In Afghanistan ist deutsche Politik so dicht an Fluchtursachen - ihrer Bekämpfung wie ihrer Beförderung - wie in wenigen anderen Regionen. Jüngste UN-Berichte zu Kunduz und Afghanistan sind alarmierend. In der Bundestagsdebatte zu "Resolute Support" schlug sich das nur sehr begrenzt wieder. Realitätsflucht und Verdrängung sind längst nicht überwunden. Hier mein Kommentar zur Debatte und zu den UN-Berichten. zur SPIEGEL-Reportage + Helmand.
Stell Dir vor, es ist Krieg, ISAF geht,
es gibt Kriegsopfer in Afghanistan mehr denn je –
und kaum jemand hierzulande sieht noch hin
Kommentar zur Bundestagsdebatte über die Fortsetzung und Aufstockung
der „Resolute Support Mission“ in Afghanistan
Winfried Nachtwei, 21.12.2015)
(a) Am 17. Dezember beschloss der Bundestag mit 480 Ja und gegen 112 Nein bei zehn Enthaltungen die Fortsetzung und Aufstockung der deutschen Beteiligung an der UN-mandatierten und NATO-geführten Beratungsmission „Resolute Support“. Von den Grünen Abgeordneten stimmten 19 für den Einsatz, 31 dagegen, acht enthielten sich.
Wenige Stunden vor der Debatte hatte ich den Vorsitzenden und fachpolitischen Sprechern meiner ehemaligen Fraktion geschrieben und ihren Entschließungsantrag deutlich kritisiert: Es sei ein „Offenbarungseid“, dass angesichts der äußerst beunruhigenden Sicherheitslage in AFG argumentativ zu Resolute Support keine Position bezogen werde (und in den Ausschüssen eine Ablehnung angekündigt wurde). (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1382 )
(b) Inzwischen stieß ich auf UN-Berichte zur Eroberung von Kunduz (10.12.) und zur Lage in Afghanistan (12.12.), die ich nachfolgend zusammengefasst und verlinkt habe. Am 19.12. erschien die Kunduz-Reportage von Susanne Koelbl im SPIEGEL.
Auch wenn die Bundestagsentscheidung zu Resolute Support und die Positionierung der Grünen dazu wenig bis keine Beachtung fand, nehme ich jetzt auch noch zur Debatte im Bundestag Stellung.[1] Über den äußerst bestürzenden „Einzelfall“ hinaus geht es hier um Grundwerte und –orientierungen in der Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik, um Gewalteindämmung und Schutz der Zivilbevölkerung vor illegaler Gewalt, Solidarität mit Menschenrechtsaktivisten, um Krisenprävention, langen Atem und UN-Treue, um Wirkungsorientierung insgesamt. Zugleich ist mir bewusst, dass das beschleunigte Krisen-Multitasking mit einer strukturellen Überforderung von Akteuren in den politischen Mühlen einhergeht und ich leicht von außen kritisieren kann. Aber nachdem ich das militärisch-zivile-polizeiliche Engagement in Kunduz seit Januar 2004 intensiv begleitet und immer wieder besucht habe – bis 2007 mit großer Hoffnung, danach mit wachsender Beunruhigung -, kann ich jetzt nicht schweigen.[2]
(1) Rückblende: Anfang August kommentierte ich den jüngsten UNAMA Report über Zivilopfer (1. Halbjahr 2015): „Auch wenn die Informationen über die reale Lage in Afghanistan immer spärlicher werden und das Land zunehmend im Aufmerksamkeits- und Interessenschatten der anderen, näheren Krisen + Kriege verschwindet – sieben Monate nach Ende des ISAF-Großeinsatzes und Beendigung des internationalen Kampfeinsatzes ist ein Abflauen der Kämpfe nicht in Sicht, im Gegenteil.
(2) Bundestagsdebatte: Wieweit stellen sich jetzt Bundesregierung und Bundestag anlässlich der Resolute Support Debatte der massiv verschlechterten Realität in Afghanistan – der Gefahr, dass das Land ganz wegrutscht, alle Teilerfolge der letzten 14 Jahre zunichte gemacht werden, dass noch mehr junge Leute die Flucht ergreifen und aller Einsatz umsonst war? (Protokoll der Debatte http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/18/18146.pdf )
(a) Die Fraktion der LINKEN nimmt die zugespitzte Situation in Afghanistan nur insofern wahr, als sie sich mehr denn je bestätigt fühlt in ihrer Ablehnung des Afghanistan-Einsatzes von Anfang an. Dass der ISAF-Einsatz einstimmig immer wieder vom UN-Sicherheitsrat beauftragt wurde und in den ersten vier Jahren eindeutig als Stabilisierungseinsatz mit sehr wenig Gewalteinsatz agierte (die Bundeswehr war in dieser Zeit in einen Schusswechsel verwickelt und sieben Angriffe mit Sprengfallen ausgesetzt) wird ignoriert. Dass der ISAF-Rückzug keineswegs mit einem Erlöschen des Kriegsfeuers einherging, sondern im Gegenteil mit seinem Aufflammen – kein Wort.
„Ich sage Ihnen: Frieden und Demokratie kann man nicht von außen erzwingen.“ Wie wahr! Wahr ist aber auch die jahrzehntelange Erfahrung der Vereinten Nationen, dass von Krieg zerstörte Staaten und ihre verwundeten Völker nach Waffenstillständen und Friedensabkommen auf Hilfe von außen angewiesen sind – deshalb gibt es ja UN-Peacekeeping und –Peacebuilding. Bei dieser Sicherheits- und Aufbauunterstützung machte die Staaten“gemeinschaft“ elementare und strategische Fehler. Das ist tragisch und muss eine Lehre sein. Es rechtfertigt aber nicht, den UN-legitimierten Unterstützungsansatz pauschal und unterschiedslos zu denunzieren, wie es die LINKE seit 2001 tut.
(b) Die RednerInnen der Großen Koalition stellen sich der bedrohlichen Realität – aber sehr in Grenzen, in homöopathischen Dosen. Erkannt wird, dass ein Festhalten am ursprünglichen Rückzugsplan für Resolute Support (ab Anfang 2016 nur noch Kabul, Ende 2016 Gesamtabzug) die Regierungskräfte massiv entmutigen, die Aufständischen ermutigen und den Abwärtstrend rasant beschleunigen würde. Dass eine verantwortliche Ministerin strategische Fehler des Bündnisses, also auch eigene, konstatiert und als erste Lektion nennt „wir brauchen eine ungeschminkte Lagebeurteilung“, ist völlig richtig, neu, aber auch überfällig. Ungeschminkte Lagebeurteilungen haben wir seit den Alarmzeichen von 2006 (!) immer wieder gefordert. Ein zentraler Grund für die Misserfolge des Afghanistan-Einsatzes war die strukturelle Unehrlichkeit und Realitätsleugnung. Florian Hahn benennt richtig mangelnde strategische Geduld und innenpolitisch motivierte Halbherzigkeit in der Vergangenheit und die Notwendigkeit kritischer Evaluierung heute.
Ansonsten aber erscheint die Lage immer noch weichgezeichnet: die Entwicklung in Afghanistan sei „kein Grund zur Freude“, die „gegenwärtige Instabilität“, „nicht so weit gekommen, wie wir kommen wollten“ (Niels Annen); „symbolische Angriffe“ der Taliban auf Kunduz, aber auch in Kabul, „hochgesteckte Ziele und Erwartungen, die mit dem Afghanistan-Einsatz 2001 verbunden waren, nicht erfüllt“, „Situation in Afghanistan nach wie vor nicht so, dass wir auf den Einsatz verzichten könnten“ (Jürgen Hardt); die afghanischen Sicherheitskräfte seien in der Lage, „selbst an vielen Stellen in Afghanistan für Sicherheit zu sorgen“, „Rückschläge hinsichtlich der Stabilität und Sicherheit im Land“ (Lars Klingbeil).
Keine Rede ist
- von den Maximalzahlen an Zivilopfern und gefallenen Sicherheitskräften (von 1. August bis 31. Oktober 3.693 Zivilopfer, davon 1.138 Tote, ein Anstieg um 26% ggb. dem Vorjahrszeitraum!),
- von dem schrumpfenden „sicheren Umfeld“, das ISAF laut Auftrag befördern sollte,
- von der Infragestellung der Aufbau- und Entwicklungsunterstützung, wo die Basissicherheit verloren geht, internationale Zivilexperten kaum noch rauskommen und Ortskräfte sich in Sicherheit bringen,
- von der vermehrten Präsenz bewaffneten Gruppen, die sich zum IS bekennen, und Kämpfen mit ihnen,
- von der Gefahr des Wegrutschens Afghanistans,
- von deutscher Mitverantwortung für Fluchtursachen – ihre Bekämpfung, aber auch ihrer Beförderung – in Afghanistan.
Wo die Lage weichgezeichnet wahrgenommen wird, bleiben auch Schlüsselfragen unerwähnt:
- Wie wirksam – oder symbolisch - ist eigentlich die Beratungsmission Resolute Support, bei der Beratung nur auf der Spitzenebene in Mazar-e Sharif ausgeübt wird? Warum wurde vor der Definition des künftigen Auftrages und der notwendigen Fähigkeiten zuerst die Obergrenze von 980 festgelegt?
- Was ist mit der Polizeiaufbauhilfe, die eigentlich von strategischer Bedeutung für nachhaltige innere Sicherheit ist, aber im Norden nur von 12 (!) deutschen Polizeibeamten repräsentiert wird? (Wie bei der RSM-Debatte am 18. Dezember 2014 wird auch heute die Polizeikomponente mit keinem Wort erwähnt, nicht einmal bei Dankesworten. Das ist aufschlussreich und beschämend!)
- Warum gibt es ausgerechnet im Umbruchjahr 2015 keinen „Fortschrittsbericht“ mehr? Nur weil der Name wirklich nicht mehr passen würde? (Das US-Verteidigungsministerium hat immerhin im Dezember einen zweiten Halbjahresbericht „Enhancing Security and Stability in Afghanistan“ vorgelegt. http://www.defense.gov/Portals/1/Documents/pubs/1225_Report_Dec_2015_-_Final_20151210.pdf)
(c) Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist sich uneinig. Jetzt stimmten 31 Abgeordnete gegen RSM (2014 34, 2013 beim letzten ISAF-Mandat 10), 19 dafür (2014 9, 2013 35), 8 (17, 14) enthielten sich. Das spricht für die Eigenständigkeit der einzelnen Abgeordneten, erschwert aber eine gemeinsame Politik, Erkennbarkeit und Glaubwürdigkeit – von Regierungsfähigkeit ganz zu schweigen.
Die grüne Sprecherin bekennt sich zu einer besonderen Verantwortung Deutschlands für die Menschen in Afghanistan, die wir „nicht alleine lassen dürfen“. Sie zeichnet ein differenziertes Bild der Lage in Afghanistan, benennt positive Entwicklungen wie auch die grausamen Attentate und Attacken der Aufständischen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. (Diese Lagedarstellung ist realitätsnah und unterscheidet sich diametral von dem eindimensionalen Afghanistan-Bild der LINKEN und von H.-C.S.)
Deutlich wird festgestellt, dass der NATO-Beschluss zur Beendigung von ISAF richtig gewesen sei. Aus Sicht der ISAF-Länder will ich nicht infrage stellen. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob die Art des ISAF-Abzuges (terminfixiert, lageunabhängig, Rücksicht nur auf die eigenen Kräfte, null auf die Afghanen) richtig war. Meines Erachtens waren die stark steigenden zivilen und ANDSF-Opferzahlen a u c h ein „Begleitschaden“ der Art des ISAF-Abzuges. Die Mitverantwortung für diese menschlichen „Begleitschäden“ ist formal mit der „Übergabe der Verantwortung“ an die afghanische Seite weitergereicht, nicht aber moralisch.
Gegenüber der Verlängerung und Aufstockung von RS äußert die grüne Sprecherin Bedenken, die nach aller Erfahrung begründet und triftig sind: Die Vertagung des Abzugs bis wann? Die Unklarheit von Zielen und Erfolgskriterien (seit 2000 fordert der Brahimi-Report die Klarheit, Glaubwürdigkeit und Erfüllbarkeit von Mandaten!); die Gefahr eines Rutschbahneffekts; die fragliche Auswirkung einer etwas längeren und intensiveren Ausbildung von Sicherheitskräften auf die Sicherheitslage. Sehr zu Recht beschreibt die Rednerin die langjährige schlechte Regierungsführung in Afghanistan als einen wichtigen Grund für die düstere Lage heute.
„Wie kann unter solchen Bedingungen Ihr militärisches Engagement zum Erfolg führen?“ Die Frage drängt sich in der Tat auf. Darauf kann es nur Antworten mit Unsicherheiten und Zweifeln eben.
Trotzdem bleibt eine Schlüsselfrage:
Was tun, wenn sich die ANDSF nicht zureichend allein aus eigener Kraft behaupten können, wenn bisherige minimale Sicherheit und Bewegungsfreiheit erodieren, wenn notwendige Sicherheitsvoraussetzungen für Entwicklungszusammenarbeit und zivilgesellschaftliche Akteure schwinden?
Das ist eine Frage der unmittelbaren Großgefahrenabwehr, der Verhütung noch schlimmerer Konflikteskalation (bis hin zum Flächenbrand eines Bürgerkrieges) – und nicht eine Frage der Konfliktlösung insgesamt oder gar eines „absoluten Friedens“ in Afghanistan.
Diese Akutfrage, die auch eine der Krisenprävention in laufender Konfliktdynamik ist, wird sehr anschaulich, wenn man die u.g. jüngsten UN-Berichte liest: zur Taliban-Besetzung von Kunduz (12. Dezember), den Quartalsbericht des UN-Generalsekretärs an Generalversammlung und Sicherheitsrat (10. Dezember).
Dieser Akutfrage weicht die Mehrheit der grünen Fraktion aus. Wo willkürlich getötet und geraubt wird, wo gezielt Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen, Journalisten verfolgt werden, wo UNAMA- MitarbeiterInnen abgezogen werden müssen, da sind Forderungen, verstärkt auf Verhandlungslösungen zu drängen, weiterhin verlässlich den zivilen Wiederaufbau, Zivilgesellschaft und Frauenrechtsgruppen zu unterstützen (vgl. Entschließungsantrag http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/070/1807084.pdf), bei aller Richtigkeit voll am Thema vorbei.
Eine Fraktion, die richtige Forderungen zum zivilen Aufbau nicht zu Lippenbekenntnissen verkommen lassen will und für die sich Opposition nicht im Bedenkentragen erschöpft, muss schon Stellung nehmen zur Sicherheitssektorreform und ob die ANDSF beraten oder sich selbst (und US-Kräften) überlassen werden sollen.
Meiner ziemlich festen Überzeugung nach würden die ANDSF nur am internationalen Finanztropf, aber ohne internationale Beratung garantiert sehr schnell zerbröseln, wäre Afghanistan beschleunigt auf der Rutschbahn Richtung Bürgerkrieg.
Schließlich die UN-Treue: Als Mitglied des Vorstandes der Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen seit 14 Jahren bin ich stolz auf den Ruf der Grünen als die kompetentesten und verlässlichsten Freunde der UN im Bundestag und in der Parteienlandschaft.
Wenn sich UN-Sicherheitsrat und Generalsekretär so eindeutig für Resolute Support aussprechen, dann gibt es selbstverständlich keine Zustimmungspflicht. Aber es gibt eine hohe Rechtfertigungspflicht gegenüber einem solchen UN-Votum.
(3) UN-Untersuchungsbericht zur Taliban-Besetzung von Kunduz am
28. September (12.12.2015)
Während der Taliban-Offensiven in der Provinz Kunduz vom 24. April bis 13. Mai und 20. bis 30. Juni hatten die Aufständischen zunehmend Kontrolle über weite Teile der Provinz gewonnen. Zum Zeitpunkt des Angriffs kontrollierten sie das Verwaltungszentrum des Dasht-e Archi Distrikts, große Teile der Distrikte Chahar Darah, Qala-e Zal und Imam Shahib, zeitweise auch das Distriktzentrum von Chahar Darah.
Der gut geplante Angriff der Taliban auf Kunduz City traf auf wenig Widerstand. Die afghanischen Sicherheitskräfte wurden Richtung Flughafen getrieben. Sofort befreiten die Taliban über 600 männliche Häftlinge aus dem Gefängnis, einige wurden mit Waffen ausgestattet, um mit gegen die Sicherheitskräfte (ANDSF) zu kämpfen. In den Folgetagen gingen ANDSF, unterstützt von US-Soldaten, zum Gegenangriff über. Die heftigen Kämpfe dauerten bis zum 13. Oktober, als die Taliban ihren offiziellen Rückzug aus Kunduz bekanntgaben. Am 3. Oktober kam es trotz eindringlicher Vorwarnungen durch „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) zu einem US-Luftangriff auf ihr Krankenhaus, wobei 30 Menschen getötet (darunter 13 MSF-Mitarbeiter und zehn Patienten) und 37 verletzt wurden. Das Hospital war mit seiner Trauma-Behandlung einzigartig in der ganzen Nordostregion. (vgl auch Friederike Böge „Eine folgenreiche Verwechslung“, FAZ 26.11.2015 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/asien/angriff-auf-das-krankenhaus-in-kundus-war-eine-folgenreiche-verwechslung-13934333.html )
Zivilopfer: Insgesamt sind lt. UNAMA in den mehr als zwei Wochen der Besetzung von Kunduz und den umliegenden Distrikten 280 Zivilpersonen getötet (davon 43 Frauen und 23 Kinder) und 559 verwundet worden. Der größte Teil der Menschen kam bei den Kämpfen zu Schaden. Die Gesamtzahl der Zivilopfer entspricht zehn Prozent aller Zivilopfer des ganzen Jahres 2014, dem Jahr mit den meisten Opfern, die seit 2009 von UNAMA dokumentiert wurden.
Taliban verlegten unterschiedslos wirkende Druckplatten-IED`s an Zufahrtsstraßen nach Kunduz und in zivilen Gebäuden vor ihrem Rückzug.
Zusammenbruch der Ordnung: Die Abwesenheit von staatlichen Organen, der Zusammenbruch von minimaler Recht und Ordnung führte in diesen zwei Wochen zu einer Schutzlosigkeit in Bezug auf die meisten fundamentalen Menschenrechte. Das Chaos ermöglichte ein Umfeld, in dem willkürliche Tötungen und andere Formen der Gewalt gegen Zivilisten und zivile Objekte, Kriminalität und Zerstörung von Eigentum um sich griffen.
Es gab etliche Berichte von gezielten Tötungen während des Angriffs und der folgenden Besetzung. Berichtet wurde von Zivilisten, die durch unbekannte Scharfschützen beim Besorgen von Lebensmitteln und Wasser getötet worden waren.
Mehrfach wurden Fälle berichtet, wo Taliban Zivilpersonen töteten (z.B. den Ehemann einer nicht anwesenden NGO-Mitarbeiterin), wo es zu Exekutionen im Rahmen einer Paralleljustiz kam. Die Beschuldigung: Arbeit für die Regierung oder die ANSF.
Entführungen: Zahlreich berichtet wurde von der Entführung ziviler Männer. Zwischen Kunduz und Takhar wurden Fahrzeuge und Lkw`s angehalten, junge Männer und Jungen ausgewählt und entführt. In den meisten Fällen ist ihr Verbleib bis heute unbekannt.
Razzien, v.a. nach Menschenrechts- und FrauenaktivistInnen: UNAMA bestätigt, dass in den ersten Tagen der Besatzung Taliban-Kämpfer systematisch Haus für Haus mit vorbereiteten Listen (Namen, Adressen, Organisation) nach zivilgesellschaftlichen und Frauenrechts-Aktivisten, öffentlich aktiven Frauen, nach Menschenrechtsverteidigern und Mitarbeitern von NGO`s und anderen internationalen Organisationen, einschließlich UNAMA, Journalisten, Anwälten, Richtern und Staatsanwälten durchsuchten. Da viele Taliban sich in Kunduz City nicht auskannten, konnten einige Frauenaktivistinnen entkommen. Als die gezielte Suche von weiblichen Menschenrechtsverteidigern im Land bekannt wurde, flohen andere Aktivistinnen aus Baghlan, Takhar, Badakhshan und Faryab – vielfach nach Kabul.
Die Organisiertheit und Koordination der Suche nach aktiven Frauen wirft Fragen auf. Etliche Interviewte äußerten die Befürchtung, dass Gruppen der bewaffneten Opposition Regierungsinstitutionen infiltriert hätten, die detaillierte Informationen über die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen haben. Die meisten wollen nicht mehr nach Kunduz zurückkehren.
Eingesperrte und Flüchtlinge: Während der Taliban- Besetzung mussten ca. 150.000 Einwohner trotz heftiger Kämpfe in Teilen der Stadt in ihren Wohnungen ausharren. Eingeschränkt war ihr Zugang zu Lebensmitteln, sauberem Wasser und Strom. Über 15.000 Familien flohen in andere Landesteile, die meisten in der Nordregion (8.300 Familien nach Taloqan, 1.200 nach Mazar-e Sharif, 1.550 nach Baghlan, 800 nach Badakhshan). Inzwischen sollen bis zu 8.000 Familien zurückgekehrt sein. Während der Kämpfe wurden alle 497 Schulen geschlossen, mehr als 350.000 Kinder konnten nicht ihre Schulen besuchen. 20 Schulen wurden beschädigt, vier Schulen wurden von Taliban wie ANDSF für militärische Zwecke missbraucht.
Plünderungen: Zu Beginn der Besetzung hatten die Taliban verkündet, Zivilisten, auch Regierungsangestellten würde nichts geschehen. Die Wirklichkeit sah anders aus. Taliban-Kämpfer und/oder Gelegenheits-Kriminelle plünderten das UNAMA Kunduz Office wie auch die Büros der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission, mehrerer lokaler und internationaler NGO`s, Medien, des Departments für Frauenangelegenheiten und andere Verwaltungsbüros. In einigen Fällen stahlen Taliban aus den Büros vertrauliche Dokumente, Ausstattung, auch Fahrzeuge von NGO`s, UNAMA und humanitären Organisationen.
Von Taliban wie von Mitgliedern der ANDSF wurden Körper von Toten gestümmelt und geschändet.
Medien-Niederlassungen und Journalisten: Geplündert und zerstört wurden die Büros mehrerer Medien-Niederlassungen. In einigen Fällen suchten Taliban die Wohnhäuser von Journalisten auf, um ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Laut Afghan Journalists Safety Committee flohen während der Kämpfe mehr als 100 Journalisten aus der Provinz Kunduz. Besorgt waren etliche um das Wohlergehen ihrer Kontakte und Quellen, deren Details in den Büros in die Hände der Taliban gefallen waren.
Am 12. Oktober gab es einen ausdrücklichen Versuch, Journalisten zu bedrohen und einzuschüchtern. Die Militär-Kommission der Taliban verurteilte in einem Statement die Berichterstattung der zwei TV-Kanäle Tolo TV und 1TV und erklärte deren Niederlassungen zu „militärischen Zielen“ und die Mitarbeiter zu „Feindpersonal“. Die beiden Kanäle hatten vor her von Beschuldigungen berichtet, wonach Taliban in Kunduz geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen ausgeübt hätten. Am 16. Oktober rief auf der Taliban Website ein Artikel direkt zu Angriffen auf Medien-Niederlassungen und Journalisten auf, die „für den Westen arbeiten und von ihm bezahlt werden“. Solche Niederlassungen müssten militärische Ziele sein und eliminiert werden.
Auch nach dem Abzug der Taliban dauerten Drohungen gegen Journalisten in Kunduz an.
Rekrutierung und Einsatz von Kindern: UNAMA erhielt glaubwürdige Berichte von einer hohen Zahl an Kindersoldaten beim Angriff auf Kunduz. In medizinischen Einrichtungen in Kunduz seien „mindestens 200“ verletzte Kindersoldaten behandelt worden, die meisten von ihnen Jungen zwischen 10 und 17 Jahren. Viele sollen durch Druck auf die Familien dazu gezwungen worden sein, Waffen aufzunehmen.
(vgl. auch „The Report on the Investigation of Human Rights and Humanitarian Rights Situation in Kunduz Province Armed Conflict“, Afghan Independent Human Rights Commission, http://www.aihrc.org.af/media/files/Kondoz_English.pdf )
(4) Reportage “Gigantischer Beutezug” von Susanne Koelbl im SPIEGEL 52/19.12.2015 über die kurzzeitige Eroberung von Kunduz durch die Taliban, die Hintergründe und die Folgen bis heute (Video: S. Koelbl über ihre AFG-Reise http://spiegel.de/sp522015kunduz ):
„(…) Ausgerechnet Kunduz. Ausgerechnet die Stadt, die Deutschland zum Zentrum seiner Aufbaubemühungen gemacht hatte, fiel in die Hände der Taliban. Zwar nur für 15 Tage, danach eroberten die Regierungstruppen sie zurück. Aber Kunduz ist jetzt ein anderer Ort. Die Frauen gehen wieder voll verschleiert, auf den Straßen stehen Pick-ups mit Maschinengewehren. Hotels nehmen keine Fremden mehr auf, niemand will mit Ausländern gesehen werden. Wenn die Taliban davon erfahren, kann das tödlich sein. Die Basare sind zwar wieder geöffnet, der Brotpreis sank auf normales Niveau, doch das Gefühl von Sicherheit ist weg. Und fast alle von Deutschland mühsam mitaufgebauten Institutionen sind zerstört. (…) Am 28. September ahnte Hassina Sarwadi, 34, Direktorin des Frauenhauses von Kunduz, nicht, dass sich gleich alles auflösen würde, woran sie geglaubt hatte: Polizei, Gerichte, Provinzregierung, ja der ganze Staat. (…) Soldaten, Geheimdienstler, Polizisten waren längst geflohen. Sie hatten Kunduz den Extremisten überlassen, kampflos.“
Wie das passieren konnte?
Laut einer vom Präsidenten berufenen Untersuchungskommission herrsche „zwischen den Koalitionspartnern, dem Präsidenten und dem Regierungsvorsitzenden Abdullah eine ´so starke Atmosphäre von Misstrauen und Unklarheit`, dass sich diese auf allen Ebenen des Staates fortsetze: vom Sicherheitsapparat in Kabul bis hinunter zum örtlichen Kommandeur in Kunduz. Niemand höre mehr auf irgendwen.“ In Kunduz existierte „am Tag des Angriffs ´keine Kommandostruktur`, was zu einem kollektiven Versagen aller Sicherheitskräfte führte. Jeder rettete nur noch sich selbst.“
Koelbl schildert die organisierte Nichtzusammenarbeit in Kunduz zwischen Gouverneur und seinem Stellvertreter, zwischen Polizei- und Armeechef – und dass Geheimdiensterkenntnisse über die geplante Offensive der Taliban vorlagen. Aber es wurden keine Konsequenzen gezogen.
„Als die Taliban in der Stadt waren, besorgte eine eigene Truppe das Niederbrennen der Institutionen. Sie gingen systematisch vor, von West nach Ost. Die Extremisten schonten lediglich, was sie als nützlich betrachteten, das von Deutschen errichtete Krankenhaus etwa. Das Lehrer-Trainingszentrum am Flughafen dagegen zündeten sie an, das Büro der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) plünderten sie.
Sie brannten drei Polizeistationen nieder, das alte und neue Hauptquartier der Armee, das Gerichtsgebäude. Schreibtische, Computersysteme, Regale, Stühle und Geräte wurden abtransportiert. Es war nicht nur ein militärischer Sieg, sondern auch ein gigantischer Beutezug. Ein großer Teil der Ausstattung der Provinzverwaltung und der dortigen Sicherheitskräfte wechselte auf die Seite des Feindes, darunter Hunderte Polizei-, Armee- und Regierungsautos, 2 Panzer, 37 Humvees, Nachtsichtgeräte und etwa 1000 Waffen.
Das Versammlungshaus des Provinzrats, (..) ist jetzt eine Ruine mit verrußten Fensterhöhlen, der Komplex der Gemeindeverwaltung ausgeräuchert. Von den Wasserwerken und dem Amt für Dorfentwicklung stehen nur noch die verkohlten Mauern.
Selbst ins Studentinnenwohnheim brachen die Taliban ein. Sie stahlen die Laptops der Mädchen, Kühlschränke, Radiogeräte, ihren Goldschmuck, Teppiche. An diesem Tag waren die Studentinnen zum Opferfest bei ihren Familien. (…)“
(5) Bericht des UN-Generalsekretär „The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security“ an UN-Generalversammlung und Sicherheitsrat vom 10. Dezember 2015
http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/2015/942
Vom 1. August bis 31. Oktober 2015 erfasste UNAMA 6.601 Sicherheitsvorfälle, eine Steigerung um 19% gegenüber dem Vorjahrszeitraum. Die Mehrheit (62%) geschah im Süden, Südosten und Osten. Während hier die Sicherheitsvorfälle in den letzten Jahren konstant blieben, gab es eine auffällige Intensivierung der Unsicherheit im Norden und Nordosten.
Von August bis Oktober dokumentierte UNAMA 3.693 Zivilopfer (1.138 Tote, 2.555 Verwundete), ein Anstieg um 26% gegenüber dem Vorjahrszeitraum. 54% der Zivilopfer wurden durch regierungsfeindliche Kräfte verantwortet, 17% durch Pro-Regierungskräfte (12% ANDSF, 1% Milizen, 4% internationale Streitkräfte), 27% durch Kreuzfeuer zwischen Aufständischen und ANDSF. In den drei Monaten wurden 159 Kinder bei Sicherheitsvorfällen getötet und 505 verletzt, ein Rückgang um 10% ggb. dem Vorjahrszeitraum.
Im Berichtszeitraum Aug.-Okt. gelang den Taliban über Kunduz hinaus die Einnahme von 16 Distriktzentren, vorrangig im Norden (Badakhshan, Baghlan, Faryab, Kunduz, Sari Pul, Takhar), aber auch im Westen (Farah) und Süden (Helmand. Kandahar). Die ANDSF konnten bis Ende Oktober Kunduz City und 13 Distriktzentren zurückgewinnen. Versuche der Taliban, die Provinzhauptstädte von Ghazni, Farah und Faryab einzunehmen, konnten mit internationaler militärischer Unterstützung abgewehrt werden. Die Kontrolle über schätzungsweise 25% aller Distrikte des Landes bleibt umkämpft. Die Entwicklung verdeutlichte kritische Defizite in den Fähigkeiten der ANDSF – so in Logistik, Planung, Nachrichtenwesen und Luftunterstützung sowie in der Zusammenarbeit von Sicherheitsinstitutionen und zivilen Autoritäten.
Besorgnis erregte die Präsenz von dem IS verbundenen Gruppen, insbesondere in der Provinz Nangarhar. Unbestätigte Berichte meldeten Zusammenstöße zwischen IS-Anhängern und Taliban in der Provinz und signifikant zunehmende Clear-Operationen der ANDSF gegen IS-Anhänger.
UN war von 43 Sicherheitsvorfällen betroffen. Zwischen 30. September und 9. Oktober wurden UN-MitarbeiterInnen vorsichtshalber aus Baghlan, Badakhshan und Faryab abgezogen.
“(…) temporary capture of a provincial capital, Kunduz City. This event, combined with the
existence of an economic environment that is a source of continued difficulty, fuelled an increasing contestation of the political space, as debates among the political elites and the public became more vocal. The sum of these challenges finds Afghanistan at a point where uncertainty about the future is pushing an increasing number of Afghans to emigrate and the need for sustained international assistance remains acute.
This was the first year in which Afghanistan found itself without the same level or form of international military support provided in the past decade. The Afghan security forces have largely withstood the mounting pressures, however, and shown the ability to retake those areas temporarily under the control of the insurgency. If the costs have been heavy, ranging from attrition to casualties, so have the demands, which at times have been answered with international support. Additionally, reports of intra-insurgent violence point to an increasingly volatile and complex security situation. I welcome recent announcements by Member States affirming their commitment to assisting the Afghan security forces in their efforts to bring security and stability to the country.(…)”
Die Bemühungen, einen Friedensprozess in Gang zu setzen, stecken in einer Sackgasse. Obwohl die Taliban in öffentlichen Stellungnahmen die Bedeutung einer politischen Lösung anerkennen, zeigen sie keine Bereitschaft, direkte Gespräche mit der afghanischen Regierung aufzunehmen.
Erstmalig wurde ein lokales Waffenstillstandsabkommen mit Billigung der Regierung abgeschlossen – am 7. September in Dand-e Ghori im Pul-i Khumri-Distrikt/Baghlan zwischen Stammesältesten, dem Provinzgouverneur von Baghlan und dem Minister für Stammes- und Grenzangelegenheiten.
Am 12. Oktober nahmen ca. 500 Vertreter von „government religious councils“, unabhängige Geistliche und Religionsgelehrte an der „Ulema National Conference in Support on Peacebuilding in Afghanistan“ teil. Die Konferenz wurde vom High Peace Council ermöglicht und von UNAMA unterstützt. Die Teilnehmer beschlossen eine Resolution, die die Bemühungen der Regierung unterstützt, alle Seiten des Konflikts zusammenzubringen, um Frieden zu erreichen.
(6) Resolution 2210 (2015) des UN-Sicherheitsrats vom 16. März 2015 zur Fortsetzung der politischen UN-Mission in Afghanistan UNAMA
http://www.un.org/Depts/german/sr/sr_15/sr2210.pdf
„(…) unterstreichend, wie wichtig einsatzfähige, professionelle, inklusive und tragfähige afghanische nationale Sicherheitskräfte sind, um den Sicherheitsbedarf Afghanistans zu decken und so dauerhaften Frieden und anhaltende Sicherheit und Stabilität herbeizuführen, betonend, dass sich die internationale Gemeinschaft langfristig, über 2014 hinaus und bis in die Transformationsdekade (2015-2024) hinein, verpflichtet hat, die Weiterentwicklung, einschließlich der Ausbildung, und die Professionalisierung der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte sowie die Rekrutierung und Bindung von Frauen in den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften zu unterstützen, in Anerkennung des Beitrags der Partner Afghanistans zu Frieden und Sicherheit in dem Land, unter Hinweis auf den Abschluss der Mission der Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe Ende 2014, unter Begrüßung des zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) und Afghanistan geschlossenen Abkommens, das zur Einrichtung der Mission ohne Kampfauftrag „Resolute Support“ (Entschlossene Unterstützung) am 1. Januar 2015 führte, die auf Einladung der Islamischen Republik Afghanistan die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte ausbilden, beraten und unterstützen soll, in Anbetracht der Verantwortung der Regierung Afghanistans für die Aufrechterhaltung ausreichender und einsatzfähiger afghanischer nationaler Verteidigungs- und Sicherheitskräfte sowie in Anbetracht des Beitrags der NATO und der beitragenden Partner zum finanziellen Unterhalt der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte und der langfristig angelegten Dauerhaften Partnerschaft zwischen der NATO und Afghanistan, mit dem klaren Ziel, dass die Regierung Afghanistans spätestens 2024 die volle finanzielle Verantwortung für ihre eigenen Sicherheitskräfte übernimmt, und in diesem Zusammenhang unter Hinweis auf die Resolution 2189 (2014),
(…)
23. fordert die afghanische Regierung auf, mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft auch weiterhin gegen die Bedrohung der Sicherheit und Stabilität Afghanistans vorzugehen, die von den Taliban, Al-Qaida und anderen gewalttätigen und extremistischen Gruppen, illegalen bewaffneten Gruppen, Kriminellen und denjenigen, die an der Herstellung unerlaubter Drogen oder dem Verkehr oder Handel damit beteiligt sind, ausgeht;
24. erklärt erneut, wie wichtig es ist, die Funktionsfähigkeit, die Professionalität und die Rechenschaftspflicht des afghanischen Sicherheitssektors innerhalb eines umfassenden Rahmens durch geeignete Überprüfungsverfahren und Maßnahmen in den Bereichen Ausbildung, einschließlich über Kinderrechte, Mentoring, Ausrüstung und Ermächtigung, für Frauen wie auch für Männer, zu steigern, um raschere Fortschritte in Richtung auf das Ziel eigenständiger, ethnisch ausgewogener und Frauen einschließender afghanischer Sicherheitskräfte zu erzielen, die für Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit im gesamten Land sorgen, betont, wie wichtig ein langfristiges Engagement der internationalen Gemeinschaft ist, um sicherzustellen, dass die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte einsatzfähig, professionell und tragfähig sind, und nimmt in dieser Hinsicht Kenntnis von der Einrichtung der Mission ohne Kampfauftrag „Resolute Support“, die diese Sicherheitskräfte auf der Grundlage der bilateralen Abkommen zwischen der NATO und Afghanistan und auf Einladung Afghanistans ausbilden, beraten und unterstützen wird;
25. begrüßt in diesem Zusammenhang die anhaltenden Fortschritte beim Aufbau der Afghanischen Nationalarmee und die Verbesserung ihrer Fähigkeiten zur Einsatzplanung und -durchführung und ermutigt zu anhaltenden Ausbildungsanstrengungen, unter anderem durch den Beitrag von Ausbildern, Ressourcen und Beratungsteams im Rahmen der NATO-Mission „Resolute Support“, Beratung bei der Entwicklung eines dauerhaft angelegten Prozesses für die Verteidigungsplanung sowie Hilfe bei den Initiativen zur Reform des Verteidigungssektors;
26. nimmt Kenntnis von den laufenden Anstrengungen der afghanischen Behörden zum Ausbau der Fähigkeiten der Afghanischen Nationalpolizei, fordert weitere auf dieses Ziel gerichtete Anstrengungen, betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit internationaler Hilfe in Form von finanzieller Unterstützung und der Bereitstellung von Ausbildern und Mentoren, einschließlich des Beitrags der NATO-Mission „Resolute Support“, entsprechend der durch die Regierung Afghanistans erfolgten Zustimmung und Annahme, des Beitrags der Europäischen Gendarmerie-Truppe zu dieser Mission und des Beitrags der Polizeimission der Europäischen Union (EUPOL Afghanistan) sowie des Deutschen Polizei-Projekt-Teams, stellt fest, wie wichtig eine fähige Polizei in ausreichender Stärke für die langfristige Sicherheit Afghanistans ist, begrüßt die Zehnjahresvision für das Innenministerium und die Afghanische Nationalpolizei, einschließlich der Verpflichtung, eine wirksame Strategie zur Koordinierung einer verstärkten Rekrutierung, Bindung, Ausbildung und Kapazitätsentwicklung von Frauen in der Afghanischen Nationalpolizei sowie zur Förderung der Umsetzung ihrer Strategie zur Integration einer Gleichstellungsperspektive zu entwickeln, und begrüßt die fortgesetzte Unterstützung der UNAMA für Polizistinnen-Vereinigungen; (…)“
(7) Afghanistan jenseits des deutschen Tellerrands: zum Beispiel Helmand
Spiegel online 21.12.2015 „Die südafghanische Provinz Helmand steht offenbar kurz vor dem Fall an die radikalislamischen Taliban. Mohammed Dschan Rasuljar wandte sich am Sonntag per Facebook an Präsident Aschraf Ghani. "Ich kann nicht länger schweigen", schrieb der hohe Provinzbeamte. "Helmand steht kurz vor dem Fall. 90 Männer sind bei Kämpfen mit den Taliban in den vergangenen zwei Tagen getötet worden."
Rasuljars Warnung wirft ein Schlaglicht auf die dramatische Sicherheitslage in Teilen Afghanistans ein Jahr nach dem Ende des internationalen Kampfeinsatzes. Und sie erinnert an die Eroberung der nördlichen Stadt Kundus im September - die von den Taliban überrannt worden war. Die Regierungskräfte konnten die Stadt damals allerdings nach wenigen Tagen wieder unter ihre Kontrolle bringen.
In seinem Facebook-Eintrag forderte der Vizeprovinzgouverneur sofortige Verstärkung aus der Hauptstadt Kabul. Ihm sei es nicht gelungen, den Präsidenten über andere Kanäle zu erreichen, beklagte Rasuljar. Er warf Ghani vor, die bedrohliche Lage in Helmand herunterzuspielen. Örtliche Behördenvertreter bestätigten seine Angaben, wonach die Taliban auf dem Vormarsch seien.
Helmand ist eine der größten Provinzen des Landes. In die Kämpfe dort sollen laut Medienberichten auch amerikanische und britische Spezialkräfte involviert sein. Experten zufolge konzentrieren sich die Taliban auf die Eroberung der Provinz, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Helmand ist das Zentrum der Opiumproduktion. (…)
TOLOnews und CNN 21.12.2015: Der Distrikt Sangin sei überwiegend in den Händen der Aufständischen, so auch mehrere Regierungsgebäude. Regierungskräfte seien auf den Compound des Polizeichefs und den Stützpunkt eines ANA-Bataillons zurückgedrängt. Laut Polizeichef habe es schwere Verluste gegeben und sei die Munition fast aufgebraucht. Am Tag zuvor sei der Distrikt Greshk an die Aufständischen gefallen.
Longwar-Journal 21.12.2015: Von 13 Distrikten seien fünf unter Taliban-Kontrolle (Nowzad, Musa Qala, Baghran, Dishu, Sangin), fünf hart umkämpft. (Landesweit seien 40 Distrikte, 10% aller Distrikte, unter Taliban-Kontrolle und 39 umkämpft). Im letzten Monat ergaben sich 65 Soldaten und mehrere ihrer Offiziere den Taliban, nachdem ihr Außenposten über Wochen belagert worden war und keine Verstärkung und Nachschub erhalten hatte. Allein in und um Sangin seien seit 2006 mehr als hundert britische Soldaten gefallen. http://www.longwarjournal.org/archives/2015/12/taliban-controls-or-contests-nearly-all-of-southern-afghan-province.php
In der New York Times vom 22.12.2014 berichtete Rod Nordland über die dreitägigen Kämpfe Ende November im früheren Camp Bastion. Den britischen Hauptstützpunkt in Helmand hatten die letzten britischen und US-Truppen einen Monat zuvor verlassen. In den jetzigen Camp Shorab Maidan befindet sich das Hauptquartier des 215th ANA-Corps. Den Aufständischen war es gelungen, das Camp zu infiltrieren. Zwischen Juni und November fielen über 1.300 afghanische Soldaten und Polizisten in einer Provinz, die doppelt so groß wie Brandenburg ist und aus fruchtbaren Flusstälern und Wüste besteht! Die härtesten Kämpfe liefen in Sangin (67.000 Einwohner, 508 km2), wo die Aufständischen innerhalb einer Meile um das Distriktzentrum standen. Polizisten berichteten, dass hier nur noch die asphaltierte Straße unter Kontrolle der Regierungskräfte gewesen sei. Ein jüngster Bericht von „Coffey International Development“ komme zu dem Ergebnis, dass sich seit dem Abzug der internationalen Kräfte Korruption, Sicherheit und öffentliche Dienstleistungen verschlechtert hätten. 2010/11 standen in Helmand mehr als 40.000 ausländische Soldaten.
(http://www.nytimes.com/2014/12/23/world/taliban-push-into-afghan-districts-that-us-had-secured.html )
Neuerscheinung im April 2014 „An Intimate War – An Oral History oft he Helmand conflict 1978- 2012“ von Mike Martin, Hauptmann der Reserve der britischen Streitkräfte. Der Paschtu-Kundige war zwei Jahre als Offizier in Helmand, entwickelte die britische Human Terrain und Cultural Capability und war Berater einiger Kommandeure der Task Force Helmand. Auf Basis von 150 Interviews vor Ort kam er zu dem Ergebnis, dass die britische Armee die Konflikte in Helmand schlichtweg nicht verstanden hätte. Insbesondere die Wahl von Helmand als zentrales britisches Einsatzgebiet kritisiert er. Hier hätten britische Soldaten im 19. Jahrhundert Kriegsverbrechen begangen. Als die britischen Streitkräfte im Mai 2006 nach Helmand kamen, hätte man nur den Auftrag gehabt, die Regierung zu unterstützen und Taliban zu bekämpfen. Wer aber genauer „die Regierung“ und „die Taliban“ gewesen seien, habe man nicht gewusst. Ohne Vorstellung von Aufbau und mit massiven Luftangriffen habe man die Menschen gegen sich aufgebracht. (Beispiel das verwüstete Now Zad 2007). Ein Mangel an Sprachkenntnissen hätte es ermöglicht, dass die britischen Streitkräfte in Helmand immer wieder von einzelnen Fraktionen und Machthabern für ihre Interessen vereinnahmt worden seien. Das britische Verteidigungsministerium versuchte das Erscheinen des Buches und seine Präsentation im traditionsreichen „United Royal Services Institute“ zu verhindern. Unter Verteidigungsminister Philip Hammond, der gerade zum Außenminister ernannt wurde, soll das britische Verteidigungsministerium eine extensive Pressezensur praktiziert haben. Im Afghanistaneinsatz kamen 448 britische Soldaten ums Leben, die meisten von ihnen in Helmand. (FAZ 10. April 2014)
[1] Zur Afghanistan-Bilanz und Beratungsmission „Resolute Support“ – meine „Persönliche Erklärung zur Abstimmung“, 30.12.2014, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1333
[2] Zu Hoffnungszeichen sogar aus Kunduz vgl. Meldungen am 13.12.2015 unter http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1381
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: