Den Beitrag verfasste ich am 6. Juli. Im Mai und Juni, den ersten beiden Monaten des Truppenabzuges gab es genau so viele Ziviltote und -verletzte wie in den ersten vier Momnaten des Jahres. Danach eroberten die Taliban landesweit immer mehr Distzrikte und Grenzstationen. Am 5. August begann die Offensive gegen die Provinzhauptstädte, die in schneller Folge und oft ohne Gegenwehr fielen. Schon am 10. Tag ergab sich die Regierung in Kabul und floh der Präsident.
Politisch dranbleiben und Partner nicht im Stich lassen –
Lehren aus dem Afghanistaneinsatz nach dem Truppenabzug
von Winni Nachtwei
(erschienen im forumZFD MAGAZIN 3/2021, Stand
Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 waren die Staatenwelt und wir in der rot-grünen Koalition gefordert, die eigenen Bevölkerungen vor unabsehbaren weiteren Terroranschlägen zu schützen: durch unmittelbare Gefahrenabwehr wie durch breite Terrorprophylaxe insbesondere in Afghanistan.
20 Jahre später ist unübersehbar: Der internationale, militärische wie zivile Afghanistaneinsatz hat seine wesentlichen strategischen Ziele verfehlt. Ein Abrutschen in einen entfesselten Bürgerkrieg, der auch wichtige Teilfortschritte zunichtemachen würde, ist möglich.
Über die Jahre habe ich vor allem auf der politisch-strategischen Ebene erschreckend viel Lernverweigerung, Wunschdenken und Schönrednerei erlebt – auch wenn sich vor allem vor Ort einzelne Akteure bemüht haben, aus Erfahrungen zu lernen.
Aus meiner Sicht sollten wir drei Lehren aus dem Einsatz ziehen.
Erstens: Von Anfang an müssen bei Kriseneinsätzen fundiertes Konfliktverständnis, politische Konfliktlösung und local ownership höchste Priorität haben. Daran mangelte es beim internationalen Afghanistaneinsatz. Vor allem die USA blockierten lange Verhandlungen mit den Taliban.
Zweitens: Solche Krisenengagements im Auftrag der Vereinten Nationen brauchen eine kohärente Strategie mit realistischen, überprüfbaren Zielen und ausgewogenen Fähigkeiten, also viel mehr zivilen Kräften, brauchen. Wirkungsorientierung muss an die Stelle von Symbolpolitik treten und darf nicht immer wieder innenpolitischem Opportunitätsdenken zum Opfer fallen.
Drittens: Eine Politik, die für gemeinsame und menschliche Sicherheit wirken will, muss als Erstes dem üblichen Trend widerstehen, dass mit einem Truppenabzug erst die mediale Aufmerksamkeit, dann auch jede internationale Unterstützung schwindet. Politisch dranbleiben ist die dritte Lehre. Das gilt gerade jetzt!
Deutsche Mediationsexperten der Berghof-Foundation spielen seit längerem bei den Doha-Gesprächen eine konstruktive Rolle. Zugleich sind alle Zipfel an Friedenschancen zu stärken. Hoffnungsinseln zivilgesellschaftlicher Projekte müssen nach Kräften am Leben gehalten werden, wo möglich auch durch Arrangements mit pragmatischeren Taliban.
Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen deutsch-afghanischen Freundschaft sollte Deutschland seine besonderen Wirkungschancen viel besser nutzen.
Die Aufgaben und Bedeutung der politische UN-Mission in Afghanistan nehmen voraussichtlich erheblich zu. Hier ist eine stärkere personelle Unterstützung aus Deutschland angesagt.
Afghanische Ortskräfte, die für deutsche Ministerien gearbeitet haben, dürfen nicht im Stich gelassen und ihren Verfolgern ausgeliefert werden. . Sie sollten in Deutschland Aufenthalt erhalten.
Überfällig ist, die Wirkungen des Einsatzes und nationaler Beiträge unabhängig, akteursübergreifend und selbstkritisch zu analysieren. .
Ratlos bin ich zu der Schlüsselfrage, was Deutschland und die Europäische Union zur akuten Bürgerkriegsprävention beitragen können, nachdem der faktische Einsatzabbruch die Rutschbahn Richtung Bürgerkrieg geschmiert hat. Dieses Dilemma ist in der aktuellen Diskussion um den Vollabzug null Thema. Der zentrale friedenspolitische Ansatz der Gewaltprävention interessiert zurzeit offenbar nicht.
Winni Nachtwei war von 1994 bis 2009 Abgeordneter im Deutschen Bundestag und ist Mitglied des forumZFD wie des Beirat Zivile Kriasenprävention und Friedensförferung der Bundesregierung. Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung,
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: