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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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(Klein-)Krieg bei Kunduz - Weizenrekordernte nebenan

Veröffentlicht von: Webmaster am 22. Juli 2009 12:21:56 +01:00 (141003 Aufrufe)

Vom 10.bis zum 13. Juni 2009 besuchte Winfried Nachtwei Kabul und Kunduz. Im Folgenden findet sich sein Reisebericht:

(Klein-)Krieg bei Kunduz - Weizenrekordernte nebenan

Besuch in Kabul und Kunduz Mitte Juni 2009

Winfried Nachtwei, MdB

Vom 10.-13. Juni 2009 besuchte ich Kabul und Kunduz. Vor Ende der Legislaturperiode und den bevorstehenden Wahlkämpfen hatten Botschaft und Bundeswehr besonders viele offizielle Besuche zu bewältigen - in Kunduz in 10 Wochen über 20! Statt der beabsichtigten ausführlicheren Einzelreise konnte ich mich der Gruppe um den Parlamentarischen Staatssekretär Christian Schmidt, den innenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion Dr. Hans-Peter Uhl (CSU) sowie den SPD-Kollegen Rainer Arnold, Uschi Mogg, Hans-Peter Bartels und SPD-Fraktionsreferent Axel Schneider anschließen. Die Reise soll Einblicke in die aktuelle Lageentwicklung zweieinhalb Monate vor der Präsidentschaftswahl geben, in den Stand des US-Strategiewandels und die seit Ende April zugespitzte Situation im Raum Kunduz. Es ist mein 13. AFG-Besuch.

In Kabul führten wir Gespräche mit dem stellvertretenden Botschafter Dr. Christian Buch, im ISAF-Hauptquartier mit dem deutschen Generalmajor Erich-Hans Antoni und weiteren dt. Offizieren, im EUPOL-Compound mit Dr. Karin Müller, Head of Rule of Law, Axel Haas, Lt. des dt. EUPOL-Kontingents und Dr. Michael Mark, stv. Leiter des German Police Project Teams (GPPT), mit Innenminister Hamif Atmar, mit den Leitenden von Friedrich Ebert Stiftung, GTZ und DED (Tina Blohm, Andreas Clausing,Jan Rogge) sowie anderen dt. Entwicklungsexperten, mit Schülerinnen und Lehrerinnen in der Durani-Schule.

In Kunduz Unterrichtungen durch den Kommandeur RC North, Brigadegeneral Vollmer, dem Kommandeur des PRT Kunduz, Oberst Klein und die AA-Vertreterin Frau Pürtinger, Gespräche mit den Kommandeuren der 2. ANA-Brigade und der Polizei Kunduz, dem Chef des Nachrichtendienstes NDS, mit Vertretern von EUPOL, GPPT, GTZ, Entwicklungsorientierter Not- und Übergangshilfe (ENÜH), USAID, mit Offizieren und Soldaten der Quick Reaction Force 3 sowie anderen.

Zusammenfassung: Der „Tradition" von AFG-Reisen entsprechend sind auch jetzt die Eindrücke und Erkenntnisse sehr gegensätzlich. Äußerst beunruhigend ist die kriegerische Entwicklung in einzelnen Distrikten der Provinz Kunduz, die der strategischer Angriffspunkt der Taliban im Norden zu sein scheint. Die Vorjahrsentscheidung der Zentralregierung, die Polizei der Provinz um 537 Stellen zu reduzieren, leistete dem Vorschub. Positiv soll die Entwicklung aber weiter im Großteil des Nordens sein, auch in Badakhshan. Eine große Chance bietet die Rekordgetreideernte und die weitgehende Einstellung des Mohnanbaus im Norden und Nordosten. Auf US-Seite ist die Lageeinschätzung viel kritischer und der Wille zu schnellen Wirkungen und Erfolgen viel deutlicher/konsequenter als z.B. auf deutscher Seite. Bei Aufbau und Entwicklung gibt es auch im Norden erhebliche Verstärkungsmöglichkeiten.

Unsere 14-sitzige Challenger der Flugbereitschaft muss im russischen Krasnodar am Kuban (zwischen Asowschem Meer und Kaukasus) zum Auftanken zwischenlanden. Das Bodenpersonal ist von altsowjetischer Höflichkeit und lässt uns in einem Umkreis von 10 streng kontrollierten Metern die Beine vertreten. Beim Rückflug gibt es diese Großzügigkeit nicht mehr. Die etwas ältere Challenger bedarf einer Landehilfe der besonderen Art: Nachdem sich bei der ersten Landung ein Leistenstück der Kabineninnenverkleidung gelöst und das Haupt eines Kollegen gesucht hatte, stützt er diese bei jeder weiteren Landung ab, um weitere Bretter vorm Kopf oder gar Dachschäden zu vermeiden. So trifft es sich, dass ein Sprecher für Innere Sicherheit handgreiflich Verantwortung für diese übernimmt.

KABUL

Erstmalig kommen wir am Kabul International Airport North an, der mit seinen großzügigen Bauten vor zwei Monaten eröffnet wurde. Alle paar Minuten startet oder landet eine Transport- oder Passagiermaschine. Vor mir steht Oberstleutnant S. aus Nottuln bei Münster. Zuletzt traf ich den Presseoffizier 2007 in Kunduz. Im Norden und Osten des riesigen Flughafenareals schließen sich Weinpflanzungen für Rosinen und Olivenbäume an.

Die Absicherung des Viertels um Präsidentenpalast, ISAF-Hauptquartier, Botschaften, CIA, Camp Eggers ist gegenüber dem letzten Herbst noch mal gewachsen: gigantische Mehrfachmauern, vielfach gestaffelte Slalomsperren. Nach dem Simultanangriff auf drei Ministerien am 11. Februar (26 Tote, 50 Verletzte) sind jetzt auch die außerhalb liegenden Ministerien besser gesichert. Drumherum quirlt der Verkehr, bewegen sich Radfahrer und Fußgänger verwegen und ohne erkennbare Risikoscheu durch das Autochaos.

Die Vorderfront der dt. Botschaft ist nun eine Festung aus Hesko-Mauern und Stahlplatten. Beim Selbstmordanschlag am 17. Januar vor der deutschen Botschaft gegen einen US-Konvoi sind die Botschaftsangehörigen knapp an einer Katastrophe mit mehreren Toten vorbeigeschrammt. Unter solchen Bedingungen nicht in eine Wagenburg-Mentalität zu verfallen, ist eine besondere Herausforderung.

Politische und Sicherheitslage

Seit dem Selbstmordgroßangriff vom Februar, als die professionelle Reaktion der afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) noch höhere Opferzahlen verhinderte, passierte in Kabul nichts Spektakuläres mehr. Die ANSF tragen seit Januar die Sicherheitsverantwortung in der Hauptstadt, ausgenommen den Distrikt Surobi. Zwischen Januar und Juni 2009 geschahen in Kabul 33 Sicherheitsvorfälle gegenüber 44 im Vergleichszeitraum 2008 und 57 in 2007. Wie riskant es trotzdem ist, zeigen die 200 Löcher in der Karosserie eines Botschaftsfahrzeuges, in dessen Nähe ein Selbstmordattentäter explodiert war.

Kritische Tage wie der Mujahedin-Gedenktag am 28.4. und der Ablauf der verfassungsmäßigen Amtszeit des Präsidenten am 22.5. blieben völlig ruhig. Karzai hat das Machtspiel der Kandidatenaufstellung sehr geschickt gespielt. In seinem „Schattenkabinett" gebe es allein vier Außenminister.

Mehrere neue Minister, insbesondere die für Inneres und für landwirtschaftliche Entwicklung, gelten als effektiv.

Die USA stellen sich anders auf: Die Botschaft wird deutlich aufgestockt. Zweiter Mann bei UNAMA ist seit 2. Juni der US-Amerikaner Peter Galbraith, der über langjährige sicherheitspolitische und UN-Erfahrung (u.a. in Ost-Timor) verfügt. Es heißt, die Obama-Administration verfolge in AFG viel weniger geostrategische Interessen. Man wolle Erfolge bis 2012 vor der nächsten Präsidentschaftswahl. (Der bisherige COMISAF McKiernan sprach eher von einem Zeithorizont von 10 Jahren.) Die Massivität der US-Verstärkung zeigt sich schon in den Hubschauberzahlen: 120 zusätzlich allein für den Süden.

Militärische und Sicherheitslage landesweit:

Zwischen Oktober 2008 und Mai 2009 nahmen die Angriffe von Aufständischen um 57% gegenüber dem Vorjahrszeitraum zu. Im Oktober 2008 gab es knapp 1.200 Sicherheitsvorfälle, davon fast 600 Schußwechsel/Gefechte, 400 IED`s, im Mai 2009 über 1.400, davon ca. 450 IED`s. Dabei ist die Entwicklung regional gespalten. Aufständischenangriffe gab es durchschnittlich pro Tag in Helmand knapp 10,6, Kandahar 4,6, Kunar knapp 4, in Khost um 2, in Paktika, Uruzgan, Zabul um 1,5, Ghazni, Farah um 1, Kunduz um 0,7, Kabul, Herat, Badghis, Nuristan um 0,6, Balkh 0,2, Badakhshan < 0,1.

Von den 444 Sicherheitsvorfällen in der Woche vom 6.-13. Juli geschahen 64,4% im Süden, 27,3% im Osten, 4,9% im Westen und 3,4% im Norden. In der Woche 8.-15. Juni geschahen 49% im Süden, 2,1% im Norden, in der Woche 4.-11. Mai 49,6% im Süden, 2,5% im Norden.

IED`s verursachen ca. 70% der ISAF-Verluste. Explodierte IED`s nahmen in Okt. 2008-Mai 2009 ggb. dem Vorjahrszeitraum um 39% zu, die entdeckten und von der Bevölkerung gemeldeten IED`s nahmen um 66% zu.

Getötet („killed in action") wurden im Mai 80 afghanische Polizisten (April 60, März 100), fast 50 ANA-Soldaten und ca. 25 Koalitionssoldaten. Zwischen Oktober 2008 und Mai 2009 wurden nach ISAF-Angaben 505 afghanische Zivilpersonen getötet, 75% davon verursacht durch Aufständische. Gegenüber dem Vorjahrszeitraum wäre das ein Rückgang um 9%. Im Mai 2009 gab es um die 105 Zivilopfer, davon ca. 90 durch Aufständische. (im Juli 2008 gab es mit > 180 die bisher meisten Zivilopfer, davon ca. 110 durch Aufständische und 70 durch Alliierte.)

„Pro-Regierungs-Ereignisse" (von Einheimischen gemeldete IED`s und Waffenverstecke, neue Kategorie) nahmen leicht zu und lagen im Mai und April bei je knapp 50. (vgl. US Departement of Defence: Progres toward Security and Stability in AFG. Report to the Congress, June 2009)

Die Aufständischen seien in 2008/09 relativ erfolgreich gewesen, ihrem strategischen Ziel aber nicht näher gekommen. Insbesondere im Süden herrsche eine Pattsituation.

(Anmerkung: Dass in asymmetrischen Konflikten andauernde Pattsituationen auf eine Niederlage von Regierung und internationalen Unterstützern hinausläuft, bleibt unbeachtet. Ich erinnere an den Start des britischen Helmand-Einsatzes vor genau drei Jahren: Geplant als low-risk-Wiederaufbau-Mission blieb er in der entscheidenden Startphase rein militärisch und geriet dadurch schnell in eine militärische Eskalation, wo britische Truppen in Sangin, Musa Qala die blutigsten Kämpfe seit dem Korea-Krieg erlebten. Captain Leo Docherty, Adjutant des Kommandeurs der brit. Task Force Helmand, bezeichnete das Vorgehen als „Musterbeispiel dafür, wie man Aufstandsbekämpfung vermasselt". (L.D.: Desert of Death - An Soldier`s Journey from Iraq to Afghanistan", London 2007) Seitdem hat es in Helmand immer mehr ISAF-Soldaten gegeben, immer mehr Anschläge, Kämpfe, Opfer, Mohnanbau. Wie ist das zu erklären, wie geht ISAF damit um? Die Frage bleibt im Raum stehen. Die gegenwärtige US-Offensive erscheint mir als ein gigantischer Versuch, das Steuer doch noch rumzureißen. Es ist zugleich ein Testfall für die neue US-Strategie und ihren Anspruch, den Schutz der Bevölkerung zum Dreh- und Angelpunkt zu machen.)

Um den Comprehensive Approach am Boden und die Koordination zwischen Regierung, UNAMA und USFOR-A innerhalb der „clear, hold, build"-Counterinsurgency-Strategie voranzubringen, initiierte ISAF das "Action District Program". Als „Pilot Action Districts" wurden fünf Distrikte (Ghormach, Surobi, Arghandab/Zabul, Tagab/Kapisa, Kandahar City) ausgewählt. Umfassende Anstrengungen sollen kritische Distrikte stabilisieren, wo sich die Lage verschlechtert bzw. die Chance zur Stabilisierung besteht. Die Umsetzung soll im Frühsommer 2009 beginnen. Meine Frage auch nachträglich im Verteidigungsausschuss, was der Unterschied zu dem früheren, dann aber versandeten Konzept der "Afghan Development Zones" sei, bleibt unbeantwortet.

Transfer of Lead Security Responsibility (TLSR): Nach Kabul sollen bis Jahresende weitere Distrikte unter Verantwortung der ANSF gestellt werden. Die US-Seite will bis dahin weitere Erfolge vorweisen können.

Auf US-Initiative wird die ISAF-Führungsstruktur in AFG geändert: Unterhalb des COM ISAF (Doppelhut mit COM US-Streitkräfte in AFG), der vor allem für den Comprehensive Approach zuständig ist, kommt als neue Ebene das Intermediate Headquarter für die Operationsführung. (Unabhängig von ISAF und OEF operiert US-CENTCOM mit direkt unterstellten Special Forces gegen „Hochwertziele" in AFG.)

Ich habe den Eindruck, dass die neue US-Seite die Lage kritischer beurteilt als bisherige Akteure im ISAF-HQ. Hier betont man, die ISAF-Gesamtoperationen laufe planmäßig, es gehe trotz Rückschläge in die richtige Richtung. Allerdings hielten Fortschritte und Aufbau nicht mit den Erwartungen Schritt. Das ist eine Botschaft, die wir an diesem Ort schon seit Jahren hören.

Ein höherer Offizier: „Wenn Sie die Verhältnisse schnell ändern wollen, dann müssen die Frauen das Regiment übernehmen."

Polizeiaufbau

EU-Polizeimission EUPOL: Im Vergleich zu den letzten Besuchen fällt als erstes die enorme Expansion des EUPOL-Compounds auf: die neuen Gebäude, die stärkeren Sicherheitsmaßnahmen. Bis April war EUPOL noch auf drei Örtlichkeiten verteilt. Heute umfasst EUPOL 239 Internationale, davon 158 Polizisten (53 Deutsche, davon 41 Polizisten und 7 Contractors). Die Zielstruktur liegt bei 400, davon 120 Deutsche. Nach Verbesserung der Rahmenbedingungen ist das Bewerberaufkommen mit dem 16. und 17. Call gut geworden. Die Beamten werden für ein Jahr sekundiert, eine Verlängerung sei praktisch ausgeschlossen. Angesichts der langen Einarbeitungszeiten sei das bedauerlich. Etliche wären zu längeren Einsatzzeiten bereit.

Klargestellt wird das - auch unter Abgeordneten oft noch nicht realisierte - Mandat von EUPOL: Begleitung (mentoring) und Beratung auf der Ministerialebene und im Management, von Führungspersonal, train the trainers. EUPOL-Beamte arbeiten zzt. in Kabul und 15 weiteren Provinzen, auch Helmand, Uruzgan, Herat, Deutsche nur in Kabul und Nord. Alle EUPOL-Filialen sind in Militärcamps

untergebracht und hängen an bilateralen Abkommen zwischen EUPOL und PRT-Nation. (Die Türkei blockierte ein generelles Abkommen mit ISAF.) Dass in Mazar und Kunduz für zwei Juristen kein angemessener Unterkunftsraum zur Verfügung steht, stößt auf allgemeines Unverständnis. Auf ISAF-Seite ist später von einem Missverständnis die Rede.

In Kabul arbeiten EUPOL-Beamte vor allem im Innenministerium (ca. 20), der Kabul City Police (10), Polizeiakademie. In manchen Abteilungen stehen einem EUPOL-Beamten 20 US-Berater gegenüber. Hinsichtlich der Expertise fühlt sich EUPOL keineswegs unterlegen. Der dt. Berater des Innenministers wird hoch geschätzt.

Die Rechtsstaatsmission (Rule of Law) konzentriert sich auf Korruptionsbekämpfung in der Polizei, Stärkung der Staatsanwälte und Genderprojekte. Der Innenminister will die Zahl der bisher 625 Polizistinnen auf 5.000 erhöhen.

(Zweiwöchentlicher Newsletter unter www.consilium.europa.eu/showPage.aspx?d=1562&lang=EN)

German Police Project Team/GPPT: In 2007 (Übergang zu EUPOL) umfasste das GPPT nur noch 10 Beamte zur Abwicklung der angefangenen Projekte. Wegen des begrenzten Auftrages von EUPOL wurde die bilaterale dt. Polizeihilfe personell und finanziell verstärkt. Zzt. umfasst das GPPT 63 Beamte, 23 Stammpersonal und 40 Kurzzeittrainer. In 2009 stehen 35,2 Mio. Euro zur Verfügung, davon 10 Mio. für den LOFTA-Fonds (Polizeigehälter).

Schwerpunkte sind Aufbau von Polizeiinfrastruktur (Fakultät Grenzpolizei an der Polizeiakademie, HQ Afghan National Civil Order Police/ANCOP (Bereitschaftspolizei, gilt als am wenigsten korrupt) und Verkehrspolizei in Kabul, Außenstelle der Polizeiakademie und Erweiterung des Police Taining Centers in Mazar, Police Taining Center in Kunduz, HQ ANP in Feyzabad) und Ausbildung im Rahmen des „Focused District Development". Hierbei erfährt die Polizei eines ganzen Distrikts eine achtwöchige Kurzausbildung und wird anschließend „on the job" 2-4 Monate begleitet. (Fraglich ist, ob eine so kurze Begleitphase reicht.) Der volle FDD-Zyklus dauert 6-8 Monate. Zu der früheren Methode, einzelne Ausgebildete zurück in ihre Einheiten zu schicken, heißt es: Wenn man jemand in die Jauchegrube schmeißt, soll man sich nicht wundern, wenn er auch schnell stinkt.

Zu bedenken sei das Arbeitsumfeld, wo AFG auf dem „Good Governance Index" der Weltbank bei < 10% liege (Deutschland >90%).

Innenminister Hanif Atmar empfängt uns mit ganz besonderer Herzlichkeit. Jeden Tag fallen 6-10 Polizisten, gestern waren es 8. Elf Distrikte (von 399) sind außer Regierungskontrolle („schwarze Distrikte"), für 124 gilt „high level threat" (z.B. Bala Murghab/Badghis) , 40 medium (z.B. Chahar Dara/Kunduz), 190 low. Die Prioritäten sind:

(a) Transparenz, Verantwortlichkeit und Korruptionsbekämpfung; hier dürfe es keine Straflosigkeit geben; der politische Wille sei vorhanden; (b) Polizeiausbildung, die jetzt sehr gut auf Distriktebene laufe; (c) ausreichende Polizeistärke, um Gebiete auch halten zu können; bei ähnlicher Einwohnerzahl wie Berlin habe man nur halb so viele Polizisten. Die jetzige Soll-Stärke beträgt 96.800, die Ist-Stärke ca. 80.000. Der Minister will eine Zielgröße von 160.000; (d) police intelligence (Aufklärung und Nachrichtengewinnung); (e) Wahlabsicherung: 30.000 Polizisten zusätzlich seien nötig, 10.000 erhalten bis zur Wahl ein Basistraining.

Drogenbekämpfung: Wo Drogengelder eine Hauptquelle des lokalen Aufstandes seien, sei die Zerstörung (interdiction) von drug industries ein legitimes Ziel. Noch vor zwei Wochen wurden in Helmand mehr als 100 to Drogenkomponenten beschlagnahmt. Angesichts des starken Taliban-Widerstandes wäre die Polizei allein dazu nicht in der Lage gewesen, war Militär absolut notwendig. Aber das reiche nicht. Notwendig seien law enforcement, wirtschaftliche Alternativen, Öffentlichkeitskampagnen.

Zur Drogenbekämpfung in der Region gebe es wohl viele Meetings, aber keine reale Kooperation - nur etwas mit Tadschikistan und Iran. Bekämpfung von Drogen und Terrorismus hängen eng zusammen.

Der für die Bewältigung krasser Realitäten zuständige Innenminister äußert einen Traum: Ausbau von Schulen zu Abschlüssen nach deutschem Standard; eine Druckerei für Schulbücher, die lt. GTZ-Studie 7-8 Mio. Euro kosten würde.

Beim Pressegespräch lobt der Minister die deutsche Polizeihilfe in höchsten Tönen. Es ist eine Mischung aus Ehrlichkeit (angesichts der entsandten Persönlichkeiten und im Vergleich zu anderen Nationen) und Höflichkeit. Dass er seinen Dank sogar an das dt. Parlament richtet, ist von der Sache her übertrieben. Denn zum Rückstand der deutschen Polizeihilfe hat wesentlich ihre jahrelange Nichtbeachtung im Bundestag beigetragen: Im Dezember 2007 debattierte der Bundestag erstmalig über den Polizeiaufbau in AFG!

Aisha e Durani-Mädchengymnasium

Auf der längeren Fahrt dorthin bekommen wir wenigstens einige Eindrücke vom quirligen Leben auf den Straßen und Märkten. Bei soviel lebendiger Normalität relativiert sich das Bedrohungsgefühl, was

bei den sonstigen Fahrten im geschützten Fahrzeug, bei taktischer Fahrweise und angesichts der Festungen der Grünen Zone mitschwingt.

Das Gymnasium ist seit der Wiedereröffnung vor einigen Jahren im traditionseichsten, ältsten und ersten Schulgebäude des Landes untergebracht und nach einer Dichterin aus der Zeit des Königs Timor Schah benannt.

Die Schule wird von 1.300 Schülerinnen in zwei Schichten von je sechs Unterrichtsstunden ab 6.45 bzw. 11.00 Uhr besucht. In den Klassen 4-10 gibt es Deutschunterricht.

Ein Mädchenchor singt zu unserer Begrüßung „Wir sind Menschen einer Erde, aber was machen wir daraus ..."

In der Bibliothek unterhalten wir uns mit sechs 16-/17-jährigen Schülerinnen auf Deutsch. Vier waren zur medizinischen Behandlung in Deutschland, eine ist dort geboren - ihre Eltern waren vor 30 Jahren nach Deutschland gekommen. Zwei der Schülerinnen wohnen im „Steinhaus". Auf dem Land dürften die Mädchen nur bis zur 6./7. Klasse in die Schule gehen. Vier wollen Lehrerinnen werden, eine Krankenschwester, eine - die in Deutschland geborene - Staatsanwältin. Am besten habe ihnen in Deutschland gefallen, dass die Menschen dort so frei seien. Für ihr Land wünschen sie sich, dass alles in Ordnung und friedlicher werde.

In Deutschland herrsche ein Bild, wonach es in AFG dauernd Explosionen gebe, die Kinder nicht zur Schule könnten, die Frauen geschlagen würden. Letzteres habe aber abgenommen. Manche Afghanen stellen ihr Land oft schlechter dar, um mehr Hilfe zu bekommen. Am meisten Verbesserungen habe es bei Straßen, Bildung und Gesundheit gegeben.

Ich erwähne - obwohl Opposition - den historischen Fortschritt, dass es in Deutschland erstmalig eine Kanzlerin gebe. Ein Personenschützer empfiehlt mir daraufhin den Film „Fünf Uhr am Nachmittag" der iranischen Regisseurin Samira Makhmalbaf über das Afghanistan nach Ende der Taliban-Herrschaft. Die Tochter eines alten Kutschers träumt davon, eines Tages Präsidentin von Afghanistan zu sein. Die Jury der Evangelischen Filmarbeit empfahl ihn als „Film des Monats Juli 2004".

(www.afghan-aid.de/durani/index.htm)

Aufbau und Entwicklung

Seit einigen Monaten leitet Tina Blohm das Kabuler Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zentrale Projekte der FES sind der Aufbau demokratischer Plattformen, die Förderung von Aussöhnung, Vergangenheitsbewältigung und friedliche Konfliktbearbeitung, das „Young Leaders Forum" zur Förderung begabter Nachwuchskräfte, die Qualifizierung und Vernetzung von NachwuchsjournalistInnen und die Förderung einer demokratisch orientierten Medienlandschaft. (www.fes.org.af; hier auch der Newsletter des YLF)

GTZ und DED haben neue Landesdirektoren (jeweils für 3 Jahre), beides sehr erfahrene Entwicklungsexperten. Jan Rogge (DED) arbeitete viele Jahre in Mittelamerika, Andreas Clausing (GTZ) war schon in den 70er Jahren in AFG, spricht Dari und kennt noch viele Leute von damals. Dazwischen arbeitete er u.a. im Sudan + Äthiopien, Balkan, Kaukasus, zuletzt Zentralasien. Für die GTZ arbeiten in AFG 750 Menschen, davon 50 Entsandte, beim DED 30 Internationale, 28 Ortskräfte und 40 einheimische Fachkräfte.

Boomsektoren sind gegenwärtig Bau, Telekommunikation und Bildung überwiegend mit afghanischen Investoren. In größeren Städten gibt es ein regelrechtes Fieber nach Bildung und eine unglaubliche Dynamik gerade auch auf dem privaten Bildungssektor (Englisch, Computer). Besonders dringlich sind berufliche Bildung und Weiterbildung.

Die Getreideernte ist in diesem Jahr extrem gut, man sieht auf dem Land neue Maschinen, Trucks mit landwirtschaftlichem Gerät. Jetzt findet auf dem Land Wertschöpfung statt.

Mehrfach seien Besucher aus der Zentrale in Deutschland mit großer Skepsis hergekommen. Vorm Abflug hieß es dann jedes Mal: „Ich hätte nicht gedacht, was doch an Arbeit möglich ist." Man wünscht sich in Deutschland ein differenzierteres Bild der Lage, mehr Verständnis und mehr Öffentlichkeit für die Entwicklungszusammenarbeit.

Ausdrücklich hervorgehoben werden Deutsch-Afghanen, die als Entwicklungshelfer zurückgekommen seien und Hervorragendes leisten würden. Einer habe nach 30 Jahren seinen Lehrer wieder getroffen. Oder solche CIMIC-Soldaten, die zum x. Male in AFG seien. Die verstünden was vom Land!

(vgl. Newsletter „Deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan", über www.afghanistan.ded.de)

Auf die Frage der Grünen-Kollegin Ute Koczy vom 15.6.2009, in welcher Höhe und für welche Schwerpunkte Mittel für den zivilen Wiederaufbau in AFG zum Stichtag 15.6.2009 aus dem Bundeshaushalt der Jahre 2008 und 2009 abgeflossen seinen, antwortete Ministerin Wieczorek-Zeul:

-       Die BMZ-Gelder kommen überwiegend den Schwerpunkten guter Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Förderung von Frauen, Versorgung mit erneuerbarer Energie und Trinkwasser, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung durch Ausbau wirtschaftlicher Infrastruktur und Schaffung von Einkommen, Grund- und Berufsbildung, dem Afghanistan Reconstruction Trust Funds, Vorhaben der entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe und Ernährungssicherung, Integration von Rückkehrern zugute. In 2008 bereitgestellt 124 Mio. Euro, abgeflossen 114,6; in 2009 91,6 Mio./52,6 Mio.

-       Die AA-Gelder gehen in den Polizei- und Justizaufbau, Unterstützung des Wahlprozesses, Umfeldstabilisierung in den PRT`s, Sekundärbildung, Hochschulkooperation, kultureller Wiederaufbau sowie Drogen- und Terrorismusbekämpfung, Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Rückkehrer, humanitäres Minenräumen und Hilfe bei Naturkatastrophen. . In 2008 bereitgestellt 70,7 Mio., abgeflossen 71,3 Mio.; in 2009 100,1 Mio./70,1 Mio. Mio.Gemeinsam aus Mitteln des BMZ, AA und BMVg werden Vorhaben des Provincial Development Funds (PDF) finanziert. In 2008 vom BMVg bereitgestellt 1,7 Mio., abgeflossen 1,7 Mio.; in 2009 1,5 Mio./0,5 Mio.

-       Sondermittel des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz dienen der Förderung der Landwirtschaft im Rahmen des bilateralen Trreuhandfonds der Bundesregierung mit der Welternährungsorganisation (FAO). In 2008 bereitgestellt 3,4 Mio., abgeflossen 2,75 Mio.; in 2009 2,45 Mio./0,6 Mio.(Antwortschreiben vom 23.6.2009)

Auf dem Weg zum Flughaben geht es eine Strecke über die Jalalabad-Road. Über mehr als einen Kilometer ist sie ein Freiluftbaumarkt für (Straßen-)Baumaschinen, Kräne etc.

Den Transall-Flug über den Hindukusch erlebe ich im Cockpit. Schon nach 10 Minuten sind wir über den schneebedeckten Bergen - und bald danach jenseits der Luftraumkontrolle von Kabul. Als Wolken aufkommen und etwas dichter werden, suchen die vier Augenpaare der Besatzung angestrengt den Luftraum ab. Wir fliegen ja nach Sichtflugbedingungen. Bei Dunkelheit ist Schluss mit der Fliegerei. Dabei sind Flugverbindungen hierzulande angesichts der schwierigen und riskanten Landwege besonders wichtig.

KUNDUZ (+ REGION NORD)

Aufbau und Entwicklung

(Die Gespräche unserer Kurzvisite in Kunduz konzentrieren sich stark auf die militärische Seite. Wir verbleiben im PRT - und bekommen deshalb nichts von dem zu sehen, was ich seit Anfang 2004 alljährlich als Aufbaufortschritte erlebte. Ein umfassenderes Bild der „Aufbaulage" ergibt sich deshalb nicht. Hierzu bringen aber insgesamt 20 Info-Blätter zur Aufbau- und Entwicklungsarbeit in Nordost-Afghanistan, von denen 12 bisher auf der Website des Auswärtigen Amtes veröffentlicht sind, viele Informationen: www.auswartiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/ AfghanistanZentralasien/Engagement-Kundus-FactSheets,navCtx=53336.)

Der Norden sei Vorbild für das übrige AFG. In allen Provinzen gehe es relativ gut voran. Nur noch 0,6% des afghanischen Mohns stamme aus dem Norden. Es gebe nur noch einige 100 Hektar Mohnfelder in Faryab und Badakhshan. Für ein Jahr „mohnfrei" gebe es eine Mio. $ Prämie für Provinzrat und Gouverneur. Vom Drogenschmuggel sei der Norden allerdings weiter betroffen. 15% gehen durch den Norden, 50% nach Iran, 35% nach Pakistan.

Nach den bisherigen Erfahrungen stehen die Chancen gut für einen ruhigen Verlauf der Wahlen.

Nachdem es in den letzten Jahren für die Landbevölkerung angesichts der Dürre oft ums Überleben ging, habe die jetzige Rekordernte den Provinzen große Überschüsse erbracht.

Das von uns im letzten August besuchte Umspannwerk in Mazar läuft inzwischen voll. Beim Teacher Training Center in Mazar ist ein neues Lehrgebäude im Bau, wurde vor zwei Wochen der Grundstein für ein Wohnheim gelegt. Im Deutschen Haus arbeiten 10 Internationale mit 50-70 einheimischen MitarbeiterInnen.

In den Provinzen Kunduz und Takhar arbeiten die dt. EZ-Durchführungsorganisationen GTZ, KfW und DED mit 35 Internationalen und 150 einheimischen MitarbeiterInnen.

Schwerpunkte der deutschen Aufbau- und Entwicklungsarbeit in den beiden Provinzen (und Badakhshan) sind:

-       Grundbildungsprogramm (auch in Kabul und Paktia) Teacher Training Center in Mazar

-       städtische Wasserversorgung Kunduz, Imam Shahib, Taloqan und Feyzabad, Wiederherstellung des Wasserkraftwerks Khanabad (Fertigstellung 2011),

-       wirtschaftliche Infrastrukturentwicklung (Straßen, Brücken, marktbezogene Infrastruktur),

-       Wiederaufbau des Provinzkrankenhauses Balkh,

-       Dt. Polizei Projektteam (Police Training Centers Mazar und Kunduz).

-       Der Flughafen Mazar wird zu einem der modernsten in Zentralasien ausgebaut. Die 35 Mio. Euro Kosten werden von Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten erbracht.

Ein „Altfall" ist die alte Brücke über den Kunduz-Fluss bei Chahar Dara, deren Erneuerung schon seit drei Jahren im Gespräch ist. Begonnen wurde inzwischen mit dem Bau der „Mischa-Meier-Brücke", der zweiten Brücke über den Kunduz-Fluß zwischen den Distrikten Chahar Dara und Aliabad. Die 1,7 Mio. Euro werden aus dem Infrastrukturtopf der Bundeswehr bestritten. Vor Monaten wurde ein Chahar Dara Stabilitätsfonds mit zusätzlichen 500.000 Euro von AA und BMZ geschaffen. Ein sehr wichtiges Zeichen war nach unserem Besuch die vom AA-Vertreter Hermann Nicolai überbrachte deutsche Spende von Koranbänden und Teppichen für 40 Moscheen in diesem Krisendistrikt.

In Takhar wurde eine wichtige Brücke von der Flut zerstört. Zzt. suche man noch nach Mitteln für den Wiederaufbau.

Im Rahmen des Provincial Development Fonds (PDF) werde aus ressortgemeinsamen Mitteln durch ein afghanisch-deutsches Entscheidungsgremium verschiedenste dringliche Kleinprojekte finanziert. Zzt. liegen Anträge über ca. 2 Mio. $ pro Provinz vor. Zur Verfügung stehen aber nur 800.000 Euro/Provinz. „Wir könnten viel mehr gebrauchen." Notwendig seien größere Projekte, so in der Infrastruktur. Aber dafür stehe nicht genug Geld zur Verfügung.

Ein langjähriger dt. EZ-Mitarbeiter in Kunduz kritisiert den vorherrschenden „Sensationsjournalismus". Man biete Projektbesuche an. Aber oft fehle bei Journalisten das Interesse.

Polizeiaufbau

Die Provinz Kunduz erstreckt sich über eine Fläche von 220 x 200 km (Rheinland-Pfalz plus Saarland) und besteht aus 6 Distrikten. Um in den gebirgigen Nordosten oder Südosten der Provinz zu kommen, braucht man 8 Stunden. Kunduz war bekannt als Kornkammer AFG`s. Von den 1,2 Mio. Einwohnern sind 350.000 Schülerinnen und Schüler. Fast alle Ethnien sind hier vertreten. In Kunduz ist der Paschtunenanteil 25-30%. Ende 2001 war Kunduz eine der letzten Taliban-Hochburgen. Hekmatjar stammt aus dieser Provinz.

Lt. General Rasaq, ANP-Chef in der Provinz, sei Kunduz für die Islamisten ein strategischer Angriffspunkt, zumal der ISAF-Nachschub vermehrt über den Norden, also durch Kunduz laufe.

Ein großes Problem sei der Polizei-Stellenplan (Tashkil). Im vorigen Jahr wurden durch Beschluss der Zentralregierung 537 Stellen gestrichen! Für ein Gebiet mit 450.000 Einwohnern gebe es ganze 96 Polizisten, davon 33 Offiziere. (Ein EUPOL-Beamter: Es gebe Distrikte von 30x30 km praktisch ohne Polizei.) Posten mussten von 8 auf 4 Mann reduziert werden. Polizisten müssen tagsüber kontrollieren und nachts kämpfen. Kürzlich wurden an einem Checkpoint 4 Polizisten erschossen. Viele entlassene Polizisten seien übergelaufen und kämpften nun gegen die eigenen Kräfte.

Der Polizeigeneral bezeichnet die Arbeitslosigkeit und damit tausende frustrierter junger Männer als Hauptgefahr. Ein wichtiger Machtfaktor seien die Mullahs. Der Gegner versuche diese durch Unterstützungen zu beeinflussen. Er schließt mit den Worten: „Bitte unterstützen Sie unser PRT!"

Im Rahmen des Focused District Development wird in diesem Jahr die Polizei von 10 Distrikten ausgebildet, im nächsten Jahr weitere 20. Anschließend werden die Polizisten über mehrere Monate von je 4 Polizisten und Feldjägern in ihren Distrikten begleitet.

Für die 10 Mio. Einwohner des Norden stehen 12.000 Polizisten zur Verfügung (1 : 600).

Militärische und Sicherheitslage

Nord

Zum Regional Command North gehören zzt. 5.500 Soldaten und 5 PRT`s.

Das 209. ANA-Korps bestand bis Anfang 2009 aus einer Brigade mit 3.500 Soldaten. Jetzt wird die 2. Brigade aufgebaut, in 2010 die 3. Brigade.

Die Sicherheitslage im Norden ist insgesamt viel besser als die im Süden und Osten. Kritisch sind Kunduz und Ghormach im Nordwesten. Nach einer erfolgreichen ANA-Operation werde in Ghormach jetzt erstmalig der Comprehensive Approach umgesetzt.

Kunduz und Takhar

Auch im PRT Kunduz sind die Hesko-Mauern weiter angewachsen. Das PRT ist mit zzt. über 1.000 Soldaten (davon ca. 650 PRT-Angehörige des 19. Kontingents und über 200 QRF) weit über die alle Planungen hinaus belegt. Knapp 50 deutsche und 70 belgische Soldaten sind im Rahmen der OMLT`s für das Logistik- bzw. Infanterie-Bataillon der 2. Brigade eingesetzt.

Im Provincial Advisory Team (PAQT) Taloqan sind um die 40 Soldaten. Ihr Einsatzgebiet reicht im Umkreis bis eine Stunde Fahrzeit. Der Großteil der Provinz Takhar ist für ISAF deshalb unbekannt.

Sehr hilfreich ist die Drohne Luna als Träger der schnellen Aufklärung. Seit Januar erfolgten 210 Luna-Flüge zwischen zwei bis 6 Stunden. Die Aufklärungsdrohne KZO kommt ab Sommer zum Einsatz.

Nach ISAF-Kriterien ist die Bedrohungslage nirgendwo hoch. Kritisch sind aber die Distrikte Chahar Darrah und Aqtash, identifiziert sind Rückzugsräume von Aufständischen und Selbstmordattentätern.

Raketenangriffe gab es 2009 bisher 15, 12 davon Richtung PRT (3 Einschläge im PRT, geringer Sachschaden). Seit fünfeinhalb Wochen gab es keinen Raketenangriff mehr.

IED`s gab es bisher 28, davon 6 gegen ISAF, 4 gegen ANSF, 16 entdeckt, 2 beim Verlegen explodiert. Die letzte IED-Attacke erfolgte am 7.6. auf Little Pluto, der Hauptverbindungsstrecke nach Chahar Darrah. Die Angriffe erfolgen in der Regel kombiniert mit Handwaffenbeschuss.

