Die Zahl der Zivilopfer ist ein zentraler Maßstab für (In)Stabilität und (Un)Frieden. Noch nie zählte UNAMA so viele von den Aufständischen getötete (2.311) und verletzte (4.063) Menschen, noch nie so viel im Kontext des bewaffneten Konflikts getötete Kinder (561) und Frauen (235). Hier eine Zusammenfassung des UNAMA-Berichts mit Kommentierung - auch als Votum für (selbstkritische) Ehrlichkeit beim laufenden Truppenabzug und bleibender Aufbauhilfe.
Sicheres Umfeld? Mehr Frieden durch Abzug?
Der Anstieg der Zivilopfer in Afghanistan
um 14% auf 8.615 Tote und Verletzte spricht dagegen
(UNAMA-Jahresbericht 2013 über Zivilopfer)
Winfried Nachtwei (Februar 2014
Seit 2007 veröffentlicht UNAMA den Jahresbericht über den Schutz von Zivilpersonen im bewaffneten Konflikt in Afghanistan. Der Jahresbericht 2013 vom 8. Februar 2014 unter www.unama.unmission.org/Portals/UNAMA/human rights/Feb_8_2014_PoC-report_2013-Full-report-ENG.pdf . (1) Sehr hilfreich ist der Beitrag von Kate Clark vom Afghanistan Analysts Network: „Continuing Conflict Is Not Victory. What the UNAMA civilian casualties report tells us about the war“. (2)
Schlimmer als im Rekordjahr 2011: 2013 überstieg die Zahl der Zivilopfer mit 8.615 die des bisherigen Rekordjahres 2011 mit 7.839. In 2013 kamen im Kontext des bewaffneten Konflikts 2.959 Zivilpersonen zu Tode (3.133 in 2011), 5.656 wurden verletzt (4.706 in 2011), 14% mehr als 2012. In den sieben Berichtsjahren von UNAMA haben insgesamt über 17.500 Zivilpersonen ihr Leben im bewaffneten Konflikt verloren.
Schlimmstes Jahr für Frauen und Kinder: Besonders angestiegen sind Opferzahlen bei Kindern um 34% auf 1.756 (561 Tote, 1.195 Verletzte) und Frauen um 36% auf 746 (235 Tote, 511 Verletzte)
Kein Frieden durch Abzug: Der bewaffnete Konflikt in Afghanistan wird inzwischen überwiegend zwischen Afghanen ausgetragen. 3% der Zivilopfer gehen noch auf das Konto internationaler Truppen.
Die Erwartung mancher, dass der Rückzug internationaler Truppen konfliktentspannend wirken und damit (etwas) Frieden einkehren werde, hat sich bisher keineswegs bestätigt. Von 812 ISAF-Stützpunkten wurden bis September 2013 728 (89%) geschlossen bzw. an die afghanische Seite übergeben (455). In manchen Gebieten gewannen die Aufständischen mit dem Abzug Operationsfreiheit. Es entstanden Sicherheitslücken.
Verursacher der Zivilopfer waren lt. UNAMA 2013
- Regierungsfeindliche Elemente/AGE in 74% der Fälle (6.374 Opferr insgesamt, davon 2.311 Tote, 4.063 Verletzte – so viel wie nie zuvor), Anstieg um 4% ggb. 2012. 34% der Zivilopfer wurden durch Sprengfallen (IED`s) verursacht (962 Tote, 1.928 Verletzte), 14% mehr als 2012. Die Opfer von funkgesteuerten Sprengfallen nahmen um 84% zu. Durch gezielte Tötungen wurden 743 Menschen getötet (Vorjahr 698) und 333 verletzt. Zielgruppen waren zivile Regierungsvertreter, Menschen, denen die Unterstützung der Regierung vorgeworfen wurde, religiöse Führer, Stammesälteste, Wahlhelfer, ehemalige Polizisten, Unterstützer des Friedensprozesses. Drohungen und gezielte Attacken gegen Mullahs und Moscheen verdreifachten sich. Durch Selbstmordattacken und komplexe Angriffe wurden 255 Zivilpersonen getötet und 981 verletzt (-18%).
- Pro-Regierungskräfte/PGF in 11% der Fälle: 341 Tote (Vorjahr 316) Tote, 615 Verletzte (271), davon 8% ANSF und 3% internationale Truppen. Der Anstieg um 59% (im Vorjahr -46%) resultierte aus den ANSF-geführten Bodenoperationen, deren Zivilopfer um 129% anstiegen! Durch Luftoperationen internationaler Streitkräfte wurden 118 (128) Zivilpersonen getötet und 64 (78) verletzt – ein Rückgang um 10%. Durch Drohnen wurden 45 (16) Zivilpersonen getötet und 14 (3) verletzt – eine Verdreifachung gegenüber 2012.
- Bodenkämpfe zwischen Konfliktparteien: Hierbei stiegen die Zivilopfer um 43% auf 534 Tote und 1.793 Verletzte (27% aller Zivilopfer, 39% der getöteten bzw. verletzten Frauen und Kinder). 44% werden den AGE, 16% den ANSF zugeordnet. 38% konnten keiner Partei direkt zugeordnet werden.
- Zivilopfer nach Taktik/Zwischenfalltyp: 34% durch IED, 27% bei Bodenkämpfen (davon 44% durch Mörser + Raketen), 15% komplexe + Selbstmordattacken, 14% Targeted Killings, 2% Luftoperationen (Zivilopfer durch UAV`s verdreifacht auf 59, 45/14)
- 5% der Zivilopfer konnten nicht zugeordnet werden.
Afghan Local Police (ca. 25.277 Mann in 126 Distrikten): Lokale Gemeinschaften in vielen Distrikten berichteten von verbesserter Sicherheit durch die ALP-Präsenz. Die ALP wurde aber in 2013 für 121 (55 im Vorjahr) Zwischenfälle mit 32 (24) Ziviltoten und 89 (38) Verletzten verantwortlich gemacht – fast eine Verdreifachung gegenüber 2012. Die meisten Opfer entstanden durch summarische Exekutionen, Misshandlungen und Racheakte. Die meisten Zwischenfälle geschahen in der Provinz Kunduz (27 Zwischenfälle), Nangarhar (6). Zu der Massentötung von Kanam bei Kunduz City am 2.9.2012 gibt es inzwischen eine Fallstudie.
Illegale bewaffnete Gruppen: 39 Zwischenfälle mit 18 Toten und 37 Verletzten, bis auf einen alle in Kunduz, Faryab, Baghlan und Jawzjan (RC North).
(Bericht 2012: Illegale bewaffnete Gruppen wurden 2012 für eine wachsende Zahl von Menschenrechtsverletzungen an Zivilpersonen verantwortlich gemacht. Die Mehrzahl geschah in den Provinzen Faryab (Nordwest) und Kunduz (Nordost). Solche Gruppen operieren im Norden in 21 von 54 Distrikten (Balkh, Sar-i Pul, Jawzjan, Samangan, Fayab) und im Nordosten in 18 von 67 Distrikten (vier Distrikte der Provinz Kunduz, neun von Baghlan, vier von Takhar, zwei von Badakhshan). In 2012 hätten diese Gruppen in einigen Gebieten ihren Einfluss ausgeweitet. In manchen Gebieten hätten sie mehr Macht als die afghanischen Sicherheitskräfte. Z.B. der Distrikt Qala-e Zal in der Provinz Kunduz: Hier umfasst eine bewaffnete Gruppe 230 Mann, die Polizei nur 25-35. UNAMA schreibt diesen Gruppen insgesamt 28 Zwischenfälle mit 42 Toten und 32 Verletzten zu. 22 Vorfälle betrafen Menschenrechtsverletzungen (gezielte Tötungen, Entführungen, Drohungen, Schikanen, Zwangsabgaben, Verstöße gegen das Recht auf Bildung).
Attacken und Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen stiegen auf 32 Vorfälle ggb. 20 in 2012. Schulen und Lehrer wurden in 62 Fällen attackiert.
Zivilopfer durch IED nach Regionen: 2013, 2012, 2011, 2009
- Nord: 254, 230, 149, 47
- Nordost: 137, 151, 176, 52
- Ost: 288, 181, 234, 101
- Süd: 1106, 876, 906, 1079
- Südost: 675, 653, 597, 383
- West: 253, 261, 292, 125
- Central: 138, 179, 106, 90
Targeting-Killings-Fälle nach Regionen:
- Ost 184
- Süd 129
- Südost 96
- Nordost 35
- Nord 92
- Westen 58
- Central 49
Zivilopfer durch Mörser + Raketen: 1.026 (209 Tote, 817 Verletzte); zu 66% durch AGE, zu 24% durch PGF (+381% ggb. 2012!).
Mitglieder von Provinz-Friedensräten: Bei sieben Attacken wurden acht Personen getötet und zehn verletzt.
Opfer auf Seiten der afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF): Lt. Halbjahresbericht des Pentagon vom November 2013 (3) werden konventionelle Operationen von Pro-Regierungskräften inzwischen zu 95% von den ANSF geführt, Spezialoperationen zu 98%. Die ANSF-Verluste seien im Berichtszeitraum 1. April bis 30. September 2013 um 80% gestiegen. Die afghanischen Ministerien für Verteidigung und Inneres widersprachen: Bei der ANA seien die Verluste (Tote und Verwundete) um 14% gestiegen, bei der ANP um 15%.
Die ISAF-Verluste gingen um 59% zurück.
Die Verluste der Taliban/Aufständischen sind schwer zu schätzen. Lt. UN-Bericht vom November 2013 sollen sich die „Taliban-Verluste“ (getötet, verwundet, gefangen) in 2013 auf 10.-12.000 verdreifacht haben. (Tolo News 19.11.2013)
Der Pentagon-Bericht meldet für den Berichtszeitraum April bis September 2013 insgesamt 3.854 Zivilopfer (CIVCAS). 88% seien durch Aufständische, 3% durch ANSF und 1% durch ISAF verursacht worden.
Konfliktbedingte Vertreibungen: In 2013 wurden 124.354 Menschen neu vertrieben, ein Anstieg um 25%. Insgesamt gibt es landesweit 631.286 Binnenvertriebene. Die Hälfte verlor ihr Zuhause in den letzten drei Jahren.
AAN-Kommentar von Kate Clark (Auszüge):
Es lasse sich voraussagen, dass der bewaffnete Konflikt zwischen den Aufständischen und den ANSF andauern wird.
Auf Seiten der Regierungskräfte gebe es Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und Menschenrechte bei einem Teil der ANSF, insbesondere bei der ALP und den bewaffneten Gruppen.
Insgesamt und im historischen Vergleich seien die ANSF, insbesondere die ANA, recht disziplinierte Kräfte, die weder auf Zivilisten zielen noch ohne Rücksicht auf die kämpfen würden. Künftig werde die ANSF aber weniger internationale taktische Unterstützung erhalten (close air support, Lufttransport, MedEvac, IED-Aufklärung), so dass sie mehr auf eigene Mörser und Raketen angewiesen sei – mit erhöhtem Risiko für die Zivilbevölkerung.
Der UNAMA-Report widerlege alles Gerede von „Sieg“ – auf Seiten von ISAF wie der Taliban. Die Zivilbevölkerung gewinne laut UNAMA nur, wenn die Zivilopfer insgesamt zurückgehen.
UNAMA betont zu Recht, dass im Kontext der Übergabe die Reduzierung der Zivilopfer und die Verbesserungen beim Menschenrechtsschutz Schlüsselindikatoren für Stabilität und Friedensbemühungen sein müssen.
(1)Vgl. UNAMA-Bericht 1. Halbjahr 2013 bei W. Nachtwei: „Alarmierende US-Studie zu AFG: Failing Transition“, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1229 .
Zusammenfassung des UNAMA-Jahresberichts 2012 www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1195 )
(3) Report on Progress Toward Security and Stability in Afghanistan, November 2013, www.defense.gov/pubs/October_1230_Report_Master_Nov7.pdf
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: