An der Schwelle zu meinem vierten Lebensquartal stöberte ich 75 Jahre zurück - mit Hilfe der Erinnerungen meiner Mutter Milli. Hier einige Auszüge.
Vor 75 Jahren
Aus den ERINNERUNGEN von Milli Nachtwey, geb. Fronell,
zum Umfeld meines Geburts- und ersten Nachkriegsjahres 1946
Meine Mutter Milli wurde am 8. März 1913 in Köln und starb am 6. Januar 1999,
Verheiratet war sie mit Dr. Hermann-Josef Nachtwey und Mutter von Diethild (1940), Hildegund (1942), Winfried (1946), Mechthild (1949).
Diese Erinnerungen schrieb sie 1993 und ab Sommer 1994 nieder. Diethilds Mann, Dr. Peter Sauerwald, sorgte sich darum, dass die Erinnerungen schön in einem ersten Büchlein mit 42 Seiten und einem dickeren Buch mit 241 Seiten gebunden wurden.
Auszüge, Zwischenüberschriften, Hervorhebungen und Anmerkungen von mir. Seit vielen Jahren, vor allem aber seit meiner Arbeit im Bundestag ab 1994 ist mir sehr bewusst, welches unglaubliche Glück ich gehabt habe, im ersten Nachkriegsjahr geboren zu sein, dem Beginn einer Friedensperiode, wie sie der „Kontinent der Kriege“ seit Menschengedenken nicht erlebt hatte. Vor uns in jeder Generation Krieg, Gefallene, Vermisste, Verstümmelte, Vertriebene. Dass mein Vater schon um 1946 ein so intensiver Vortragsredner war, war mir gar nicht mehr bewusst. Meinen starken, moralisch gefestigten und geistig wachen und beweglichen Eltern verdanke ich mein Urvertrauen. Dass sie mir den Vornamen Winfried gaben, den Geburtsnamen des Hl. Bonifatius, des „Apostels der Deutschen“ aus dem 7./8. Jahrhundert, war sicher bewusst gewählt. Im Althochdeutschen bedeutete Wini Freund, fridu Frieden, Schutz, Sicherheit, Winfried Friedensfreund, der Friedensucher. Diese Namensbedeutung wurde mir erst bekannt, als ich schon länger friedens- und sicherheitspolitisch aktiv war.
Münster, 14. April 2021 Winfried Maria Nachtwei
KRIEGSZEIT
(S. 81) Am 10. Mai (1940) begann der Westfeldzug mit Deutschlands Angriff gegen Frankreich. Und am 19. Mai, meinem Namenstag, wurde Hermanns Einheit nach Westdeutschland verlegt; die erste Station war Hamm, Westf., wo ihre Flakabwehr auf dem großen Güterbahnhof stationiert war. Bis Ende des Jahres waren sie dann noch in Gelsenkirchen, Emmerich, Duisburg und schließlich in Düsseldorf bei Mannesmann. (…)
(S. 95) Inzwischen schrieben wir das Jahr 1942. Hermann bekam von Holland noch mal einige Tage Urlaub und musste dann zum Ilmensee nach Russland. (Mit Hermanns Briefen bin ich oft zu B. Hering (Anm. W.N.: befreundeter katholischer Pfarrer) gegangen und habe ihm manches daraus vorgelesen. Ich war danach immer etwas getröstet. In Russland lag ganz tiefer Schnee. Als im späten Frühling Tauwetter einsetzte, sind die Soldaten oft über völlig vereiste Leichen von Soldaten gegangen. Mit der russischen Bevölkerung hatten die Deutschen sehr guten Kontakte. Viele Aufnahmen von ihren einfachen Behausungen und den liebenswürdigen Menschen haben sie gemacht. Das Schönste war, dass sie die Sauna der Leute auch benutzen durften. (…)
(S. 100, Mitte Dezember 1942 Anruf von Hermann) „Hermann musste mit seiner Einheit nach Griechenland. Am Heiligen Abend kamen sie bei strahlendem Sonnenschein in Athen an. Sie bezogen Stellung im Hafen von Piräus. Während dieser Zeit in Griechenland (von Ende 1942 bis zum Sommer 44) musste ich mir um Hermann nicht so große Sorgen machen wie in der Zeit in Russland. Dort war es ja noch relativ ruhig. Außer einigen Einsätzen auf der Insel (?) und auf Kreta geschah wenig. So hatte er Zeit und Gelegenheit genug, sich intensiv um Kultur zu kümmern. Die Freundschaft mit der unvergessenen Marika Veloudion, einer in ganz Griechenland bekannten Fremdenführerin, war unerhört bereichernd für Hermann und viele seiner Kameraden, die sie alle um sich geschart hatte. Es waren alles Menschen, die Griechenland und seine alte Kultur liebten. Sie führte sie an die berühmtesten Stätten Griechenlands und begeisterte ihre Zuhörer durch ihr unglaubliches Wissen übe die Heiligtümer des alten Hellas. Zu dem auserkorenen Kreis gehörten z.B. Bruno Schaar und Erhard Kästner, der große Griechenlandkenner, der nach seiner Gefangenschaft in Afrika von 1950 bis 1968 Direktor der Herzog- August-Bibliothek zu Wolfenbüttel war (der berühmten Bibliothek von Leibnitz und Lessing). Hermann hatte nach dem Krieg noch regen Briefkontakt zu den vielen Freunden aus jener Zeit.
Das größte und schönste Ereignis in Hermanns Griechenlandzeit waren aber die Kulturwochen der Deutschen Wehrmacht in Athen am 26. März bis 9. April 1944. Hermann als Leiter der Kulturwochen sprach am 1. Abend das Geleitwort.(…).
(Mai 1943) Wir waren in großer Sorge um unsere Lieben im Westen Deutschlands. Es hatte schon etliche Angriffe im Ruhrgebiet gegeben. Eines Tages hörten wir, dass in Dortmund unsere Propsteikirche, das Rathaus und die Stadtbibliothek zerstört worden seien. (…)
(S. 111, Milli mit Töchtern in Görlitz) In Berlin war es ziemlich ruhig. Frau Schlegel fragte einmal bei mir an, ob ich wohl meine Wohnung (in Petershagen bei Berlin) für eine jüdische Familie für eine gewisse zeit zur Verfügung stellen könnte.. Natürlich tat ich das sofort. Und so konnte Dr. Leszezynski mit Frau und Tochter – am Savignyplatz hatte er eine schöne Praxis – bei uns in der Adolf-Hitler-Straße !! etwas Ruhe vor den Nazis finden. Kurz bevor ich im November wieder nach Berlin zurückkehrte, hatten andere Freunde ihn aufgenommen, und in einem Versteck hat er dann die letzten beiden Jahre zubringen müssen. (…)
Im August 1944 kam Hermann für einige Tage auf Urlaub. Er traf sich an einem Tag mit Admiral Stummel in Berlin (beide in Zivil). Auf einer Bank in der Nähe des Schlosses wurde der Jüngere von dem Mann mit der größeren Erfahrung und dem besseren Durchblick übe die wirkliche politische und militärische Situation Deutschlands aufgeklärt. Für mich und erst recht für Hermann war es am wichtigsten, von einer so kompetenten Stelle zu erfahren, wie es in Wirklichkeit um uns stand. Für Ludwig Stummel war es sonnenklar, dass wir den Krieg verlieren würden und dass sein Ende nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Hermann wurde in diesem Urlaub noch nach Grüngräbchen b. Dresden zitiert. Die Diskussion mit ihm dauerte eine halbe Nacht, und am Ende stand der Satz seines Gegenübers: „Rechnen Sie mit einem Frontkommando“. Man hatte von den Kulturwochen in Athen gehört und daraufhin erfolgte wohl diese „Untersuchung“. Man stellte ihm bevorzugte Beförderung in Aussicht, verlangte aber seinen Kirchenaustritt. Dass er seine Kinder hatte taufen lassen, wusste man natürlich auch. Der Schlusssatz seiner Antwort: „… oder suchen Sie Charakterschweine?“ Das genügte für den Schlusssatz.
Als Hermann wieder uns nach Petershagen kam, war er mit den Nerven ziemlich am Ende; denn das erwähnte Frontkommando kam ja praktisch einer Verurteilung zum Tode gleich. Wir beide waren voller Sorge und Angst, Ja, wir rechneten tatsächlich mit einer plötzlichen Verhaftung..
(S. 119) Hermann fuhr am 3. September 44 wieder gen Süden, kam aber nur noch bis Belgrad; denn Rumänien war ja am 23. August „gekippt“ (so sagten wir damals). So dass deutsche Soldaten nicht mehr durchkamen. Hermann wurde also dort eingesetzt und kam ins Banat, kämpfte in Rumänien an der Donau in der Nähe des „Eisernen Tores“, nördlich davon in den Waldgebieten.
Am 28.9. wurde er bei einem Spähtrupp auf einem steilen Hang duch einen Lungenschuss schwer verwundet. Zweieinhalb Stunden hat er noch im Feuer gelegen und fast mit seinem Leben abgeschlossen. Abe dann wurde er doch noch herausgehauen, nach WEisskirchen transportiert, wo er zugleich eine Bluttransfusion bekam. Und dann wurde er mit der alten Ju 52 nach Steinamanger (Szombathely) gebracht.
An einem Samstag nach dem 1.10. bekam ich einen Brief von einem Hauptmann Kaufmann und einem Major Sonntag mit der beruhigenden Nachricht, dass die Aussichten auf guten Verlauf der Heilung jetzt allgemein auf durchaus günstig bewertet werden könnten, nachdem am Anfang der der Zustand nicht unbedenklich gewesen wäre.
Am Abend dieses Tages war bei mir Familiengemeinschaft, eine Einrichtung unseres Kurators, der schon sehr bald der Meinung war, dass es nach dem Krieg uns Christen an den Kragen gehen würde. Für mich war es wunderbar, an diesem Abend liebe Menschen um mich zu haben. (…) (Wenige Tage später Nachricht von der Schwiegermutter in Dortmund, dass ihr Mann bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sei. Zwi Tage späte eine Karte von Millis Eltern „“total ausgebombt“)
(S. 124) Am 25. November kam der langersehnte Soldat dann endlich in Begleitung eines anderen Soldaten bei uns in Petershagen an. (…) Wer kann unsere Freude beschreiben?
(In Griechenland hatte Hermann im Frühjahr 1943 einen Soldaten kennengelernt, mit dem ihn bald eine echte Freundschaft verband. Er kam aus dem Bayer. Wald und hatte vor dem Krieg Theologie studiert. Er riet Milli mit den Kindern zu seinen Eltern in die Abgeschiedenheit eines kleinen Dorfes zu schicken, wenn es in Berlin mal gefährlich werden sollte: Familie Wanninger, Dietersdorf, Post Sattelpeilstein) Der Russe kam uns ja immer näher, er stand zu dieser Zeit schon bei Küstrin und Frankfurt/Oder. Ein Telegramm: „Kommt sofort zu uns, Fam. Wanninger“. (…) Am Mittwoch, 21. Februar (1945) ging es dann schließlich los.
(Wittenberg, Leipzig, Plauen, Hof, Weiden, Dietersdorf)
Ende März bekam ich en letzten Brief von Hermann, in dem er mir erklärte, dass der Amerikaner beim Vorstoß am Main in Richtung Osten einen Trennungsstrich zwischen Nord und Süd ziehen würde.
KRIEGSENDE und TAGE IM JULI
(S. 141) Als wir dann am 8. oder 9. Mai vom Kriegsende hörten, waren wir zwar sehr erleichtert; aber an unserem Leben änderte sich ja nichts. Und das ungewisse Warten und die Sorge um Hermann und die beiden Söhne des Hauses, erfüllte unser ganzes Denken.
Seit April hatte ich nichts mehr von Hermann gehört. Und nun begann das Warten auf ein Lebenszeichen. Endlich, am Abend des 13. Juli 1945 (wir hatten am Nachmittag Waldbeeren gesucht) kam ein müder Soldat eine kleine Anhöhe zu unsrem Bauernhaus hinauf. Die Tochter des Haus schrie mich an: „Deine Mo“ (Dein Mann). Diethild erkannte den Vater und rannte ihm entgegen. Ich glaube fast, dass dies der schönste Tag meines Lebens war. Wir hatten zwar nichts: kein Heim, keine Möbel, keinen Beruf. Aber wir waren wieder zusammen.
Hermann war in diesen Tagen bei uns in Dietersdorf von einem unerhörten Drang nach geistige Arbeit gepackt. Das fand seinen Niederschlag im Schreiben von, für unseren damaligen Geschmack, wunderschönen Gedichten, Gebeten, kleinen Aufsätzen.
(In diesen glücklichen ersten Friedenstagen in Dietersdorf entsteht offenbar der spätere Winfried, „Friedensfreund“)
Nun erfuhr ich auch, wie die Monate nach Kriegsende für ihn und seine Kameraden verlaufen waren. Sie waren nach Kriegsende in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten, Hermann kam in ein Lazarett in Gotha, wo er wieder einige nette Menschen kennenlernte. Als am 1. Juli der Russe, von Osten kommend, Thüringen besetzte, haben viele Soldaten die Flucht ergriffen und gelangten nach abenteuerlicher Fahrt auf Kohlezügen wieder in das besetze Gebiet der Amerikaner.
Nach ca. 10 Tagen ging Hermann wieder auf die Wanderschaft, zunächst in ein amerikanisches Gefangenenlager, denn er hatte ja noch keinen Entlassungsschein und ohne diesen existierte er ja eigentlich gar nicht. Das ging aber ohne jegliche Schwierigkeiten. Dann fuhr er per Anhalter nach München, um dort zu versuchen, eine neue Existenz aufzubauen.
Zurück zum 13. Juli (1945). Nachdem Hermann uns nach etwa 10 Tagen wieder verließ, (…) wurde die Bäuerin etwas ungehalten, weil ich keine Anstalten machte, nach Berlin zurückzugehen. ((S. 146)
Irgendwann kam dann auch Post von München, wieder ein Lichtblick. Da Berlin für uns absolut nicht in Frage kam, versuchte Hermann in München Fuß zu fassen. Ein Besuch beim Kardinal Faulhaber, der ihm interessiert zuhörte, als Hermann von seinen Plänen für die Zukunft Deutschlands berichtete. Scheinen ihm nachher viele Türen geöffnet zu haben. Jedenfalls hatte Hermann in kürzester Zeit sich einen Kreis geschaffen von besonders jungen Leuten, die seine Ideen aufgriffen. Viele Vorträge hat er in dieser Zeit gehalten in Ingolstadt und in anderen Städten. (S. 148) (…) Da die Postverhältnisse sich inzwischen auch gebessert hatten, hörten wir von der unerhört großen Not in der russisch besetzten Zone. Bei seinen Vorträge hat er auch davon erzählt, und ganz bald kamen bei Bernhard Hering in Petershagen Hunderte von Päckchen an für seine hungernde Gemeinde. (…)
MÜNSTER IN TRÜMMERN
Hermann fuhr am 29. September gen Westen. (Hagen, Dortmund, Hamm, Münster)
(S. 149) Brief vom 4.10.
„Und es kam Münster. Ja, wie sah das Panorama doch noch aus? Richtig, ich entsann mich. Aber nach Münster musste es doch wohl noch weiter sein. Nein, es war nicht weiter. Aussteigen in einem Ruinenfeld, in dem hie und da einige Menschen gingen, Häuserhaufen, Straßen, winklige Wege zwischen bewachsenen Ruinen und großen, wirren Dreckhaufen und Stille überall. In 20 Jahren dürfe ein Wald dort stehen, und man wird vielleicht Legenden schreiben um eine versunkene Stadt. … Vor der Sperre traf ich Franz Dietsch, Meisterschüler der Dortmunder Städt. Musikschule. Kurzes gutes Gespräch, Adressenaustausch. Landeseisenbahn fährt nicht. Also zu Fuß los. Wolbecker Str.. Am Hansaplatz, dicht vor meiner letzten Wohnung, treffe ich einen alten Musiker des Städt. Orchesters, schneeweißes Haar. Er erkennt mich auch und schimpft gleich schmerzerfüllt auf mich ein. Seine Jungen tot, sein Jüngster sehr schwer verwundet und nicht heilbar, dazu beim Russen. Der Mann war halt irre. Bei Frau Stein (seine letzte Wirtin) oben alles zerstört. Ich kam bei Holtkötters vorbei. Über dem Kanal lag ein Schiff, das als Brücke diente. (…) Der Kanal leer, Wassertümpel mit schief liegenden Schiffen. An der Loddenheide war plötzlich der Bahnhof. (…)
ZURÜCK NACH WESTFALEN: WULFEN
(S. 156, Ende November 1945 „Umzug“ mit Hermann und den Töchtern von Dietersdorf) in abenteuerlicher Reise auf geschlossenen und offenen Güterwagen in vier Tagen nach Wulfen. (bei Dorsten in Westfalen). (Die Gruppenfreundin Carola Commer, deren Mann in Russland vermisst war, hatte Hilfe angeboten)
(Zurück in Bayern war Hermann ) hauptsächlich mit dem Schreiben von einigen Stücken beschäftigt: „Prometheus, „Wir waren alle fern“ usw. usw. Wer Lust hat, kann sich ja in späteren Jahren die Ergebnisse seiner Dichterperiode mal unter die Lupe nehmen.
(S. 170) Brief vom 18.3.46
„Eine kleine Freude habe ich heute Morgen erlebt. Wir Flüchtlinge mussten uns melden, um karteimäßig erfasst zu werden. Es waren drei Herren aus Harvest-Dorsten gekommen. Einer gefiel mir besonders durch seine freundliche Art, wie er mit den Flüchtlingen sprach. Ich wartete also bei ihm. Als ich an der Reihe war, nannte ich meinen Namen, bei Nachtwey stockte er und fragte mich, ob ich verwandt oder bekannt wäre mit einem Nachtwey, Oberleutnant bei der Flak. Ich musste gestehen, dass ich sogar dessen Frau sei. Da schlug der Mann beide Hände über dem Kopf zusammen. Er konnte sich einfach nicht mehr fassen. Es war also ein Werber Kierfeld. Ihr hättet Euch noch in der letzten Zeit kennengelernt, und Ihr wäret noch gute Freunde gewesen. Er schien Dich sehr zu lieben, sprach begeistert von Deiner Lesung aus Deinem Drama und verschiedenen Gedichten. . Ja, und ich wäre doch da irgendwo in der Nähe vom Böhmerwald gewesen und hätte mit den Bauern immer aus einer großen Schüssel essen müssen. Er war ganz glücklich, dass es Dir gut ging. Ich habe ihm viel von Dir erzählt. Er ist jetzt Leiter des Fürsorgeamtes in Harvest-Dorsten (gleich am Bahnhof in den Barracken neben der Post). (…) Er wohnt in Herten , hast seine Frau und drei Kinder bei sich, hofft bald in Dorsten eine Wohnung zu bekommen. Ich habe ihm schon gesagt, dass Du in Kürze wohl hier sein würdest zur Geburt unseres Kindes. Da platzte er heraus: „Aber das sieht man Ihnen wirklich nicht an, ach, entschuldigen Sie bitte“ Ja, so klein ist die Welt.“
Mitte März holten meine Eltern unsere beiden Töchter nach Hoetmar. (…) Nun waren wir allein, hatten viel Zeit zum Schreiben und Lesen und vergingen trotzdem vor Sehnsucht nach den Kindern. Übrigens habe ich in dieser Zeit auch angefangen, auf unserer Schreibmaschine zu schreiben, und zwar waren es Briefe oder „Dichtungen“ von Hermann, worüber ich sehr stolz war und Hermann glücklich.
DAS DRITTE KIND
Die Hebamme, die in diesen Tagen zu einer Untersuchung zu uns kam, meinte, ich könnte wohl schon ab 20. März mit dem großen Ereignis rechnen, aber sicher bis Anfang April.
Hermann machte sich daraufhin am 1. April auf die Reise zu uns. Da sich aber bis dahin immer noch nichts tat, fuhr er noch nach Hoetmar, um die Kinder wenigstens wiederzusehen.
Als er nach einigen Tagen zurückkam, war in Wulfen noch alles beim alten. Da Herman vom 1.-16.4. Urlaub hatte, musste er sich am 12. April wieder auf die Reise begeben; denn in Hagen waren noch ein Vortrag und eine Lesung aus seinem Drama vorgesehen. Dieser Abschied ist uns beiden doch sehr schwer gefallen.
Nach den Veranstaltungen in Hagen überlegten die Freunde, ob man nicht noch mal nach Wulfen fahren könnte. Aber keiner hatte von der Militärregierung eine Genehmigung für den Sonntag.
Am Montagmorgen um 6 Uhr wurde Winfried geboren. Hermann kam am Dienstag völlig k.o. und mit Stoppelbart in Holzkirchen an. Da war das Telegramm schon da. Hermanns Gedanken zu diesem bedeutenden Ereignis sind in einem langen Brief vom Karfreitag (19.4.) nachzulesen.
Dank der liebevollen Pflege von Carola erholte ich mich sehr schnell. Am 29. April wurde Winfried in der Wulfener Pfarrkirche getauft und zwar von Ernst Sengen, Hermanns Freund, der uns ja auch getraut hat. Der Sohn benahm sich vorbildlich, obwohl ihm viel Wasser über den Kopf lief. Schön war auch noch, dass Kindergartenkinder mit einer Schwester an der Feier teilnahmen.
Carola war in diesen Tagen zu Freunden nach Koblenz gefahren; denn die Kinder konnten noch einige Tage bei ihren Verwandten bleiben. So waren nur Oma Nachtwey und Ernst Sengen meine Gäste. (…)
Ich bekam viele schöne Briefe von überallher. Werner Kierfeld z.B. schrieb: „Möge er wie sein Vater etwas haben vom Apostel der Deutschen, und ich hoffe so sehr, dass er ein freies, glückliches und friedliches Europa erleben wird. Und wir wollen die Vorbereitungen dafür leisten.“
Mitte Mai brachten uns meine Eltern Diethild und Hildegund wieder. Sie hatten dank des guten Essens in Hoetmar gewaltig zugenommen. Und frech waren sie auch geworden, besonders Diethild. Berichte darüber /(aber nicht nur darüber) sind in meinen Briefen an Hermann von Mai – Juli 1946 zu lesen. Diethild sagte einmal nach ihrer Rückkehr: “Jetzt habe ich einen Mann, nun müssen wir noch ein Brüderchen für Hilde4gund haben.“ In Hoetmar hatten sie Ostern beim Eiersuchen mal gesagt: „Omi, Omi, das ist alles für Mutti und das Brüderchen.“ Andere Redewendungen: „Das hat meine Oma gesagt“ oder „das schreibe ich Oma und die schimpft mit Tante Carola.“ Oder Frage von uns: „Wo ist es schöner in Petershagen oder in Wulfen?“ Antwort: „in Hoetmar.“
Hermann schrieb mir mal in einem Brief im Mai, dass Winfried am 14.5. Namenstag hätte. Ich antwortete ihm: „Irrtum, W. hat am 5. Juni Namenstag (…), am Tag des hl. Bonifatius, des Apostels der deutschen. Der Bonifatius vom 14.5. war ein Märtyrer (um 306 in Tarsus) und obendrein gehörte er zu den Eisheiligen. Winfried aber soll zu den Feuergeistern gehören wie sein Vater. Also Religion 5!“
STADELHEIM
Einige Wochen nach Winfrieds Geburt bekam ich von Hermann einen sorgenvollen Brief. Er war denunziert worden, von wem, wusste er nicht. Er hatte angeblich den Fragebogen gefälscht. Wie war der Sachverhalt?
Anfang 1933 (Hermann war Student in Münster) wurde die Akademische Fliegergruppe aufgelöst, Vermögen und Mitglieder wurden in eine technische SA-Einheit überführt. Hermann machte einige Male in Uniform Dienst mit. Eine Aufnahmeerklärung hatte er nie unterschrieben und auch keinen Beitrag gezahlt. Nach wenigen Wochen blieb er einfach wieder weg. Es dauerte einige Wochen nach dieser schrecklichen Nachricht aus München im Sommer 46, dass Hermann (mit etlichen anderen) vor dem amerikanischen Militärgericht vorgeladen wurde und, ohne ihn anzuhören, zu zwei Monaten Haft verurteilt wurde. Sie Einzelheiten dieser traurigen sind wieder in zahlreichen Briefen aus dieser Zeit nachzulesen. Es war eine Tücke des Schicksals, dass er am 19. Juli die Haft antreten musste, genau 1 Jahr vorher am 13. Juli 1945 war er zu uns in den Bayer. Wals heimgekehrt.
Diese Woche haben ihm schwer zu schaffen gemacht. Aber seine zahlreichen Freunde in Bayern und in Westfalen schliefen nicht. Ich habe alten Bekannten geschrieben, und sie haben mit riefen und Päckchen in rührender Weise reagiert. Manchmal gingen auch Päckchen an den Absender zurück, wenn die erlaubte Mende schon überschritten war. Das Schönste war aber, dass in Stadelheim einem früherer Kaplan aus unserer geliebten Propsteikirche in Dortmund Gefängnisseelsorger war, der sich unendlich freute, den Hermann Nachtwey als politischen Gefangenen hie anzutreffen. Er besuchte ihn oft und hätte ihm am liebsten „lebenslänglich“ gewünscht, weil er im Gottesdienst so schön Orgel spielte. Und da war noch ein eingesperrter Musikprofessor, der Piston (Kornett) dazu blies. Die Ernährung war miserabel, so dass er eine unangenehme Magen-Darm-Erkrankung bekam, weswegen er einige Zeit auf der Krankenstation weilen musste. Danach bekam er sogar ein „Einzeldimmer“ mit fließendem Wasser usw. Diese Wochen in Stadelheim waren für ihn schlimmer zu ertragen als die 6 Kriegsjahre. Je näher es dem Ende zuging, desto lauter wurden die Bitten seiner Freunde, Bayern nicht den Rücken zu kehren. Sie machten ihm alle möglichen Angebote.
NACH JAHREN DER TRENNUNG FAMILIENLEBEN
Aber sein Entschluss stand fest, nach Westfalen zu gehen, zumal Werner Kierfeld auch nicht untätig gewesen war. Er war ja inzwischen in Datteln als Amtsdirektor gelandet (und war dies bis 1961). Und ich hatte auch in Wulfen eine Wohnung gefunden, zwei Minuten von Carola entfernt. Die Besitzerin des schönen Hauses war die Witwe des Tierarztes von Wulfen. Die ersten Möbel bekamen wir von Wulfener Bürgern geliehen oder geschenkt. Es muss Ende September gewesen sein, dass ein kleines Mädchen aus unserem Haus Keuchhusten bekam, und bald husteten alle Kinder. Winfried wurde noch gespritzt von einem Arzt. Aber ich nahm vorsichtshalber Reifsanis (?); denn der Keuchhusten der beiden Großen im November 43 war für mich immer ein Schreckgespenst. Ich bin also sofort in das Haus der „lustigen Witwe“ gezogen. Aber dort konnte ich noch nicht kochen; denn das Haus musste erst noch für eine 2. Familie hergerichtet werden. So musste ich also alles Nötige bei Carola zubereiten und es dann herübertragen. Aber auch diese Zeit wurde bewältigt.
Hermann hatte nach seiner Entlassung am 10. Sept. in Bayern noch einiges abzuwickeln, er musste auch noch einige, bereits geplante Vorträge halten. Am 4. Oktober kam er schließlich bei uns in Wulfen an laut Telegramm: „fröhliche Heimkehr. Der Ausbleiber.“
Nun begann also ein normales Familienleben. Aber was hieß damals schon „normal“? Schließlich lebten wir unter primitivsten Verhältnissen. Aber wir waren wieder zusammen. Und das wog alles andere auf. Inzwischen hatte sich in Datteln schon einiges getan Am 30. Dezember (1946) nahmen wir Abschied von Wulfen. (Anm. W.N.: Seitdem war ich nicht mehr in Wulfen. Später sagte ich des Öfteren, ich sei nach dem Krieg in Wulfen „auf der Durchreisegeboren“ worden. Auf „Wulfen Wiki“ werde ich als einer von fünf „Berühmten Wulfenern“ geführt: http://wulfen-wiki.de/index.php/Ber%C3%BChmte_Wulfener )
Diethild und Hildegund wurden wieder von meinen Eltern nach Hoetmar Winfried fuhr mit uns und der Oma Nachtwey aus Dortmund auf einem Möbelwagen in die neue Heimat. Werber K. war es gelungen, mitten im Ort (Türkenort 8) eine Wohnung für uns zu bekommen. Zunächst nur Küche und Schlafzimmer. Die Küche war möbliert mit den Möbeln der verstorbenen Eltern unserer Hausbesitzerin. Ein großer altmodischer Kohleofen entzückte uns geradezu. Fr. Sauerland hatte eine gute Suppe für uns gekocht, wir hatten also allen Grund, uns sofort heimisch zu fühlen. Herr Sauerland war Versandleiter der Zeche Emscher-Lippe. D.h., nun mussten wir nicht mal frieren.
Im Schlafzimmer mussten 5 Personen schlafen: Die beiden Töchter mit den Elternzusammen mit Winfried im Bettchen hinter der Tür, die man deshalb immer nur zur Hälfte öffnen konnte. Herrlich war noch, dass wir gleich eine Hilfe für den Haushalt hatten: das ostpreußische Flüchtlingsmädchen Martha, deren Schwester bei Kierfelds beschäftigt war. Martha konnte auch dort schlafen, bis wir um Pfingsten herum die ganze Parterre-Wohnung bekamen. Jetzt hatten wir also schon 4 Zimmer, Küche und Bad. Das Wichtigste war für mich, dass Hermann nun im Wohnzimmer auch arbeiten konnte; denn vorher musste er ja mit einem in Wulfen erstandenen Schreibtisch vorliebnehmen, der in der Küche ebenfalls hinter der Tür zum Flur stand. Unser guter Freund, Dr. Heinz Lades aus Erlangen, machte Hermann mal den Vorschlag, um Schreibtisch und Stuhl einen dicken Kreidestrich zu ziehen und innerhalb desselben sollte dann sin Reich sein. Trotz dieser Bescheidenheit fühlen wir uns schon wie im Paradies.
Am 30. Dezember waren wir also eingezogen. Am nächsten Abend waren wir schon bei Kierfelds eingeladen, für uns ein wunderbares Geschenk. Und dann ging es erst richtig los. Lore Kierfeld hatte nichts Eiligeres zu tun, als uns in Datteln bekanntzumachen bei all ihren Freunden, die dann bald auch schon unsere wurden. In diese Zeit er primitivsten Wohnverhältnisse fielen aber trotzdem auch manche Sternstunden. Ich erinnere mich z.B. an einen Abend, an dem wir „berühmte“ Leute zu Gast hatten: außer Dr. Heinz Lades (Erlangen) und Kierfelds noch einen Prof., dessen Namen ich nicht mehr weiß. Jedenfalls wurde über die Relativitätstheorie von Einstein diskutiert. Ich hatte Püfferchen in der fettlosen Pfanne gebacken und dazu gab es einen „gesunden“ Tee. Wir Frauen hörten nur schweigend und stauend zu, und irgendwann saß Lore am warmen Ofen, mehr schlafend als wachend. Ein anderes Mal kamen Vera und Werber Döhmann vorbei, als nur Martha mir den drei Kindern zu Hause waren. Sie hinterließen auf dem Schreibtisch einen Zettel mit einer Einladung zu einem Besuch bei ihnen in ihrem schönen Haus in der Pestalozzistraße. (…) (S. 190) .
Zu Hermann-Josef Nachtwey, 1958-1973 Leiter der Landeszentrale für politische Bildung NRW: Buchveröffentlichungen: https://www.zvab.com/buch-suchen/autor/hermann-josef-nachtwey/ ; „Staatsbürger-Bildung – Um Kopf und Topf“, SPIEGEL 19.03.1963
https://www.spiegel.de/politik/um-kopf-und-topf-a-5bc2e76b-0002-0001-0000-000045142762
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: