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25 Jahre I. Deutsch-Niederländisches Corps: Begegnungen mit dem Corps von Münster bis Afghanistan (Teil II 2010-2020)

Veröffentlicht von: Nachtwei am 29. August 2020 10:36:52 +01:00 (28742 Aufrufe)

Auszüge: Gedenkansprache Volkstrauertag 2010 im Rathaus Münster; Rede eines Zugführers über scharfen Einsatz bei Kunduz; Artikel zu "Vernetzter Sicherheit"; Rückkehr der Bündnisverteidigung nach der Krim-Okkupation; 20 Jahre DEU/NDL Corps "Positive Kontinuitätsbrüche, friedenspolitische Chancen"; ein NL Offizier aus dem 1. KFOR-Kontingent. Vorgeschichte: Blockade des I. Korps 1983: "Widerstand durch Niedersetzen".       

25 Jahre I. Deutsch-Niederländisches Corps:

Common Effort für GEMEINSAME Friedenssicherung.

Begegnungen mit dem Corps von Münster bis Kabul - Erfahrungslernen

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (26.08.2020)

TEIL II

(Fotos auf www.favebook.com/winfried.nachtwei )

Das I. Deutsch-Niederländische Corps wurde am 30. August 1995 aufgestellt. In seinem Stabsgebäude am Schlossplatz (früher Hindenburgplatz) war bis dahin der Stab des I. Korps der Bundeswehr untergebracht – und bis 1945 das Generalkommando des VI. Armeekorps der Wehrmacht und der Befehlshaber des Wehrkreises VI.

Im Rahmen der Anti-Raketen- und Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre bekam ich intensiver mit dem I. Korps zu tun – bei Streitgesprächen mit seinen Jugendoffizieren, bei Demonstrationen und der dreitägigen Sitzblockade im Oktober 1983 gegen die Atombewaff nung der Bundeswehr.

Mit den Kriseneinsätzen erst auf dem Balkan, dann in Afghanistan änderte sich nicht nur der Auftrag des Corps, der deutschen und niederländischen Streitkräfte grundlegend, sondern über viele persönliche Begegnungen und Erfahrungen aus Konfliktländern auch meine Haltung zum Corps.

Das Gebäude des I. Deutsch-Niederländischen Corps liegt an der Promenade zwischen dem Dreizehner-Denkmal im Süden, auf dem die deutschen Gefallenen des Deutsch-Dänischen, Deutsch-Französischen und 1. Weltkrieges verklärt werden, und dem Stalingrad-Denkmal  im Norden. Das DEU/NDL Corps steht für den historischen Bruch mit dem Europa der Kriege durch gemeinsame und so  integrierte Friedenssicherung, wie kaum sonst wo auf der Welt. Noch nie war Militär in Münster so dicht am Motto des Westfälischen Friedens „Pax optima rerum“ wie das Deutsch-Niederländische Corps.

Anlässlich des 25-jährigen Bestehens des I. Deutsch-Niederländischen Corps habe ich im Folgenden eine Auswahl von Berichten, Stellungnahmen etc. von Begegnungen mit dem Corps bzw. Corps-Angehörigen in Münster und Afghanistan zusammengestellt.

Hier die Beiträge (8) bis (17)

INHALT

(1) Besuch in Kabul/Afghanistan im August 2003

(2) Anmerkungen zum CDU-Antrag „Münster als Garnisonsstadt stärken“, 12.10.2003

(3) Teilnahme an der Podiumsdiskussion „Münster – Friedensstadt und Garnisonsstadt. Frieden schaffen mit und ohne Waffen?“ 2007 mit GLt Tony van Diepenbrugge, KG des I. DEU/NDL Corps

(4) Besuch in Kandahar, ISAF RC South, Begegnung Generalmajor-Harm de Jonge (sonst stv. KG des DE/NL Corps)

(5) Besuch in Kabul und Kunduz Mitte Juni 2009

(6) Besuch im ISAF-Headquarter/Kabul, in Mazar (+ Feyzabad) im September 2009

(7) Skizze „Comprehensive Approach fördern – Die Rolle der Politik bei Kriseneinsätzen üben“, August 2010, für GLt Ton van Loon

(8) „Das Leiden der anderen“ - Gedenkansprache zum Volkstrauertag 2010 im Rathaus Münster

(9) Rede von Hauptfeldwebel Jan Hecht beim traditionellen „Liebesmahl“ des DEU/ NDL Corps am 27.09.2011 im Rathaus von Münster: „Afghanistan in vollem Einsatz“

(10) Akteur oder Zuschauer? Was Vernetzte Sicherheit für den Deutschen Bundestag bedeutet (Auszug aus einem Vortrag bei der Bundesakademie für Sicherheitspolitik/BAKS)

(11) Stellungnahme zur Anhörung der Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte („Rühe-Kommission“) a, 11.09.2014

(12) Das Corps als Teil der Very High Readiness Joint Task Force“ der NATO, 2015

(13) „20 Jahre Deutsch-Niederländisches Korps in Münster– Positive Kontinuitäts-brüche, friedenspolitische Chancen“, August 2015 (Auszüge)

(14) Vortrag „Vergessene Einsätze? Die Auslandseinsätze der Bundeswehr: Bilanz und Schlussfolgerungen am Beispiel Afghanistan und Kosovo“ 2019 bei dem StUStg-Bataillon I. DEU/NDL Corps, der Deutsch-Atlantischen Gesellschaft, Konrad-Adenauer-Stiftung

(15) Folie in Vorträgen zu „Deutsche Kriseneinsätze/Auslandseinsätze: Bilanz, Erfahrungen, Schluss-folgerungen“ zum Comprehensive Approach und DEU/NDL Corps

(16) Nachträgliche Begegnung mit OTL Ton van Loon bei KFOR 1 (Juni 1999)

(17) Eingaben zum Kommunalwahlprogramm-Entwurf  der Münsteraner Grünen 2020

ANHANG zur Korps-Vorgeschichte

„„1983: Widerstand durch Niedersetzen“

(8) „Das Leiden der anderen“ - Gedenkansprache zum Volkstrauertag 2010 bei der zentralen  Gedenkfeier der Stadt Münster im Festsaal des Rathauses am 14. November 2010

 „Die zentrale Gedenkfeier „zu Ehren der Opfer von Krieg und Gewalt“ wird alljährlich veranstaltet von der Stadt Münster, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der Gemeinschaft der Deutschen Soldatenverbände (zu unterscheiden vom Ring deutscher Soldatenverbände). Begrüßungsworte sprach Bürgermeister Holger Wigger. Schülerinnen und Schüler der Marienschule trugen aus dem „Buch vom Frieden“ (Bernhard Benson), die Kurzgeschichte „Engel“ von Sarah Kirsch sowie das selbst geschriebene Gedicht „Unvergessen“ (Ann-Kathrin Blanke) vor. Der Große Chor des Gymnasium Paulinum sang unter der Leitung von Margarete Sandhäger „Steady my Trembulin“, „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ und „Von guten Mächten treu und still  umgeben“, zwei Schülerinnen sangen „The Rose“. Die Schülerinnen und Schüler wählten selbst ihre Beiträge aus. Das Bläserquintett des Luftwaffenmusikkorps 3 spielte zwei Stücke. Zum Abschluss verlas Generalmajor Werner Kullack, stellvertretender Kommandeur des I. Deutsch-Niederländischen Korps, die Totenehrung. Bei der vorhergehenden Kranzniederlegung am Denkmal des Infanterieregiments Herwarth-von-Bittenfeld Nr. 13  („Dreizehnerdenkmal“)  in der Promenade/Aegidiiwall hielt erstmalig nicht ein Bundeswehrsoldat, sondern ein niederländischer Major eine kurze Ansprache. (Der niederländische KG des Corps nahm an der ganzen Veranstaltung teil. In anschließender kleinerer Runde mit dem Oberbürgermeister berichtete er von seinen prägenden Einsatzerfahrungen im Kosovo und Südafghanistan.)

Der Text der Rede: http://nachtwei.de/downloads/rede/20101114_volkstrauertag-ms_rede-nachtwei.pdf  )

(9) Rede von Hauptfeldwebel Jan Hecht beim traditionellen „Liebesmahl“ des DEU/ NDL Corps am 27.09.2011 im Rathaus von Münster: „Afghanistan in vollem Einsatz(HFw Hecht, 3, PzGrenBtl 391, war im Sommer 2009 mit der QRF 3 im Raum Kunduz eingesetzt undFührer des PzGren-Zuges „Bravo“.)

„Wenn ich heute zu ihnen spreche dann tue ich das als Kämpfer und als militärischer Führer von jungen Männern, welche unter unglaublich schwierigen, gefährlichen und unsicheren Bedingungen ihren Auftrag großartig erfüllten. Diese jungen Männer gehören einer Generation an, die Kriege nur aus Funk, Fernsehen und Internet kennt. (…) Es ist eine Generation, die oftmals belächelt und verunglimpft wird. (…)

Ich habe mit diesen jungen Männern Situationen erlebt, in denen ich, selbst in größter Lebensgefahr, das Gefühl von Hochachtung und Bewunderung für sie nicht unterdrücken konnte.  Dass Menschen über sich hinauswachsen können, ist allgemein bekannt. Daher ist festzustellen:

Das Vertrauen das wir unseren Unteroffizieren und Mannschaften schenken ist berechtigt und Soldaten denen man Vertrauen schenkt spüren dies und versuchen dieses Vertrauen zu rechtfertigen und wirken an der Erreichung eines Zieles mit hohem Einsatz mit.

Ich darf davon berichten. (…)

Als am 19. Juni ein deutsches Ausbilder-, Berater- und Verbindungs-Team (OMLT) beim Beginn einer offensiven Operation gegen Aufständische nördlich von Kunduz unter starkes Gegenfeuer geriet und später eingeschlossen wurde, wurden erstmals unsere Schützenpanzer und auch deren Maschinenkanonen, zu deren Entsatz eingesetzt.

Im weiteren Verlauf dieser Operation hatten wir den Auftrag, auf- und abgesessen im Zuge einer Hauptverbindungsstraße anzugreifen.

Mitten im laufenden Gefecht wurde mir auf einmal bewusst, dass ich ausschließlichmit Mannschaftssoldaten abgesessen kämpfte. Sie führten die Gruppen und Trupps und taten dies mit Herz und Verstand.

Da war Stabsgefreiter Michael S.

Er führte unsere 3. Gruppe und riegelte eine Flanke gegen hartnäckig attackierenden Feind über mehrere Stunden ab. Er koordinierte die Bewegungen zwischen seiner Gruppe und den Fahrzeugen und lenkte das Feuer seiner Soldaten.

Da war Hauptgefreiter Patrick O.

Er war damals gerade 19 Jahre alt und nach einer Verletzung in den Einsatz und zum Zug zurückgekehrt. Er führte einen Trupp und erkannte, dass ein anderer Trupp Gefahr lief flankiert, also umgangen, zu werden.

Hauptgefreiter O. verschob seinen Trupp von vorne führend so, dass er einen in Stellung gehenden feindlichen Maschinengewehrtrupp erfolgreich bekämpfen konnte.

Sekunden später hätte dieser Maschinengewehrtrupp ernste Konsequenzen für unseren Zug bedeutet.

Stabsgefreiter S. (25 Jahre alt) war eingesetzt als Nahsicherer meines Nachbarzugführers als diesem der Unterarm durchschossen wurde. Er barg ihn in eine Deckung, stoppte mit mehreren Verbänden die starke Blutung und legte ihm eine Infusion an.

Das ganze geschah, währendum ihn herum weiter gekämpft wurde.

Meine Damen und Herren, ich könnte ihnen noch vieleweitere Beispiele geben - aber warum erzähle ich ihnen das?

Unsere Soldaten handeln selbständig und mit Verstand.

Sie warnen sich vor auftauchender Zivilbevölkerung, um diese zu schützen, sie weisen sich auf schützenswerte Gebäude wie Moscheen und Schulen hin.

All dies geschieht ohne das Zutun ihrer Vorgesetzten.

Sie wirken an der Erfüllung unseres Auftrages mit vollem Einsatz mit.

Ich kann ihnen vertrauen. Wirkönnen ihnen vertrauen.“

(10) Akteur oder Zuschauer? Was Vernetzte Sicherheit für den Deutschen Bundestag bedeutet (Auszug aus einem Vortrag bei der Bundesakademie für Sicherheitspolitik/BAKS in Berlin, Dezember 2011, veröffentlicht in: Vernetzte Sicherheit – eine konstruktive Zwischenbilanz, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik Nr. 5, Oktober 2012, S. 23-39, https://www.infona.pl/resource/bwmeta1.element.springer-f128be65-3f3f-37ce-a9fd-767b4af961f1 )

„(…) Als Foren von Vernetzung und Kooperationsförderung wirken seit Jahren die BAKS, das ZIF, SWP, GIZ, das VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg, die Führungsakademie der Bundeswehr (Hamburg), die Bundespolizeiakademie (Lübeck), das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (Brühl) und die Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz/AKNZ in Ahrweiler. Hier wächst zumindest auf der Arbeitsebene eine Kultur der Zusammenarbeit. Von zivilgesellschaftlicher Seite leisten z.B. die Evangelischen Akademien in Loccum und Bad Boll Beiträge zum ressort- und akteursübergreifenden Austausch.

Im 2. Umsetzungsbericht zum Aktionsplan Zivile Krisenprävention (Bundesregierung 2008, S. 57) wurde die Durchführung eines „Nationalen Planspiels“ angekündigt. In der Übung für zivile und militärische Führungskräfte sollte ein „gemeinsames Verständnis ressortübergreifender und funktional vernetzter Zusammenarbeit im Rahmen der Zielsetzungen des Aktionsplans“ entwickelt sowie „mögliche und notwendige ressortübergreifende Zusammenarbeit auf den Ebenen politischer Konzeption, politisch-strategischer Führungsebenen und operativer Durchführungsebenen“ identifiziert werden. Über wechselnde Federführungen und einige Vorarbeiten hinaus kam das „Nationale Planspiel“ bis heute nicht zustande.

Ausgesprochen erfolgreich bei dem Bemühen, den umfassenden und vernetzten Ansatz zu üben, war demgegenüber das 1. Deutsch-Niederländische Korps in Münster. Angespornt von seinem niederländischen Kommandierenden General, dem Balkan- und Afghanistan-erfahrenen Generalleutnant Ton van Loon, ergriff das Korps seit 2010 verstärkt entsprechende Initiativen. Bisheriger Höhepunkt war nach einer zehnmonatigen Projektierungsphase die zivil-militärische Übung „COMMON EFFORT“ am 19.-22. September 2011 in Münster. Neu an COMMON EFFORT war, dass hier Zivilisten nicht als „Role Player“ bei einer militärischen Übung mitwirkten, sondern dass unter führender Beteiligung des deutschen und niederländischen Außenministeriums Übungsaufbau, Ziele (einschließlich Menschliche Sicherheit) und Ablauf in einem offenen Prozess gemeinsam erarbeitet wurden. Die simulierte, UN-mandatierte Stabilisierungsmission wurde von einer Doppelspitze aus „Civilian“ und „ Military Head of Mission“ geführt, die ihr Vorgehen untereinander, mit der Gastnation und einem „Special Representative of Secretary General“ der UN abzustimmen hatten. An der Übung nahmen 300 Militärs und 140 Zivilisten von 33 Organisationen teil. Während das niederländische Außenministerium mit 20 Diplomaten zu der Übung entsandte, war das deutsche AA nur mit zwei Diplomaten vertreten. Angesichts des besonderen Stellenwerts der deutschen und niederländischen Parlamente bei Kriseneinsätzen wären Beobachter aus dem parlamentarischen Raum besonders sinnvoll gewesen. Bedauerlicherweise wurden keine gesichtet. (…)“

(11) Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung der Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte („Rühe-Kommission“) bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 11. September 2014 im Deutschen Bundestag

(https://www.bundestag.de/resource/blob/297112/1bf50ed2d48ad9b2071546410ed76b82/18-26-016f_statement-nachtwei-data.pdf )

Vorbemerkung: Auslandseinsätze der Bundeswehr sind in der Regel nicht nur multinational (und streitkräftegemeinsam), sondern auch Teil eines ressortübergreifenden Krisenengage-ments, das „unter den Menschen“ operiert. Das hat erhebliche Implikationen für die Parla-mentsbeteiligung.

Parlamentsbeteiligung geschieht durch Informationszugang, Mitsprache und Mitentscheidung und soll demokratische Legitimation schaffen, wo Einsätze zur multinationalen Krisenbewältigung in jedem Einzelfall neu begründet und gerechtfertigt werden müssen. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz (PBG) regelt nur das Beteiligungsverfahren, nicht die Ziele und Normen von Einsätzen. Sinnvoll wäre, die Erfahrungen von 20 Jahren Parlamentsbeteiligung insgesamt auszuwerten – nicht nur im Hinblick auf die gesetzliche Regelung.

1. Deutschlands sicherheitspolitische und militärische Rolle (…)

Deutschland ist in Europa wegen seines Gewichts und der Außenwahrnehmung in einer führenden Gestaltungsrolle, die kooperativ, initiativ und solidarisch auszufüllen ist und auf dem Balkan und in Nordafghanistan seit Jahren verlässlich praktiziert und anerkannt wird. Dies gilt insbesondere auch für das Bemühen um eine zunehmende Verzahnung und Integration der europäischen Streitkräfte. Vor dem Hintergrund der Kriegsgeschichte Europas und gegenwärtiger Renationalisierungstendenzen hat die sicherheitspolitische Integration auch einen friedenspolitischen Eigenwert.

2. Trends der Verzahnung und Integration

(a) Am intensivsten ist die Integration auf den Ebenen der NATO-Kommandostrukturen und multinationalen Hauptquartiere sowie bei NATO-owned and operated forces wie dem AWACS-Verband (in Geilenkirchen mehr als ein Drittel des fliegenden und Bodenpersonals deutsch), der künftigen luftgestützten Bodenüberwachung (Alliance-Ground-Surveillance/AGS) und Führungsunterstützungsbataillonen.

Während Marine und Luftwaffe traditionell in multinationalen Großverbänden agieren, schreitet die Multinationalisierung und Integration der Heeresgroßverbände voran.

Besonders fortgeschritten ist sie wohl beim 1. Deutsch-Niederländischen Korps, wo Deutschland und die Niederlande als Framework Nations zwei Drittel des Stabes stellen bei 12 beteiligten Nationen insgesamt. Das Korps ist seit 2002 eines von insgesamt neun High Readiness Headquarters der NATO, ab 2017 Joint Task Force HQ für streitkräftegemeinsame Operationen. Die binationalen Stabsversorgungs- und Führungsunterstützungsbataillone des Corps sind bis zur Zug-Ebene integriert. Über die Stufe der deutsch-niederländischen Heereskooperation[1] kam es am 28. Mai 2013 zu einer Declaration of Intent zwischen den beiden Verteidigungsministern über eine verstärkte Kooperation der beiden Länder in der Sicherheits- und Rüstungspolitik, der Fähigkeitsent-wicklung, Ausbildung und Übungen in allen Organisationsbereichen.

(…)

(12) Das Corps als Teil der Very High Readiness Joint Task Force“ der NATO, 2015 (Auszug aus meinem Bericht nach einem Besuch in der lettischen Hauptstadt Riga im April 2015: „Gespaltene, traumatische Erinnerungen, Rückkehr von Abschreckung – und Kaltem Krieg? Erinnerungs- und sicherheitspolitische Beobachtungen in Riga“, https://www.gegen-vergessen.de/fileadmin/user_upload/Gegen_Vergessen/Diverses/Riga_Fr%C3%BChjahr_2015__3_.pdf )

„(…) Aktuelle Sicherheitspolitische Lage: Rückkehr von Bündnisverteidigung, Abschreckung – und Kaltem Krieg?

In den Tagen meines Riga-Besuches Mitte April 2015 endete die erste Übung der neuen „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF) der NATO, besuchten erst die deutsche Verteidigungsministerin, dann der deutsche Außenminister die baltischen Staaten. Nach der Alarmierungsübung vom April übten inzwischen im Juni 2.100 Soldaten der vom I. Deutsch-Niederländischen Korps[2] in Münster geführten VJTF auf einem polnischen Truppenübungs-platz ein Szenario à la Ostukraine. („Noble Jump“)

Ein Münsteraner LINKEN-MdB kritisierte am 15. Juni das Manöver als „Säbelrasseln gegen-über Russland“. Es verschärfe die Spannungen und erhöhe die Kriegsgefahr. Die NATO setzte ihre Eskalationsstrategie gegenüber Russland fort. Das sei ein Rückfall in Zeiten des Kalten Krieges. (vgl. Antrag der Fraktion DIE LINKE „Demilitarisierung statt Eskalation – Keine NATO-Eingreiftruppe im Osten Europas, Drs. 18/3913 vom 3.2.2015) Ludger Volmer, früherer Parteivorsitzender Grünen und AA-Staatsminister, äußerte am 25. Juni im Deutschlandfunk die Befürchtung, die NATO-Aufrüstung für Osteuropa könne auf russischer Seite eine weitere Aufrüstung provozieren und zu einer Konflikteskalation führen.

Kommentar

(1) Die Bedrohungsängste in Lettland (und den anderen baltischen Staaten) gegenüber der gegenwärtigen russischen Politik sind kein Hirngespinst und dürften nicht mit dem in Russland verbreiteten postsowjetischen Verlustschmerz gleich gesetzt werden. Sie sind angesichts der traumatischen Erfahrungen mit fast 50 Jahren sowjetischer Besatzung und fehlender Vertrauensbildung in der nachsowjetischen Zeit überaus verständlich. Sie sind angesichts der hybriden russischen Kriegführung in der Ukraine, des regelrechten Propagandakrieges gegen die baltischen Staaten und der eigenen Schutzlosigkeit auch begründet. Umstritten ist, was von Seiten des russischen Staates an Druck und Bedrohung gegenüber den baltischen Staaten möglich, wahrscheinlich oder (nicht) auszuschließen ist. Keineswegs auszuschließen und teilweise Realität ist ein Destabilisierungsszenario mit militärischer Drohkulisse. Für abwegig halte ich eine offene militärische Aggression. (vgl. zwei konträre Kommentare in The Baltic Times Mai 2015: „Why the idea of Russian invasion in the Baltics is absurdity“ und „The Russians are coming to occupy the Baltic States“) Zwischen den baltischen und nordischen Ländern sollen die Bedrohungswahrnehmungen inzwischen in hohem Maße übereinstimmen: Sie „sehen in Russland einen großen Unsicherheitsfaktor in der Region.“ Zum Baltikum kenne ich aber zugestandenermaßen bisher keine sorgfältige Risiko- und Bedrohungsanalyse, die zwischen Bedrohungsgefühl und Bedrohungspotenzialen und –absichten unterscheidet.

(2) Höchste Normen des Völkerrechts sind laut UN-Charta das internationale Gewaltverbot, das Recht auf nationale Selbstbestimmung und die Achtung der nationalen Souveränität, die friedliche Streitbeilegung, das „naturgegebene Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“. (Wer bisher Auslandseinsätze der Bundeswehr generell ablehnte, zog meist nicht das Selbstverteidigungsrecht der Nationalstaaten infrage.)

Die kleinen baltischen Staaten sind gegenüber Russland aus eigener Kraft nicht verteidigungs-fähig. Als Mitglied von NATO, EU und UN haben sie ein selbstverständliches Recht auf Unterstützung ihrer nationalen Verteidigungsfähigkeit im Rahmen kollektiver Sicherheit. Das soll dazu beitragen, Krieg zu verhüten und nicht, ihn führbarer und wahrscheinlicher zu machen.

(3) Schlüsselfragen: Wie kann die Souveränität der baltischen Staaten gewahrt, eine Destabilisierung und Gewalteskalation verhütet werden, ohne dabei eine Spirale der wechselseitige Schuldzuweisungen, Propaganda, Aufrüstung und Konfliktverschärfung zu befördern? Wie können dabei die historischen Errungenschaften der europäischen Friedensordnung und der Rüstungskontrolle im OSZE-Raum genutzt, bewahrt und ihre weitere Zersetzung verhindert werden? Nüchtern ist dabei zu bedenken, dass es in solchen Konflikten neben legitimen Interessen, Missverständnissen und Fehlwahrnehmungen auch starke Interessen an Aufrüstung und Konfliktverschärfung gibt sowie Akteure, die vor lauter Selbstgerechtigkeit und Schwarz-Weiß-Denken blind sind für eigene kontraproduktive Wirkungen.

(4) Bündnissolidarität: (…)

(5) Militärische Maßnahmen der NATO (…)

(6) Primärrisiko Destabilisierung und hybride Operationsweisen (…)

(7) Besondere deutsche Verantwortung (…)

(8) Zusammenfassung zur „Besonders Schnellen Eingreiftruppe“ der NATO“:

Im Hinblick auf die begründeten Bedrohungsängste und das erhebliche Destabilisierung-srisiko im Baltikum ist die VJTF ein völkerrechtlich legales und sicherheitspolitisch notwendiges, aber auch zwiespältiges Instrument.

Ob es stabilisierend oder spannungsverschärfend wirkt, hängt davon ab,

- wie militärisch glaubwürdig die VJTF ist und wie eindeutig die NATO-Russland-Akte dabei eingehalten wird;

- wie sehr die verschiedenen Konfliktparteien mit ihren Interessen, Perzeptionen, Absichten und Wirkungen verstanden werden (einschließlich der eigenen möglicherweise kontraproduktiven Wirkungen);

- wie kohärent und energisch die nicht-militärische Stabilisierung angegangen wird;

- wie beharrlich Gesprächskontakte wiederbelebt (NATO-Russland—Rat), wie glaubwürdig der viel beschworene Dialog mit der russischen Seite trotz aller Gegenwinde (z.B. verschärfter Druck auf kritische Zivilgesellschaft und freie Medien in Russland) praktiziert und das Chancenpotenzial gemeinsamer strategischer Interessen (Atomvertrag mit Iran, Bekämpfung von IS und Verbündeten) genutzt werden.

(13) „20 Jahre Deutsch-Niederländisches Korps in Münster– Positive Kontinuitäts-brüche, friedenspolitische Chancen“, August 2015 (Auszüge http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1370  )

„Am 27. August 2015 beging das I. Deutsch-Niederländische Korps (1 (GE/NL) Corps) in Münster sein zwanzigjähriges Bestehen – und zehn Jahre Partnerschaft der Stadt Münster mit dem Korps. (http://1gnc.org/ ) Das Jubiläum begann mit einem Festakt im Historischen Rathaus,  bei dem der Kommandierende General des Korps, Generalleutnant Volker Halbauer, Oberbürgermeister Markus Lewe, Generalinspekteur Volker Wieker, Chief of Defence General Tom Middendorp – und ein niederländischer Kabarettist sprachen.

Nach Empfang des Ehrengastes Willem-Alexander, König der Niederlande, im historischen Friedenssaal folgte vor dem Rathaus auf dem Prinzipalmarkt vor ca. 1.000 Zuschauern eine vergleichsweise bescheidene Militärparade – mit 30 Waffenträgern, ca. 100 unbewaffneten Uniformträgern verschiedener Nationalitäten und dem Luftwaffenmusikkorps Münster. Wahrlich keine militärische Machtdemonstration. Nach einer kurzen Rede verlieh NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft dem 1. Korps das Fahnenband des Landes NRW. Die Feier fand am Geburtsort der Niederlande statt: Mit dem „Vrede von Münster“ zwischen Spanien und den Niederlanden endete ein 80-jähriger Krieg und erlangten die Niederlande ihre Unabhängigkeit.

Über Münster heißt es, hier würde es entweder regnen oder die Glocken läuten. Heute geschah beides. Im Innenhof des – auch historischen - Korps-Gebäudes am Schlossplatz folgte dann das alljährliche Korps-Biwak.

Die lokale Medienberichterstattung kreiste überwiegend um den sympathischen König und zelebrierte schulterklopfende Geburtstagsstimmung.

Die CDU betonte im Vorfeld, das Korps sei „eine wichtige Einrichtung zur Friedenssicherung und (stehe) in der Tradition Münsters als Garnisonsstadt“.  Die SPD nannte das Korps „ein leuchtendes Beispiel für die europäische Integration und den Einsatz für Frieden und Freiheit in Europa.“ Die Grünen erinnerten an die historischen Besonderheiten des Korps und betonten, dass Konflikte politisch gelöst werden müssten. ( http://www.grüne-münster.de/2015/gruene-zum-geburtstag-des-deutsch-niederlaendischen-korps-konflikte-muessen-politisch-und-nicht-militaerisch-geloest-werden/ )

Ohne Rücksicht auf konkrete Tatsachen warf  die LINKE dem Korps Verwicklung in die „NATO-Kriegspolitik“ vor. Über einen längeren Zeitraum habe das Korps „den Krieg in Afghanistan, welcher aus rein wirtschaftlichen Interessen geführt wird und die Probleme vor Ort nicht lösen kann, koordiniert.“ Als „sogenannte Speerspitze Ost“ solle das Korps „in einer möglichen Eskalation mit Russland fungieren“. Militärische Zeremonien würden auch immer dazu dienen, „die Bevölkerung von der angeblichen Notwendigkeit von Krieg und Militär zu überzeugen.“

Die historische Einmaligkeit des Deutsch-Niederländischen Korps wird deutlich vor dem Hintergrund seiner Vorgänger im Stabsgebäude am Schlossplatz (früher Hindenburgplatz).

Angriff gegen die Nachbarn

In dem Ende der 20er Jahre errichteten Gebäude befand sich im Jahr 1940 das Generalkom-mando des VI. Armeekorps der Wehrmacht und der Befehlshaber des Wehrkreises VI (Rheinland und Westfalen). Von hier wurden insgesamt 14 Divisionen in den Krieg gegen die europäischen Nachbarn geschickt, der Großteil davon in den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.[3] Vor 75 Jahren, am 10. Mai 1940 griffen 29 Divisionen der Heeresgruppe B Holland und Belgien an, darunter aus dem Wehrkreis VI die 227. und die 253. Infanterie-Division.

Zum Beispiel die 227. Infanterie-Division aus Krefeld: Aus dem Raum Gronau Vorstoß über die holländische Grenze an Enschede vorbei Richtung Deventer. Fort Pannerden, Kämpfe an der Grebbelinie, Gent, Zwolle, Amersfort. Am Grebbeberg nahe Rheinen leisteten die Niederländer mehrere Tage unter großen Verlusten erbitterten Widerstand. Hierzu ausführlich die Webseite „de Slag om de Grebbeberg“. Dort auch Wehrmachtsberichte und –befehle, darunter Auszüge aus den Kriegstagebüchern der 227. ID und des SS-Regiments “Der Führer” (http://www.grebbeberg.nl/index.php?page=duitse-militaire-rapporten ) Der damals 7-Jährige Cor Crums erinnerte sich im März 2011 im Gespräch mit Schülern aus Almelo und Ostbevern/Münsterland an die Kämpfe am Grebbeberg und das Leben unter der deutschen Besatzung. (…)

Zum Beispiel die 16. Panzerdivision: Das Denkmal der 16. Panzer-Division steht – von den wenigsten wahrgenommen - am Kalkmarkt jenseits des Parkplatzes hinter „Zigarren Lammerding“. Ihre Vorläuferin, 16. Infanterie-Division nahm am Überfall auf Luxemburg, Belgien und Frankreich teil. Im Juli wurden ihre rückkehrenden Verbände in den Heimat-garnisonen (in Münster auf dem Prinzipalmarkt) bei Paraden bejubelt.

Im Juni 1941 gehörte die westfälische 16. Panzerdivision beim Angriff auf die Sowjetunion zu der mit über 3 Millionen Soldaten größten Angriffsstreitmacht der Geschichte. Stationen (…) Die 16. Panzerdivision galt 1942 als „Speerspitze der 6. Armee“. Sie erreichte als erster Wehrmachtsverband am 23. August 1942 die Wolga nördlich Stalingrad. Schon Mitte November lagen die Leichen von über 4.000 ihrer Männer auf dem Divisionsfriedhof an der Bahnstrecke Nord-Stalingrad -Frolow. Nur 128 ihrer Soldaten kehrten nach Jahren der Gefangenschaft wieder in die Heimat zurück. („Stalingrad vor 70 Jahren - eine Division aus Münster + Westfalen, Speerspitze im Vernichtungskrieg, vernichtet in Stalingrad“,

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1187 )

Atomarer Heimatschutz

Das I. Korps der Bundeswehr entstand 1956 und wurde mit ca. 105.000 und fünf Divisionen zum stärksten Großverband des Heeres.

1983 demonstrierte die damalige Friedensbewegung auch vor dem Gebäude des I. Korps der Bundeswehr gegen die geplante Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland („Nachrüstung“) und das atomare Wettrüsten insgesamt. Dass wir damals mit 600 Demonstranten über zwei Tage symbolisch das Stabsgebäude blockierten und dafür bewusst Gerichtsverfahren in Kauf nahmen, begründeten wir mit der Einplanung von Truppenteilen des I. Korps in eine Art „atomare Heimatverteidigung“.

Aus meinem Artikel „Atomarer Heimatschutz – Münsters Beiträge zur Sicherung von Frieden und Freiheit“ im Münsteraner Stadtblatt 101982: (…)

Bei aller Kritik: Angesichts der Verabschiedung eines Kommandierenden Generals des I. Korps der Bundeswehr stellte ich ihm gegenüber fest, dass er zu Recht besonders stolz darauf sein könne, dass in seiner Zeit der Frieden zwischen den Blöcken gehalten habe, dass er in seiner Generalszufriedenheit keineswegs auf das Führen von Schlachten und Kriegen angewiesen sei – ganz im Gegensatz zu den insgesamt 35 Kommandierenden Generalen in Münster von 1802 bis 1945.

Integration und UN-Friedenssicherung: „Gemeinsam sind wir stark“

Die Auflösung des I. deutschen Korps in Münster und des 1. Niederländischen Corps in Apeldoorn zugunsten des neuen I. Deutsch-Niederländischen Korps im August 1995 stand im Kontext des enormen Streitkräfteabbaus nach Ende des Ost-West-Konflikts und war eine Premiere in der europäischen Geschichte. Die Initiative ging von der niederländischen Regierung aus.

Die Gründung des bi-nationalen (dann multinationalen) Korps war ein sicherheitspolitischer Fortschritt sondergleichen: 50 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges bildeten ehemalige Kriegsgegner, das Land der Überfallenen und das Land des Aggressors, ein gemeinsames Korps-Hauptquartier, das jetzt aus einem Stab mit einer begrenzten Zahl an Korpstruppen, insgesamt ca. 1.100 Soldaten, besteht. Bei Bedarf sind dem Korps die 1. Panzerdivision in Hannover und die 1. Mechanisierte Division in Schaarsbergen unterstellt. Je nach Auftrag können dem Stab als Hauptquartier bis zu 80.000 Soldaten zugeordnet werden.

In einer Pressemitteilung vom August 1995 erklärte ich:

„Mit der Außerdienststellung des I. Korps der Bundeswehr geht eine nationale Tradition des Militärstandortes Münster zu Ende, die bis 1945 verheerend und während des atomaren Wettrüstens der 80er Jahre höchst umstritten war. Die Fusion der beiden Korps ehemaliger Kriegsgegner ist ein historischer Schritt weg von nationalstaatlich organisierter Sicherheits-politik.

Zugleich entsteht mit dem bi-nationalen Korps kein Verband von ´Friedensreitern`. Entgegen der Devise des Westfälischen Friedens ´Pax optima rerum`(´Der Frieden ist das Beste`)heißt es im Rahmen des erweiterten Bundeswehr- und NATO-Auftrages nun ´Krieg ist der Ernstfall`.

Auch das Deutsch-Niederländische Korps ist Ausdruck einer Sicherheitspolitik, die einseitig vor allem auf militärische Mittel setzt und den Aufbau von Institutionen nichtmilitärischer Konfliktvorsorge und –bearbeitung sträflich vernachlässigt.“

ISAF-Einsätze: Von Februar bis August 2003 hatte der Stab des Deutsch-Niederländischen Korps die Führung der UN-mandatierten ISAF-Schutztruppe ISAF in Kabul. Im August besuchte ich Kabul im Auftrag der grünen Fraktion, um der Akutfrage nachzugehen, wieweit ein erweitertes internationales zivil-polizeilich-militärisches Engagement in Afghanistan notwendig und verantwortbar war. Massiv gefordert worden war das zeitgleich vom Chef des UN-Department of Peacekeeping Operations Jean-Marie Guehenno in seinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat sowie dem „Call for Security“ von 85 internationalen NGO`s am 17. Juni 2003. Aus meinem Reisebericht „Kabul im August 2003“ (…)

Erneut begegnete ich (niederländischen) Soldaten des Korps im Sommer 2008 in Kandahar und Uruzgan in Süd-Afghanistan und Soldaten des Korpsstabes im September 2009 in Kabul.

Dreimal war das Korps im Einsatz, zuletzt wieder in Afghanistan 2013, immer im Auftrag der Vereinten Nationen.

Den niederländischen Afghanistaneinsatz erfuhr ich als bevölkerungsnah, klug, konsequent und vorbildlich in der Ressortzusammenarbeit. Die Evaluierung von vier Jahren NL-Engagement in der Unruheprovinz Uruzgan durch The Liaison Office in Kabul bescheinigte den Niederlanden im internationalen Vergleich beste Wirksamkeit. (Berichte zu NL in AFG: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=997 )

Keiner schafft`s allein“. Bei den Besuchen im Einsatz, bei der erstmaligen großen zivil-militärischen Übung Common Effort im September 2011 und vielen anderen Begegnungen erfuhr ich die Grundeinstellung, die im Deutsch-Niederländischen Korps herrscht und von Kommandierenden Generalen wie Ton van Loon (2010-2013) überzeugend vertreten wurde:

- Innerstaatliche Gewaltkonflikte lassen sich in der Regel nicht militärisch lösen, müssen politisch angegangen werden. Militär kann ein sichereres Umfeld und Zeit zur politischen Konfliktbearbeitung schaffen.

- Krisenbewältigung, Stabilisierung, Friedenssicherung funktionieren nur als gemeinsame und kohärente Anstrengung politischer, ziviler, militärischer und polizeilicher Akteure (Compre-hensive Approach). Damit erst in einem Krisengebiet anzufangen, ist viel zu spät. Das muss vorher geübt werden, partnerschaftlich von Anfang an. (…)

Multinationale Integration: Über die Jahre ist die Integration im Deutsch-Niederländischen Korps soweit und erfolgreich fortgeschritten wie bei kaum einem (keinem?) anderen militäri-schen Verband. Begünstigend wirkte sich die Nähe der bundesdeutschen und niederländi-schen Militärkulturen aus.

Deutschland und die Niederlande stellen als Rahmennationen (Framework Nations) zwei Drittel des Stabes. Insgesamt sind 12 Nationen beteiligt. Die bi-nationalen Stabsversorgungs- und Führungsunterstützungsbataillone des Korps sind bis zur Zug-Ebene integriert. Im Juni 2014 wurde die niederländische 11. Luftbewegliche Brigade in die deutsche Division Schnelle Kräfte (DSO) eingegliedert, die 43. Brigade soll in die 1. Panzerdivision integriert werden, die 13. Brigade wahrscheinlich bei den belgischen Streitkräften.

Das Motto des KorpsCommunitate Valemus – Gemeinsam sind wir stark!“ bezieht sich nicht nur auf die Nationen und die Multinationalität, sondern auch auf das zivil-militärisch-polizeiliche Zusammenwirken, die Multidimensionalität.

Zurück zum Kalten Krieg?

In den Jahren 2005 und 2008 war der Korpsstab im stand-by als Hauptquartier für die Landstreitkräfte der NATO Response Force 4 und 10. Bisher kam die NRF nie zum Einsatz. In diesem Jahr stellt das Korps bis zum Jahresende zum dritten Mal die Führung der NRF-Landkomponente (NRF 15) mit der niederländischen Luftlandebrigade und dem deutschen Panzergrenadierbataillon 371. Damit übernahm es zugleich die Führungsverantwortung für die besonders schnelle Eingreiftruppe Interim Very High Readiness Joint Task Force“ (IVJTF), die auf dem NATO-Gipfel im September 2014 in Wales vereinbart wurde. (Im Rahmen des Readiness Action Plan u.a. Aufstockung der NRF von 13.000 auf 40.000; Aufstellung der NATO-„Speerspitze“ VJTF mit 5.000 Soldaten im stand-by der Schnellsteinsatzbereitschaft von zwei bis sieben Tagen, je 5.000 Soldaten im stand-up der Vorbereitungsphase und stand-down der Nachbereitungsphase mit Einsatzbereitschaft von jeweils 30 Tagen (jede Phase ein Jahr).

Inzwischen führte das Deutsch-Niederländische Korps erste Übungen der VJTF durch, so im Juni „Noble Jump“ auf einem polnischen Truppenübungsplatz.

Die schnellen Eingreifverbände der NATO sollen den seit dem Krieg in der Ukraine besonders beunruhigten östlichen Mitgliedern glaubwürdig Bündnissolidarität beweisen. Diese zu verweigern, würde in (Mittel-)Osteuropa eine Renationalisierung und Privatisierung der Landesverteidigung befördern – und/oder eine verstärkte Hinwendung zu den USA. Verweigerte oder nur symbolische Bündnissolidarität könnte zugleich die Schwelle für Destabilisierungsoperationen bzw. –dynamiken senken.

Die VJTF ist als Verstärkungskraft mit der NATO-Russland-Akte vereinbar und schon wegen ihres Umfangs gegenüber Russland nicht angriffsfähig – von entsprechenden Absichten ganz zu schweigen. Gegenüber einer russischen Führung, die in Kategorien von militärischer Stärke und ihrer Version von Kosten-Nutzen denkt, können solche Verstärkungskräfte abschreckend und kriegsverhütend wirken. Sie können aber auch Wasser auf die Mühlen der nicht nur in Russland verbreiteten und geschürten Wahrnehmung sein, vom „Westen“ bedrängt und gedemütigt zu werden.

Die Beteuerungen der politischen NATO-Spitzen, sich nicht in einen Rüstungswettlauf mit Russland hineinziehen zu lassen und den Dialog führen zu wollen, klingen vernünftig, könnten sich aber angesichts des Sichtbarkeitsvorsprungs und der Eigendynamik militärischer Maßnahmen schnell als frommer Wunsch erweisen.

(vgl. mein Reisebericht „Gespaltene, traumatische Erinnerungen, Rückkehr der Vergangenheit – und des Kalten Krieges? Sicherheitspolitische Beobachtungen in Riga, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1363 )

Zusammengefasst: Eine so enge militärische Integration ehemaliger Kriegsgegner ist ein Versöhnungs- und Vertrauensbeweis sondergleichen – insbesondere von der niederländischen Seite aus - und ein friedens- und sicherheitspolitischer Wert an sich.

Das Deutsch-Niederländische Korps steht durch seine Praxis glaubwürdig für Krisenbewälti-gung und Friedensunterstützung im Rahmen der UN-Charta und im Auftrag von UN und nationalen Parlamenten und nicht für kriegerische Durchsetzung von Partikularinteressen. Noch nie war Militär in Münster so dicht am Motto des Westfälischen Friedens „Pax optima rerum“ wie das Deutsch-Niederländische Korps. Insofern steht das Korps mit seinem friedenspolitischen Potenzial für einen Bruch mit der kriegerischen Tradition der Garnisonsstadt Münster.

Dabei ist das Deutsch-Niederländische Korps bundes-, ja europaweit ein Vorreiter einer klugen und partnerschaftlichen, zivil-militärischen Zusammenarbeit unter dem Primat der Politik.

Meine massive Skepsis von 1995 hat sich nicht bestätigt. Darüber kann ich nur froh sein.

Die Soldatinnen und Soldaten des Korps haben einen selbstverständlichen Anspruch darauf, dass ihre politischen Auftraggeber das Motto des Westfälischen Frieden nicht nur im Munde führen, sondern vor allem nach besten Kräften praktizieren, dass sie nur in Einsätze entsandt werden, die sicherheits- und friedenspolitisch dringlich, völkerrechtlich legal, erfüllbar und verantwortbar sind.

(14) 18.03.2019 Vortrag „Vergessene Einsätze? Die Auslandseinsätze der Bundeswehr: Bilanz und Schlussfolgerungen am Beispiel Afghanistan und Kosovo“ bei dem StUStg-Bataillon I. DEU/NDL Corps, der Deutsch-Atlantischen Gesellschaft, Konrad-Adenauer-Stiftung in der Lützow-Kaserne Münster-Handorf. Der Saal ist mit rund 200 Gästen, darunter viele Soldaten in Uniform, voll besetzt. Gekommen ist auch Generalmajor a.D. Günter Freiherr von Steinaecker mit seiner Frau, seit 1993 stellvertretender Kommandierender General des I. Korps, ab 1995 des I. Deutsch-Niederländischen Corps. 

Einladungsschreiben: „Unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 begann eine heftige Debatte über den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes. Inzwischen hat die Bundeswehr zahlreiche Out-Of-Area-Einsätze durchgeführt und ist derzeit mit über 3000 Soldaten in Auslandseinsätzen. In der Öffentlichkeit sind die Einsätze nicht unumstritten, in ihrer Vielfalt aber auch wenig bekannt. Als Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Verteidigungsausschusses für Bündnis 90/Die Grünen von 1994-2009 war Winfried Nachtwei intensiv an den Entscheidungen zu Auslandseinsätzen und ihrer parlamentarischen Kontrolle beteiligt. Als Mitglied des Beirats Innere Führung beim Verteidigungsministerium und des Beirats Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt begleitet er die Einsätze bis heute. Vor dem Hintergrund von rund 40 Besuchen in Einsatzgebieten, davon 19 in Afghanistan und 11 im Kosovo, zieht Nachtwei eine Bilanz der Einsätze und formuliert selbstkritisch Lehren angesichts heutiger Krisenstürme. Zur Person: Nachtwei, Winfried, geb. 1946, 1965-67 Wehrdienst, 1977-1994 Lehrer am Gymnasium Dülmen; 1994-2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, ab 2002 sicherheits-und abrüstungspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. Ko-Vorsitzender des Beirats Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt, Mitglied im Beirat Innere Führung/BMVg (Leiter der AG "Einsatzrückkehrer"), Vorstand der Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen, von "Lachen Helfen", 2015 Leiter der Kommission „G36 im Einsatz“.Wir laden Sie zu diesem Vortrag mit anschließender Diskussion und kleinem Empfang, der in Kooperation zwischen dem StUstgBtl I. DEU/NLD Corps und der Deutsche Atlantische Gesellschaft sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltet wird, herzlich in die Lützow-Kaserne nach Münster-Handorf ein und würden uns freuen, Sie an diesem Abend begrüßen zu können.

Mark Steffen Gottschalk. Oberstleutnant u. BtlKdr St/UstgBtl I.DEU/NLD Corps

Dr. Martin Hoch. Koordinator Sicherheitspolitik und Bundeswehr Konrad-Adenauer-Stiftung

Marc Würfel-Elberg, Regionalleiter Münster Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

(15) Vorträge zu „Deutsche Kriseneinsätze/Auslandseinsätze: Bilanz, Erfahrungen, Schluss-folgerungen aus der Sicht eines parlamentarischen Mitauftraggebers“, bundesweit zig Mal gehalten: Im Schlussteil zu Schlussfolgerungen immer ein Foto, das die rund 80 militärischen, polizeilichen und zivilen multinationalen TeilnehmerInnen am Symposium „Comprehensive Approach“ am 30.06./01.07.2011 vor dem I. Deutsch-Niederländischen Corps im Vorfeld der „Common Effort“-Übung im September zeigt. Text zur Folie: „Teilnehmer der ersten Common-Effort-Übung des Deutsch-Niederländischen Corps/Münster

Das ist die Grunderfahrung in allen Einsätzen: Keiner schafft es allein! Keine Nation, kein Ressort, kein Akteur. Seit 2011 ist das Deutsch-Niederländische Corps in Münster mit der Übung Common Effort ein Pionier des Comprehensive Approach. Diejenigen, die in den Einsätzen zusammen wirken müssen, sollten das rechtzeitig vorher üben. Denn sehr verschiedenen sind oft die Organisationskulturen und „Sprachen“, Wirkungsmöglichkeiten und Erfahrungen der verschiedenen Akteure.“[4]

(16) Nachträgliche Begegnung mit OTL Ton van Loon bei KFOR 1 (Juni 1999)

(Auszug aus dem Vortrag „Vergessener Kosovo-Einsatz? Bloß nicht! Zu den Leistungen der Bundeswehr im KFOR-Verbund“ am 20.02.2019 im Einsatzführungskommando/Potsdam

ABSICHERUNG DER KOSOVO-FRIEDENSREGELUNG, START VON KFOR

Karte Kosovo mit KFOR-HQ`s: Ab 12. Juni 1999 rückte KFOR-Kräfte im Kosovo ein, 5.000 in den ersten 48 Stunden. Knapp 14 Tage später waren 30.000 der geplanten 50.000 KFOR-Soldaten aus 40 Nationen vor Ort. Deutscher Nationaler Befehlshaber im Einsatzland war Brigadegeneral Helmut Harff. Ein deutsches Vorauskommando erreichte am 13. Juni, einem Sonntag, um 1.00 Uhr morgens Prizren. Die beiden deutschen KFOR-Marschgruppen fuhren aus Mazedonien über Duljepass und Stimlje und aus Albanien über Kukes nach Prizren, das sie um 13.00 Uhr erreichten. So wurde der Eindruck erweckt, als käme KFOR aus allen Richtungen. Unterwegs erlebten die Soldaten völlig zerstörte, verlassene Dörfer. Später stießen sie auch auf die Spuren von Gräueltaten und Massengräber.

Deutscher Leopard-Panzer beim Einmarsch in Prizren: Mit 8.000 Soldaten aus neun Nationen, davon mehr als 3.000 Bundeswehr, rückte die von Brigadegeneral Fritz von Korff geführte Multinationale Brigade Süd (MNB S) im Raum Prizren ein, überrascht vom Jubel der kosovoalbanischen Bevölkerung. Teil der Brigade war ein niederländisches Artillerie-Bataillon, das von Oberstleutnant Ton van Loon geführt wurde und über die schwersten Waffen bei KFOR verfügte. (Das Bataillon verfügte über M-109-Panzerhaubitzen und übernahm zusätzlich Verantwortung im Raum Orahovac. Van Loon hatte 1995 im Deutsch-Niederländischen Korps in Münster die Operationsabteilung geleitet.) Die serbische Armee und andere bewaffnete Kräfte zogen vertragsgemäß ab, begleitet vom Exodus serbischer Fachkräfte. Während blitzartig massenweise  vertriebene Kosovoalbaner zurückströmten (bis zu 27.000 pro Tag im Süden), flohen viele Kosovoserben, begannen neue Vertreibungen in umgekehrte Richtung.

Laut Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats hatte KFOR den Auftrag, die vereinbarte Friedensregelung abzusichern und ein sicheres Umfeld für die Flüchtlingsrückkehr zu gewährleisten. Die aktuelle Lage erforderte eine enorme Auftragserweiterung: Übernahme zentraler öffentlicher Dienste von der Wasserversorgung bis zu Gefängnissen; Schutz bedrohter serbischer Bevölkerung und Liegenschaften.

Mit Entschlossenheit, Flexibilität und breiter fachlicher Kompetenz (laut General von Korff ein Vorteil der damaligen Wehrpflichtarmee mit ihren vielfältigen beruflichen Voraussetzungen) gingen die KFOR-Soldaten an die Umsetzung ihres plötzlich breiten zivil-militärischen Auftrags. Susanne Koelbl vom SPIEGEL beobachtet eine „elektrisierende Spannung“ und „glühenden Eifer der Soldaten, die in diesem Chaos virtuos improvisierten und einen beeindruckenden Balanceakt zwischen Sensibilität und Stärke demonstrierten“. (36/1999, S. 190)

Beim Ehemaligentreffen des vstkMechBtl/Task Force Prizren KFOR 1 am 27./28. Juli 2019 in Regen/Bayerischer Wald erinnerten sich etliche Veteranen hoch lobend an den niederländischen Bataillonskommandeur.[5] „Ende Juni 2019 fand in den Niederlanden ein Veteranentreffen der benachbarten Task Force Orahovac statt. Am 25. Juni brachte das kosovarische Fernsehen ein 23-minütiges Interview mit dem damaligen Kommandeur des niederländischen Panzerartilleriebataillons dem heutigen Generalleutnant a.D. Ton van Loon, vormals Kommandierender General des DEU/NDL Corps in Münster, https://www.youtube.com/watch?v=dI3nZ8lAdGU&feature=youtu.be&app=desktop

(17) Eingaben zum Kommunalwahlprogramm-Entwurf  der Münsteraner Grünen 2020(alles übernommen: 16. Kapitel Internationales und Städtepartnerschaften, S. 113/114: https://cdn.gruene-muenster.de/wp-content/uploads/2020/07/Gruene2020_Kommunalwahlprogramm.pdf )

Aufmerksamkeit für Friedenspraktiker

Auch aus Münster arbeiten Frauen und Männer in Krisen- und Konfliktländern für Gewaltverhütung, Friedensförderung und Entwicklung. Ihr Einsatz verdient öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung nicht nur bei der Feierstunde zum Tag des UN-Peacekeepers (29. Mai) in Berlin, sondern auch in Münster.

Zu Städtepartnerschaften: Wir verbinden Menschen über Grenzen hinweg

Eine besondere Art von Städtepartnerschaft ist das „Deutsche Riga-Komitee“, zu dessen Gründungsmitgliedern Münster seit 2000 gehört. Das einzigartige, vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unterstützte Netzwerk von über 50 Städten pflegt die lebendige Erinnerung an die  früheren jüdischen Nachbarn, die ab Dezember 1941 in das „Reichsjudenghetto“ Riga deportiert und dort zum großen Teil ermordet worden sind.

Zum Deutsch-Niederländischen Korps

In den 1980er Jahren war das Gebäude des I. Korps der Bundeswehr am heutigen Schlossplatz ein zentraler Ort für Proteste der Friedensbewegung gegen das atomare Wettrüsten. Mit dem Deutsch-Niederländischen Korps entstand  hier 1995 ein militärisches multinationales Hauptquartier, wo Militärs ehemaliger Kriegsgegner so integriert wie nirgendwo sonst auf der Welt zusammenarbeiten und dabei auf die UNO-Charta verpflichtet sind. Einsätze des Korps können selbstverständlich umstritten sein. Unabhängig davon gehören seine Angehörigen zur Stadtgesellschaft.

ANHANG zur Korps-Vorgeschichte

Flugblatt zur I. Korps-Blockade am 17./18. Oktober 1983 (verteilt mit kleinen extra dafür gebackenen Broten)

„Rüstung tötet täglich

Brot statt Waffen für die Welt! (…)

Überreicht von

Bezugsgruppen, die z. Zt. Bei der gewaltfreien Blockade des I. Korps mitmachen, um dadurch mit allem Nachdruck gegen die geplante Stationierung neuer US-Raketen in Europa zu protestieren.

Wo jede Seite die andere zig Mal vernichten kann,

wo Tag für Tag Zig-Tausende verhungern,

wo es pro Kopf mehr Sprengstoff als Nahrungsmittel gibt,

gibt es keinerlei Rechtfertigung mehr für weitere Aufrüstungspolitik, weder im Westen noch im Osten!

Nicht gegen die Soldaten, sondern gegen eine angebliche Sicherheitspolitik, die durch immer mehr Waffen immer weniger Sicherheit schafft, richtet sich die Blockade.“

„1983: Widerstand durch Niedersetzen (Auszug aus: Im Schatten von Lamberti: „Solidarisieren, mitmarschieren!“ Eindrücke aus der Münsteraner Demonstrationsgeschichte seit 1967 aus der Feder eines Zeitzeugen, im Stadtbuch Münster 1993)

„Die Aktivitäten der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing II und cruise missiles erreichten in der Aktionswoche im Oktober ihren Höhepunkt: Stadtteilaktionen, öffentliche Verweigerung, 5-vor-12-Aktionen in Schulen und Betrieben, Menschenteppiche (»die-in«), Gottesdienste.

Höhepunkte in Münster sind die Blockade des I. Korps am 17./18. Oktober (nur von Teilen der Friedensbewegung getragen) und die anschließende Menschenkette zum »US-Group Headquarter« in Handorf (zuständig für das Atomwaffenlager Schirlheide). Die Bezugsgruppen (BG) mit Namen wie Freakadellen, Westfälischer Frieden, Tigerenten, Sport-Spiel-Spannung, Pax Christi I+II u.a. bereiteten sich sorgfältig mit Trainings auf die gewaltfreie Aktion vor. Etwas härtere Bewegungsteile (Hausbesetzer, Startbahn West, Anti-AKW) fühlen sich mehr zur Großblockade in Nordenham hingezogen.

»Sechsmal treffen sich zwischen 80 und 100 Vertreter von Bezugsgruppen und teilnehmenden Organisationen. Diskussionen und Entscheidungsfindung laufen schwerfällig und wenig ermutigend. Der Polizei werden unsere Absichten und Motive brieflich in verbindlicher Form mitgeteilt. Ein Vorabgespräch soll nicht stattfinden. Der Auftakt am Montag um 6.30 Uhr ruhig und organisiert. Funktionen wie Polizeisprecher (pro Tor) und Melder werden eingeteilt. Jede Torgruppe (I-V) soll nach Lage selbständig im Rahmen des Konsens über mögliche Alternativen entscheiden.

Um 7.15 sind alle BG`en zur ersten halbstündigen Blockade an ihre Tore geströmt. Die Anlage der technischen Sperren zeigt schon das taktische Konzept der Polizei: Vermeidung von Konfrontation und Eskalation, also keine Verhinderung der Blockade von vorneherein, sondern punktuell Räumung immer dann, wenn »nötig«. Die meisten werden nur beiseite gesetzt, einzelne werden zur Personalienfeststellung rausgegriffen. Die teilweise hemmungslose Zahl an Räumungen (sogar wegen eines Zigarettenlieferanten), die hohe Zahl der vorläufigen Festnahmen macht aber deutlich, dass die Blockierer zugleich eingeschüchtert werden sollen. Heimliche Hoffnungen, Anhänger der Friedensbewegung würden nun en masse zum I. Korps strömen, Spontanblockierer würden die Schichten kräftig verstärken und die Tore »unräumbar« machen, werden enttäuscht. Die Gesamtzahl von ca. 600 ändert sich kaum. Am Dienstag ist die Blockade eingespielt, einzelne BG`en werden flexibel und wechseln mal das Tor – endlich mal ein wenig Unberechenbarkeit.

Das I. Korps reagiert offiziell recht plump: vorab mit einem strahlenden Gefreiten auf Plakat und Zeitungsbeilage, während der Aktion ganz offensiv mit Transparent und schwarz-rot-gold-umrahmten Handzetteln (»Distanzieren Sie sich, liebe Mitbürger, von den Störern«), verteilt von Soldaten in Uniform. Mit keinem Wort wird auf die Argumente der Friedensbewegung eingegangen. Allerdings stellen sich sogar Generäle der Diskussion mit den »Störern«.

Für viele Beteiligte enttäuschend war, wie wenig doch behindert werden konnte, wie leichtes Spiel die Polizei mit den Blockierern hatte. Wir waren voll berechenbar, dabei aber auch politisch so stark, dass für die Polizei unmöglich war, die Blockade von vornherein zu verhindern. Trotzdem: Die Blockade war ein politisches Zeichen, wie ernst es uns ist und dass wir nicht mehr alles wortreich, aber tatenlos hinnehmen, was die Rüstungsfanatiker uns vorsetzen. Das wurde deutlich. Unsere Aussagen und unser Verhalten waren glaubwürdig und wurden ernst genommen. Auch bei den Gegnern der Friedensbewegung hat sie Eindruck gemacht.«

1983 bewegte sich am meisten auf Münsters Straßen: 194 Versammlungen und Demos, an der Menschenkette nach Handorf beteiligten sich ca. 6.000 Menschen. Bei insgesamt 474 öffentlichen Veranstaltungen zwischen 1982 und 1984 kam es bei 14 zu Anzeigen: Bis 1985 liefen allein 106 Verfahren gegen Blockierer des I. Korps und 37 weitere gegen Teilnehmer einer Busblockade.“

Blockade I. Korps – Bilanz (internes Papier vom 01.12.1983)



[1] Im Juni 2014 wurde die niederländische 11. Luftbewegliche Brigade in die deutsche Division Schnelle Kräfte (DSO) eingegliedert, die 43. Brigade soll in die 1. Panzerdivision integriert werden, die 13. Brigade wahrscheinlich bei den belgischen Streitkräften. 

[2] Turnusmäßig hat das I. Deutsch-Niederländische Korps 2015 (nach 2005 und 2008) die Führung der NRF-Landstreitkräfte. Deutschland stellt 2015 insgesamt 4.000 Soldaten der NRF, davon 1.200 Heer, 430 Luftwaffe, 470 Marine, 1.870 andere. Die Landkomponente setzt sich im Wesentlichen aus der niederländischen Luftlandebrigade und dem deutschen Panzergrenadierbataillon 371 zusammen.

[3] Im Wehrkreis VI aufgestellte Divisionen (mit je ca. 16.500 Soldaten in den ersten Kriegsjahren): 6. Infanterie-Division (ID), 16. ID (mot.)/Panzergrenadier-Division, 16. Panzer-Division, 26. ID, 69. ID, 86. ID, 211. ID, 227. ID, 253. ID, 106. ID, 716. ID, 306. ID, 126. ID, 196. ID, F.M.v. Senger u. Etterlin (Hrg.), Soldaten zwischen Rhein und Weser, Koblenz 1980, S. 64&


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch