistungen und Grenzen verschiedener Instrumente und Maßnahmen schaffen.
  • Im Rahmen einer integrierten, VN-orientierten Friedens- und Sicherheitsstrategie bzw. einer Strategic Review der Bundesregierung wäre dazu alle zwei Jahre eine Substrategie zu ziviler Konfliktbearbeitung zu entwickeln. In ihr müssten die Förderung legitimer Staatlichkeit, von Sicherheitssektorreform und Rechtsstaatlichkeit sowie die Förderung von Friedenspotenzialen eine Schlüsselrolle einnehmen.
  • Als zentrales Organ ressortübergreifender ziviler Konfliktbearbeitung braucht der Ressortkreis klar abgegrenzte Zuständigkeiten und für diese Steuerungskompetenz eine ausreichende personelle Ausstattung, zuarbeitende Arbeitsgruppen und eigene Verfügungsmittel. Notwendig ist ein integriertes System zur Frühwarnung und Frühaktivierung gegenüber Gewaltkonflikten und insbesondere Massenverbrechen im Rahmen der internationalen Schutzverantwortung. Ãœber einen gestärkten Beirat zivile Krisenprävention könnten die Kompetenzen zivilgesellschaftlicher Akteure effektiver zu einer kohärenten Krisenprävention und Konfliktbearbeitung beitragen.
  • Ãœberfällig sind zivile Planziele für abgestuft verfügbare deutsche Personalbeiträge zu zivilen Krisenkapazitäten der EU und VN. Notwendig sind Personalentwicklungskonzepte und zusätzliche Personalreserven insbesondere im Polizeibereich.
  • Der Evaluierungsberichts zum ZFD präsentiert Empfehlungen, mit denen dessen Potenziale besser ausgeschöpft werden könnten (trägerübergreifende Länderstrategien, angemessene Mischung von Kooperationsformen, effektivere Entsendepraxis mit ZFD-Teams).
  • Um die wachsenden Anforderungen an die zivile Konfliktbearbeitung bewältigen zu können, brauchen die vielfältigen Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung einen zentralen Ort der Analyse, der Erfahrungsauswertung, der Weiterentwicklung, der Ausbildung (einschließlich Ãœbungen) und Bildung. Nukleus einer künftigen Akademie für zivile Konfliktbearbeitung könnte das ZIF im Verbund mit anderen Ausbildungseinrichtungen sein. Zum Vergleich: Die Bundeswehr verfügt heute neben zwei Universitäten über mindestens zehn Zentren und Akademien, die sich mit der Analyse, Auswertung und Weiterentwicklung von und der Ausbildung für Kriseneinsätze befassen.
  • Die Veranschaulichung und Popularisierung von ziviler Konfliktbearbeitung ist der Dreh- und Angelpunkt, um dieses Politikfeld aus dem Zirkel von Unbekanntheit, schwacher Lobby und politischem Leichtgewicht herauszuholen. Eine zentrale Rolle bei der öffentlichen Kommunikation ziviler Konfliktbearbeitung müssen ihre Praktiker bekommen. Sie braucht Gesicht. Zugleich sollten sich die Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung aktiv an breiten sicherheits- und friedenspolitischen Debatten beteiligen. Die vor Jahren von der Bundesregierung angekündigte Kommunikationsstrategie muss endlich realisiert werden.
  • Viel mehr politische Aufmerksamkeit verdient die Krisenkommunikation - mit ihren Eskalationsgefahren, Deeskalationsmöglichkeiten und Wirkungspotenzialen. Netzaktivisten führen seit Monaten vor, wie z.B. der friedliche Widerstand in Syrien unterstützt werden kann.

Das vorliegende Buch bietet eine sehr inhaltsreiche, erhellende und anregende Bilanzierung von Konzept und Praxis ziviler Konfliktbearbeitung. Da im Jahr 2013 (Bundestagswahlen) die Notwendigkeit und Möglichkeit besteht, den Rückstand der realen zivilen Konfliktbearbeitung gegenüber ihrem hohen Anspruch und den wachsenden Anforderungen zu verkleinern, ist das Buch eine unverzichtbare Hilfe. Ich wünsche ihm produktiven Streit und möglichst viel an kluger Umsetzung.

 

(aus Andreas Heinemann-Grüder/Isabella Bauer (Hrsg.): Zivile Konfliktbearbeitung - Vom Anspruch zur Wirklichkeit, Verlag Barbara Budrich Oplafen/Berlin/Toronto 2013)


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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