Hinterhalte gab es bisher 33, davon 12 gegen ISAF, 19 gegen ANSF.

Darüberhinaus versuchen die regierungsfeindlichen Kräfte mit „nightletters" und Morden eine Einschüchterung „von unten": gegen ANSF-Angehörige, gegen lokale Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen. Manche Projekte wurden inzwischen eingestellt. In der Nacht vom 5. zum 6.6. wurde der FAO-Compound am Stadtrand mit Panzerfäusten und Handwaffen angegriffen, wobei zwei Wachmänner verletzt wurden. Auch wenn der Hintergrund noch unklar ist, wirkt dieser erstmalige Angriff auf eine zivile Organisation doch verunsichernd.

Die regierungsfeindlichen Kräfte sind weiterhin ein Gemenge aus verschiedenen Gruppierungen bis zu kriminellen Kräften. Keine Belege gibt es für die Präsenz ausländischer Kämpfer. Auch Ausweichbewegungen aus Pakistan oder dem Süden sind bisher nicht feststellbar.

Schulschließungen: Hier ist die Lage unübersichtlich. Die meisten erfolgten im „Paschtunengürtel", z.T. tage- oder wochenweise. Wo schon 9-12-jährige Mädchen als heiratsfähig gelten, trifft ihre Unterrichtung durch Lehrer immer wieder auf Ablehnung. Es fehle noch an Lehrerinnen.

Die Absicht des PRT-Kommandeurs ist, die Sicherheitslage im Großraum Kunduz

-       durch konsequente Unterstützung aller ANSF-Operationen

-       (...)

zu verbessern, um die sich verstärkenden Aufständischen-Aktivitäten zu stören und das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.

Neue Intensität des bewaffneten Konflikts: Seit dem 29. April 2009 haben die Aufständischen-Angriffe und Zusammenstöße eine neue Intensität erreicht. Vorher erfolgten Überfälle nach der hit-and-run-Taktik, zielten Anschläge auf die Vernichtung einzelner Fahrzeuge, Soldaten und Polizisten. Damals beschränkten sich deutsche ISAF-Soldaten darauf, bei Beschuss zurückzuschießen, den Gegner „unten zu halten" und sich von ihm zu lösen bzw. durchzubrechen. Jetzt zeigen die komplexen Angriffe regelrecht militärische Ausbildung und Führung und zielen mit Mehrfachfallen auf die Vernichtung ganzer Einheiten. Bis zu unserem Besuch ereignen sich sieben solcher Gefechte. Erstmalig in der Geschichte der Bundeswehr fällt ein Soldat im Kampf (29.4.), erstmalig werden etliche Gegner im Kampf getötet (7.5. mindestens zwei, 4.6. mindestens zehn), erstmalig erhält Bundeswehr in AFG Luftnahunterstützung nicht nur mit „show of force" im Tiefflug und Flairs, sondern mit Bordwaffen (15.6.). Am 19.7. werden erstmalig ein Mörser (3 Granaten) und der Schützenpanzer Marder eingesetzt.

Beispiel Gefecht am 4. Juni: Vom 3.5. bis 14.6. lief die Operation „Sahda Ehlm" in einem 30-km-Radius um Kunduz. Nordwestlich Kunduz liegen einige Ortschaften mit mutmaßlichen Aufständischen. Mit Checkpoints sollten ihre Bewegungen gestört werden. Gegen 16.30 Uhr wird ein Spähtrupp bei Aq Shakh beschossen. Der anrückende Verstärkungszug wird aus vorbereiteten Stellungen über mehr als einen km ca. eine halbe Stunde lang beschossen. Obwohl mehrere Aufständische getroffen wurden, greifen die Gegner weiter an. In einer Feuerpause beginnen ISAF- und ANA-Soldaten den Rückmarsch. An einer Kreuzung befinden sich viele Zivilpersonen, die angeblich von Aufständischen aus den Häusern getrieben worden seien (als Deckung für den Abtransport von Verwundeten). Danach kommt es zu einem dritten Hinterhalt. Die Soldaten werden von beiden Seiten mit Panzerfäusten in hoher Zahl beschossen, z.T. mehrere auf ein Fahrzeug. Bis zu vier A-10 der US-Airforce leisten mit Tiefflug und Flairs (Täuschkörper) Luftnahunterstützung. Wegen mangelnder Unterscheidbarkeit am Boden kommt es nicht zum Waffeneinsatz. Insgesamt ziehen sich Feuerwechsel und Gefechte mit Unterbrechungen über fünf Stunden hin. Auf der Seite der mehr als 80 Aufständischen werden mindestens 10 Tote gezählt, keine Verluste auf Seiten ISAF (ca. 120 Soldaten) und ANA. Einige Soldaten sind aber psychisch nicht mehr einsatzfähig.

Es heißt: Wäre die Verstärkung nicht rechtzeitig gekommen, hätten die ISAF-Soldaten mit ihrer besseren Ausbildung und Bewaffnung nicht den Kampf aufgenommen - und auch einige Male schlicht Glück gehabt -, hätte es auf Seiten der Bundeswehr höchstwahrscheinlich Tote und Verwundete in hoher Zahl gegeben. Zugleich behielt man in dem relativ dicht besiedelten Gebiet die Umsicht, zivile Opfer strikt zu vermeiden.

Die Gruppen- und Zugführer, d.h. junge Männer in den Zwanzigern vom Hauptfeldwebel bis zum Oberleutnant, tragen die Hauptverantwortung vor Ort.

In den Tagen danach machten die Soldaten ein Debriefing durch, erst im Rahmen ihrer Gruppe/Teil-einheit, dann mit dem Militärpsychologen.

Unter den Soldaten ist der Drang nach schweren Waffen, vor allem Hubschrauberunterstützung unüberhörbar. Zu spüren ist der soldatische Grundmechanismus von Kriegen „entweder wir oder die" und der kameradschaftliche Zusammenhalt als elementarer Antrieb.

Eigene Tote, Verwundete, Traumatisierte haben Bundeswehrsoldaten inzwischen schon etliche Male erlebt. Jetzt haben sie das getan, wofür sie militärisch ausgebildet sind, was sie bisher nie tun mussten - töten. Wie bewältigen sie das? Wie werden Staatsbürger in Uniform damit fertig - mit dem sich einbrennenden Film eines solchen Überlebenskampfes? Wie bewährt sich jetzt Innere Führung, die Bindung der Bundeswehr an die Werte des Grundgesetzes?

Ein Journalist, der schon einige Tage hier ist, beobachtet bei den Soldaten eine besondere Ernsthaftigkeit. Ein AFG-erfahrener dt. Diplomat in Kabul lobt die „entschlossene Besonnenheit" der Bundeswehrsoldaten.

Danach

Zwei Tage nach unserem Wegflug aus Kunduz am 15.6. mehrstündiges Gefecht: ca. 15 km nordwestlich Kunduz, Beschuss einer ANA Kompanie mit belg. OMLT mit Handwaffen und RPG; die zur Hilfe gerufene QRF befreit die afghanischen und belgischen Soldaten aus der Umzingelung, Bei der angeforderten US-Luftnahunterstützung kommt es erstmalig zum Waffeneinsatz einer A-10 (Bordkanone und Rakete) im Nordosten. An dem ca. sechsstündigen Gefecht sind etwa 200 afghanische, dt. und belgische Soldaten beteiligt. 2 ANA Soldaten und mindestens 5 Angreifer wurden getötet.

Zehn Tage nach unserem Kunduz-Besuch werden in Chahar Dara 6 km südwestlich des PRT Kunduz Kräfte der Schutzkompanie mit Handfeuerwaffen und RPG angegriffen. Bei Ausweichmanöver stürzt ein „Fuchs" in einen Wassergraben und überschlägt sich. Drei Soldaten sind eingeklemmt und ertrinken in dem 2 m tiefen Wasser, vier weitere können trotz Beschuss gerettet werden. Mehrere A-10 Thunderbolt leisten Luftnahunterstützung mit show of force.

Am selben Tag werden drei Zivilhelfer des „Development and Humanitarian Services for Afghanistan" in Aqcha/Jowzjan (Nordwest) durch IED getötet.

Am nächsten Tag bricht in Deutschland wieder eine der üblichen „Blitzdebatten" aus - Stimmen, die schwerere Waffen, die „Klartext" („Deutschland führt Krieg") fordern.

Wo Soldaten in Kunduz zu Recht ihre Kriegssituation ehrlich beim Namen genannt und nicht beschönigt haben wollen, da höre und spüre ich im heißen Berlin zugleich Kriegstrommler aus entgegen gesetzten Richtungen:

-       solche, die endlich wieder „kriegsfähig" sein wollen;

-       solche, die schlichtweg die taktische Ebene (Kleinkrieg in einzelnen Distrikten) und die strategische Ebene (Auftrag Stabilisierungsunterstützung) durcheinander bringen;

-       solche, die sich endlich bestätigt fühlen, nachdem sie seit Jahren den friedenssichernden ISAF- und Bundeswehreinsatz als Kriegseinsatz verkannt bzw. verzerrt haben.

Hohe Bundeswehroffiziere nennen diese Debatte absurd: Wo sich die neue US-Regierung gerade von der Ideologie des „Krieg gegen den Terror" verabschiede, drängen hierzulande viele jetzt in diese Richtung.

Eine solche - in erster Linie von Befürwortern des AFG-Einsatzes verantwortete - Debatte wirkt wie „friendly fire": weiterer Akzeptanzverlust in Deutschland, Verunsicherung für die Soldaten und ihre Angehörigen, Abschreckung für die freiwilligen Entwicklungshelfer und Polizeiausbilder, die so dringend und mehr benötigt werden.

Die Spitzen der Bundesregierung agieren bei alledem überwiegend reaktiv und geduckt, eher beschönigend, nie ressortgemeinsam, insgesamt ohne ehrliche Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit - halbherzig. Angesichts der gefährlichen Abwärtsdynamik in AFG und der Chancen des US-Strategie-wandels ist das grob fahrlässig. Gegenüber den Millionen Afghaninnen und Afghanen, die immer noch besonders auf Deutschland setzen, gegenüber den tausenden Soldaten und hunderten Aufbauhelfern, Polizisten und Diplomaten, die in AFG Bewundernswertes leisten, ist das unverantwortlich.

Weitere Berichte und Stellungnahmen von W.N. zu Afghanistan/Pakistan - Auswahl (ohne Bundestagsanträge und -reden; vollständige Liste und Texte unter www.nachtwei.de)

- AWACS-Einsatz über Afghanistan: mehr Sicherheit oder mehr Krieg? Beratungspapier 19.6.2009

- Pakistan im April - Visite am Abgrund, Reisebericht Mai 2009

- „Better News statt Bad News aus Afghanistan", V/Juni ,IV/März 2009, III/November, II/September 2008, I/August 2007

- Materialien zur Sicherheitslage Afghanistans (+ Pakistans), lfd. aktualisiert seit Sommer 2007, Kurz- und Langfassung (intern), Juni 2009

- Persönliche Erklärung zur namentlichen Abstimmung über die Fortsetzung des deutschen ISAF-Einsatzes am 16.10.2008 zusammen mit Claudia Roth, Kerstin Müller, Bärbel Höhn, Britta Haßelmann, Katrin Göring-Eckardt u.a.; Brief an die KollegInnen der Bundestagsfraktion zur bevorstehenden ISAF-Entscheidung, 14.10.2008

- Vor der ISAF-Mandatsentscheidung: Jüngste Eindrücke aus Kabul, Mazar-e Sharif und Kunduz, Bericht von der Obleutereise Ende September/Anfang Oktober 2008

- Krieg in Afghanistan - „Bundeswehr im Krieg"!? Stellungnahme Oktober 2008

- Kurswechsel statt Sofortabzug - Zur Forderung nach einem kurzfristigen Truppenabzug aus Afghanistan, Stellungnahme 26.9.2008

- Viele Lichtblicke bei immer mehr Düsternis - Besuch in West-, Süd-, Zentral-, Nord-Afghanistan, Reisebericht September 2008

- Zwischenberichte zum prekären Stand der EU-Polizeimission in Afghanistan und zur Ausbildung für polizeiliche Auslandseinsätze beim Institut für Aus- und Fortbildung der Polizei NRW in Brühl, November 2007

- Enduring Freedom nach sechs Jahren: Selbstverteidigung ohne Grenzen - mehr Begleitschäden als Nutzen, 14.11.2007

- Dokumentation „Polizeiaufbau in Afghanistan 2002-2007", eigene Berichte und Initiativen

- Folienvortrag „Afghanistan: Wie weiter?", Januar 2008

- Afghanistan-Besuch im Oktober 2006: Zwischen Anschlagsgefahren und Aufbaufortschritten (mit Exkurs zum Streit über den ISAF-Einsatz in Süd-AFG), 24.11.2006

- Nach fünf Jahren Beteiligung an Enduring Freedom: Nicht mehr dringlich und nicht mehr verantwortbar, 7.11.2006

- Besuch in Nord-Afghanistan: Hoch kritische Monate, Reisebericht 24. Juli 2006

- Dringende Fragen: Afghanistan auf der Kippe? Juli 2006

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch