Was ist, wenn der abgewählte US-Präsident sein Interesse an "Nach mir die Sintflut" bei Afghanistan auf den letzten Metern in die Tat umsetzt? Dazu anlässlich der NATO-Außenminister-Konferenz die Tagesthemen, wo die NDR-Korrespondentin Ariane Reimers u.a. auch mich befragte. Ich mache aus diesem Anlaß auf den Berufsbildungscanpus Takhta Pul bei Mazar aufmerksam: Die drei beruflichen Schulen wurden mit deutscher Unterstützung errichtet und ausgestattet. Es sind Musterbeispiele nachhaltiger Entwicklung, die bis heute störungsfrei arbeiten konnten.
„Wie geht es weiter mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan?“
ARD-Tagesthemen 01.12.2020 mit Stellungnahme von mir
(Ab Min. 19:54; ab 20:57 Ariane Reimers; ab 22.24 Nachtwei) https://www.daserste.de/information/nachrichten-wetter/tagesthemen/videosextern/tagesthemen-17012.html
(Fotos www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Ingo Zamperoni:
„Nicht erst seit seinem Besuch in Afghanistan genau vor einem Jahr zum traditionellen Thanksgiving Fest pocht US-Präsident Trump darauf, amerikanische Truppen nach Hause zu holen. Das war auch im Wahlkampf 2016 eines seiner Versprechen, das er nun auf den letzten Metern so wahr wie möglich machen will. Doch Trumps plötzliche Ankündigung vor zwei Wochen, die US-Präsenz in Afghanistan bis Weihnachten deutlich reduzieren zu wollen, erwischte die NATO und Partner auf dem falschen Fuß und war somit eines der Themen bei den Beratungen der NATO-Außenminister heute. Was auch die Bundeswehr brennend interessiert und man fragt, wie soll es ohne die USA für unsere Soldaten am Hindukusch weitergehen. Ariane Reimers berichtet.
Ariane Reimers (NDR-Korrespondentin, ARD-Hauptstadtstudio):
US-Soldaten beim Abzug aus Afghanistan. Mitte November hatte US-Präsident Trump den Teilrückzug angeordnet. Für die NATO-Verbündeten und für die Bundeswehr ein Problem, denn ihre Sicherheit hängt an Fähigkeiten der USA. Nach Joe Bidens Wahl gibt es allerdings wieder Hoffnung auf ein gemeinsam abgestimmtes Vorgehen.
Außenminister Heiko Maas:
Nach den Gesprächen, die wir geführt haben und den Hinweisen, die wir haben, glaube ich, wird es möglich sein, sich auch militärisch innerhalb der NATO so abzustimmen, dass es eben nicht zu einem überstürzten Verlassen von Afghanistan kommt.
Reimers:
Die Bundeswehr ist im Norden von Afghanistan im Einsatz. Ihre Aufgabe ist die Beratung und Schulung der afghanischen Armee. Im Moment steht alles auf dem Prüfstand. Was nicht unbedingt gebraucht wird, geht schon jetzt zurück nach Deutschland.
Brigadegeneral Ansgar Meyer, Kontingentführer in Mazar-i Sharif:
Weil wir nicht naiv sind und natürlich die politische Entwicklung sehen und auch die Entwicklung bei unsrem amerikanischen Partner. Parallel haben wir eine Organisation aufgebaut, die es uns ermöglichen würde, nach einer politischen Entscheidung, das Kontingent auch so schnell wie möglich nach Deutschland zurückzubringen.
Reimers:
Seit 19 Jahren ist die Bundeswehr in Afghanistan. Am Anfang standen Terrorbekämpfung und Stabilisierung, dann der Wiederaufbau. Die Bundeswehr habe viel Gutes erreicht. Aber vielleicht seien manche Politiker der Illusion erlegen, man könne in Afghanistan eine westliche Demokratie errichten, so der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes:
Oberstleutnant Andre Wüstner:
„Ziele wurden dann verändert, aber es wurden dabei auch Fehler begangen, in der Ausrichtung des Mandats, in der Ausrichtung des Einsatzes. Dass man diese aufarbeitet, bei allen Erfolgen, die wir erreicht haben, das ist der Kernwunsch unserer Soldatinnen und Soldaten.
Reimers:
So sieht es auch Winfried Nachtwei, langjähriger Verteidigungspolitiker der Grünen:
Winfried Nachtwei:
Jetzt ist es dringend erforderlich, dass wir als Politik selbst auch unseren Einsatz in Afghanistan sehr selbstkritisch reflektieren und endlich daraus lernen.
Reimers:
In Afghanistan steht vieles auf dem Spiel, im Bildungswesen, im Gesundheitssystem, bei den Frauenrechten. Ein überstürzter Rückzug würde nur den Taliban nutzen, so die Experten. Und auch für die Bundeswehr wäre ein schneller Abzug schmerzhaft, besonders für die Verwundeten und Hinterbliebenen der über 50 gefallenen Soldaten.
Nachtwei:
Die darf man in dieser Situation nicht allein lassen. Denn es gibt jetzt, es gäbe jetzt einen nachtäglichen krassen Sinnverlust des ganzen Einsatzes. Und dazu muss gesprochen werden und nicht, wie üblich, die Klappe gehalten werden.
Reimers:
Der Abzug der Bundeswehr wird kommen. Wie der Einsatz im Gedächtnis bleibt, wird auch an den Umständen seines Endes gemessen werden.“
Kernaussagen, die ich im Hinterkopf hatte und zum Teil beim mehr als zehnminütigen Vorabinterview angesprochen habe.
Schneller Komplettabzug?
- Die Bundeswehr muss sich auch auf ein solches Worst-Case-Szenario einstellen.
- Aber es wäre ein Schlimmstfall für den noch schwachen Verhandlungsprozess: Stärkung der Taliban, Schwächung der afghanischen Regierung und Zivilgesellschaft. Er könnte der Türöffner Richtung offener Bürgerkrieg werden.
- Es wäre Beihilfe zu Trump`s Politik von „Nach mir die Sintflut“ und eine verschärfte Neuauflage der Abzugsillusion von 2014, wo der politisch terminfixierte Abzug von ISAF keine Rücksicht auf die realen Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte nahm und mit einem Anstieg der Zivilopfer seit 2014 um 20% seitdem einherging.
„Kleine Bilanz“?
Eine Bilanz fällt je nach Perspektive und Maßstab sehr unterschiedlich aus:
- Aus der Ferne und gemessen an den hohen Zielen des Einsatzes (Überwindung von Terrorismus, sicheres Umfeld, verlässliche Staatlichkeit, Reduzierung von Armut) wurden diese nicht erreicht.
- Aus der Sicht vieler Afghanen mit der Erfahrung ihrer Familien mit über 40 Jahren Gewalt, Krieg, Terror gibt es trotz aller Kritik an eigenen Regierenden und extremer Korruption wichtige Fortschritte seit 2002: in öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Grundbildung, Strom- und Trinkwasserversorgung, Menschen- und Frauenrechten. Medienvielfalt. Die langjährige Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans, Sima Samar, betonte die Fortschritte bei Menschen- und Frauenrechten, Kampf gegen die Folter, Medien bei der kürzlichen, virtuellen 34. Afghanistan-Tagung von Villigst.
- Eine Meta-Review von 148 internationalen Evaluationen zu internationaler Entwicklungs-zusammenarbeit in Afghanistan 2008-2018 kam zu dem Ergebnis: Beachtliche Erfolge habe es beim Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung, Grundbildung, Elektrizität und sauberem Trinkwasser, Wiederaufbau von Straßen und Brücken, rudimentären staatlichen Dienstleistungen gegeben. Kleine Infrastruktur und Ausbildung hätten die Lebensgrundlagen in ländlichen Gemeinden verbessert. „Am besten funktioniert haben bescheidene, lokal eingebettete Projekte mit unmittelbarem, greifbaren Nutzen für die Bevölkerung.“
Die „meisten der ehrgeizigeren Ziele wurden verfehlt. Die internationale Gemeinschaft hat wiederholt überschätzt, was sie selbst und ihre afghanischen Partner leisten können, um einen raschen sozialen Wandel herbeizuführen. Komplexe Projekte, die auf wirtschaftliche Entwicklung, Verhaltensänderungen, den Aufbau institutioneller Kapazitäten in der afghanischen Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit oder Gender abzielten, waren seltenerfolgreich.“ (Thomas Feidieker, PeaceLab-Blog https://peacelab.blog/2020/06/afghanistan-der-ansatz-viel-hilft-viel-ist-gescheitert )
- Überfällig ist eine systematische, ressortübergreifende, selbstkritische und unabhängige, Bilanzierung und Wirkungsanalyse (Evaluation) des deutschen Afghanistaneinsatzes und –engagements. Sie wurde in Deutschland seitens der Bundesregierung über Jahre verweigert. (Die Fortschrittsberichte Afghanistan der Bundesregierung, die 2010 bis 2014 erschienen, waren Schritte in die Richtung, aber noch keine wirkliche Evaluation, wie sie andere Länder wie Norwegen, Niederlande, USA mit den SIGAR-Reports zustande brachten.)
Diese Verweigerung von Wirkungsanalyse ist nach meiner Erfahrung Ausdruck einer mangelhaften Wirkungsorientierung auf politisch-strategischer Ebene. Wo Bündnisloyalität gegenüber den USA für die politischen Spitzen ausschlaggebend war und Afghanistan selbst nur nachrangig interessierte, musste es primär um verlässliche Beiträge gehen. ( http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1479 ) Eine ehrliche und selbstkritische Wirkungsbeobachtung konnte da schnell zu einem Störfaktor werden und zudem die Zustimmung des Bundestages gefährden.
- Hochachtung und Anerkennung verdienst hingegen der – zum Teil opferreiche - Einsatz und die Leistung der Frauen und Männer, die im Rahmen des deutschen Afghanistanengagements von Bundesregierung, Bundestag und (nicht-)staatlichen Organisationen als Diplomaten, Soldaten, Zivilexperten und Polizeiberater nach Afghanistan entsandt wurden. Vielen Hunderten bin ich vor Ort oder nach ihr Rückkehr begegnet.
Konkretes Positivbeispiele für lokal eingebettete, erfolgreiche Projekte
Das Programm Technische und berufliche Bildung (TVET) in Kabul und Nordafghanistan, seit 2011 gefördert von der Kreditanstalt für Wiederaufbau/KfW in Kooperation mit PEM Consult:
- Technical Vocational Education Academy/TVEA in Kabul seit 2014, für 720 Schüler, zzt. 380
- Agricultural Veterinary Institute/AVI in Kunduz für 800 Schüler, zzt. 680
- Technical / Mechanical & Accounting / Commerce / TMAC in für 720 Schüler, zzt. 680Taloqan
Bisher größtes Projekt der TVET Campus Takhta Pul bei Mazar
- Agricultural Veterinary Institute / AVI für Landbau und Tierhaltung für 720 Schüler, aktuell 780 in zwei Schichten
- Technical Vocational Education Academy für 720 Schüler, mit bis zu fünfjähriger Ausbildung, aus der auch Beufsschullejhrer hervorgehen sollen, zzt. 480
- Balkh Engineering Institute für 720 Schüler, zzt. 570
Von den insgesamt 3.300 Studierenden sind 540 Frauen. Für 1.200 stehen Unterkünfte zur Verfügung.
Projektiert ist der Bau von weiteren drei berufsbildenden Schulen in Samangan für 1080 Schüler, in Fayzabad/Badakhshan für 720 Schüler und im oberen Panshjirral für 720 Schüler.
Den TVET Campus Takhta Pul besuchte ich 2015. Seitdem verfolge ich aus der Ferne seine Entwicklung. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1345 )
Bei meinem letzten Besuch in Mazar im Oktober 2019 stellte sich beim Sicherheitsbriefing heraus, dass der Raum westlich Mazar, also auch die Gegend von Takhta Pul, von Taliban kontrolliert wurde. Takhta Pul Kundige berichteten, dass Taliban in die Dörfer eingesickert seien und viele Schüler aus Dörfern mit Taliban kämen. Der Campus habe aber eine hohe Akzeptanz und arbeite weiterhin ungestört. Die Taliban wollen wohl nicht die Sympathien der Bevölkerung verscherzen und als Zerstörer auftreten. Nach aktueller Information arbeiten die drei Schulen des Campus auch im Frühwinter 2020 weiterhin völlig ungestört. Das Hauptrisiko seien Kriminelle.
Der TVET Campus Takhta Pul scheint mir ein bestes Beispiel für ein
- von den Bedürfnissen vor Ort ausgehendes, lokal eingebettetes Projekt mit greifbarem Nutzen für die Bevölkerung zu sein,
- mit realistisch umsetzbaren Zielen, erheblicher Reichweite und Wirksamkeit.
Indem hier handfeste berufliche Perspektiven für tausende jüngerer Leute geschaffen werden, ist Takhta Pul viel mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Hier wird offenkundig erfolgreich Hilfe zur Selbsthilfe erfolgreich in die Tat umgesetzt und nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit geleistet.
Von erheblicher Bedeutung ist bei alledem die Kontinuität auf Seiten des deutschen Projektteams, wo wichtige Mitarbeiter seit 2011 dabei sind. In der Zeit konnte gegenseitiges Vertrauen wachsen.
03.12.2020, Winfried Nachtwei
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: