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Erinnerungsarbeit
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Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga

Veröffentlicht von: Webmaster am 1. Oktober 1993 13:51:05 +02:00 (18549 Aufrufe)
U. Bardelmeier/ A. Schulte Hemming (Hg.)

Mythos Münster
Schwarze Löcher - Weiße Flecken

Wir danken
Mythos Münster e.V., dem Stadtarchiv Münster, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Nordrhein-Westfalen-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege
für ihre finanzielle Unterstützung des Buches.

Mythos Münster, hrsg. von U. Bardelmeier und A. Schulte Hemming
1. Auflage, Oktober 1993
ISBN 3-928300-15-6
© UNRAST - Verlag, Münster
Umschlaggestaltung: On-Line-Design, Sybille Kunklei, Offenhach
Satz: UNRAST-Verlag, Münster
Druck: DruckWerkstatt Hafen GmbH, Münster

Winnie Nachtwei

Nachbarn von nebenan - verschollen in

Riga

Auf den Spuren der nach Riga deportierten westfälischen Juden

Ein heißer Juni-Nachmittag im Jahre 1992: An der Nordostecke Warendorfer Straße/Kaiser-Wilhelm-Ring drängen sich Menschen, eine Gedenktafel wird enthüllt. Sie erinnert an zwei Tage im Dezember 1941, als im Saal des damals hier stehenden Lokals "Gertrudenhof " 403 jüdische Frauen, Kinder und Män­ner aus dem Münsterland zusammengepfercht wurden und auf ihre "Evakuie­rung zum Arbeitseinsatz im Osten" warteten. Am Vormittag des 13. Dezem­ber verließ der Zug mit den "Evakuierten" den Güterbahnhof Münster Rich­tung Riga: Die systematische Verschleppung und Ermordung der westfälischen Juden nahm damit ihren Anfang. Jahrzehntelang war das weitgehend verges­sen und verdrängt. Nun, mehr als 50 Jahre danach, wird die Erinnerung an den Beginn der Deportation sichtbar gemacht.

Münster im Kriegseinsatz

Aus der Stadt des "Westfälischen Friedens" kamen bedeutende Beiträge zum Krieg. An einzelnen Gebäuden wird das exemplarisch deutlich: Generalkommando des VI. Armeekorps (heute I. Korps) am Hindenburgplatz, Sitz des Befehlshabers im Wehrkreis VI, der das Rheinland und Westfalen umfaßt. Die elf bisher im Wehrkreis aufgestellten Divisionen kämpfen an allen Abschnitten der Ostfront: die 16. Panzerdivision (Münster) im Donezbecken; die 6. Infanteriedivision (Bielefeld, Minden, Osnabrück) nördlich Moskau im Rahmen des VI. Armeekorps (bis 1939 Stab in Münster) unter Befehl des General Förster, 1938 - 1941 Kommandierender General in Münster. Sein Münsteraner Vorgänger ist Generalfeldmarschall von Kluge, jetzt Befehlshaber der 4. Armee, die gerade im letzten Sturmangriff auf Moskau steht; schließlich die 6. Panzerdivision (Sennestadt) nach dem Vonnarsch durch's östliche Lettland Rich­tung Leningrad nun nordwestlich vor Moskau, inzwischen fast ohne Panzer.

Hinter den Soldaten liegen fünf Monate eines beispiellosen Krieges - an der Front und vor allem hinter der Front. Seit Hitlers Rede vor 250 Generälen am 30. März 1941 war den militärischen Führern klar, daß der Krieg gegen<sub>,</sub> die Sowjetunion als "Vernichtungskampf" gegen den 'jüdischen Bolschewismus" zu führen war, wobei vom "Standpunkt des soldatischen Kameradentums " abgerückt werden müsse.1 Die Wehrmachtsführung setzte die Vernichtungsi­dee in konkrete Befehle um. Der Wehrmachtsbefehlshaber Ostland, General Braemer am 25.9.1941: "Versprengte (...) bolschewistische Soldaten ('...), kommunistische und sonstige radikale Elemente, Juden und judenfreundliche Kreise" seien "unschädlich zu machen".2

Kaiser-Wilhelm-Ring 28, Sitz des Befehlshabers der Ordnungspolizei im Wehrkreis VI, Dr. Lankenau. Hier werden Polizeibataillone für den "Ostein­satz" aufgestellt (bis zum Kriegsende 22), darunter das Polizeibataillon 309 (Köln): Auf sein Konto geht die Verbrennung von 700 Juden in der Synagoge von Bialystok am 27.6.1941.3

Gutenbergstraße 17, Gestapo-Leitstelle (heute Polizei-Schutzbereich Südost): Ab 1938 war Karl Jäger Leiter des SD-Leitabschnitts Münster. Als SS-Stand­artenführer befehligt er ab Sommer 1941 das Einsatzkommando 3 von Sicher­heitspolizei und SD in Litauen. Bis Ende November meldet er stolz nach Ber­lin - detailliert auf sieben Seiten aufgelistet - 133.346 vom EK 3 durchgeführte Exekutionen: "Ich kann heute feststellen, daß das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen, vom EK. 3 gelöst ist. "4

Am 7. November 1941 erlebt Münster den 12. Luftangriff des Jahres, er fordert 10 Tote.

In den internen Berichten der NS-Behörden sind die Predigten des Bischofs von Galen vorn Juli und August gegen die Willkür der Gestapo weiter ein Hauptthema, zumal sie im englischen Rundfunk gesendet und als Flugblätter abgeworfen worden sind. So sind die Münsteraner alle mehr oder weniger in den Krieg verwickelt: als Mitmarschierer, Mittäter, Opfer, begeistert, pflicht­bewußt, trauernd. Für die meisten sind die jüdischen Münsteraner längst aus den Augen und aus dem Sinn.

Keine Nachbarn mehr

Die Weinbergs waren eine alte Münsteraner Familie. Vater Josef, im 1. Welt-krieg bei der Kavallerie, betrieb in der Sonnenstraße 80 ein Geschäft für "Alte Moebel, Militär-Effekten".5 Hausarzt Dr. Vonnegut, der bei der Geburt von acht Weinberg-Kindern geholfen hatte, stellte 1935 seine Dienste ein. Wirt­schaftliche Schikanen zwangen die Familie, in die Gereonstraße 21 umzuzie­hen. Bertha, Irma und Rudi Weinberg gelang 1938 die Auswanderung in die USA. Der 20jährige Siegfried erhielt bei Kriegsbeginn beim britischen Kon­sulat in Köln kein Visum mehr.

1933 zählte die jüdische Gemeinde Münsters 484 Mitglieder. Bis 1939 fanden 280 Zuflucht in 20 Ländern. Längst waren diejenigen, die sich so sehr als Deutsche und Münsteraner jüdischen Glaubens gefühlt hatten, entrechtet, ent­eignet, beleidigt, gedemütigt: "Paddeln auf der Werse für Juden verboten", "Juden in den Baumbergen unerwünscht". Die Reichspogromnacht markierte den Übergang zum offenen Terror.

Anfang 1939 wurden alle jüdischen Schulkinder von den Schulen verwiesen. Ihnen blieb nur noch die jüdische Volksschule in der Marks-Haindorf-Stiftung (Kanonengraben). Die ca. 25 Kinder kamen auch aus Wolbeck, Telgte, Len­gerich - Irmgard Heimbach und Ewald Aul aus Osnabrück. Im Sommer 1939 erreichte die Ausgrenzung der noch ca. 205 in Münster lebenden Juden mit ihrer Zusammenlegung in 14 "Judenhäusern" einen weiteren Höhepunkt

Korrekte Abwicklung

Mit Schnellbrief vom 24.10.1941 teilte der Chef der Ordnungspolizei in Berlin den Polizeibehörden die beabsichtigte "Evakuierung" von 50.000 Juden aus Deutsch­land, Österreich und der Tschechoslowakei "in die Gegend um Riga und um Minsk" mit. Die Transportzüge von je 1000 Personen "werden in Berlin, Hamburg, Hanno­ver, Dortmund, Münster, Düsseldorf (..) zusammengestellt."6 Es ist der zweite Deportations"schub" von Reichsjuden in den Osten, der erste ging mit 20.000 Men­schen ab Oktober in das Ghetto Lodz/Litzmannstadt im besetzten Polen.

Das Amt IV, B 4 des Reichssicherheitshauptamtes unter SS-Obersturmbann­führer Eichmann legte die Auswahlkriterien und Zeiten fest, die Gestapo-(Leit)Stellen sorgten für die Umsetzung, aber keineswegs allein. Erhalten ist die Niederschrift einer Besprechung am 19.11.1941, an der unter Leitung des stellvertretenden Gauleiters Strangier u.a. teilnahmen: Oberregierungsrat Heising (Oberfinanzpräsidium), Oberregierungsrat von Hoffmann (Oberpräsidi­um), Dr. Busse als zuständiger Sachbearbeiter der Gestapo, Polizeipräsident Heider, NSDAP-Kreisleiter Mierig, Oberbürgermeister Hillebrand und der Städtische Rechtsrat Wilhelm Sasse.7 Letzterer war seitens der Stadt für die Bearbeitung sämtlicher Fragen im Zusammenhang mit der "Evakuierung" zuständig. Im Mittelpunkt stand die "ordnungsgemäße Verwertung " der frei werdenden jüdischen Wohnungen und des jüdischen Eigentums. Das städti­sche Wirtschaftsamt übernahm die zurückgelassenen Gegenstände.

"Evakuierung"

Ruth und Siegfried Weinberg wurden am 18. November von der Gestapo über ihre "Evakuierung" am 13. Dezember benachrichtigt. Detailliert wurde vorge­schrieben, was pro Person mitgenommen werden mußte (Zahlungsmittel bis 50 RM in Reichskreditkassenscheinen, ein Koffer, Bettzeug mit Decken, Ver­pflegung, Eßgeschirr mit Löffel), was nicht mitgenommen werden durfte (Wert­sachen jeder Art außer Ehering, Wertpapiere, Urkunden, Verträge, Messer, Gabel, Rasierzeug), was anheimgestellt war (z.B. Kanonenofen, Handwerks-zeug), insgesamt maximal 50 kg Großgepäck und Handgepäck.8

Am 11. Dezember wurden 105 jüdische Münsteranerinnen - von der 4jähri­gen Miriam Goldenberg bis zur 71jährigen Hedwig Probstein - verhaftet und im Saal des Lokals Gertrudenhof an der Warendorfer Straße eingesperrt. Hinzu kamen Juden aus Ahaus, Altenberge, Bocholt, Borghorst, Borken, Burg­steinfurt, Coesfeld, Drensteinfurt, Dülmen, Epe, Freckenhorst, Gescher, Groß Reken, Havixbeck, Herbern, Hopsten, Ibbenbüren, Laer, Lengerich, Lüdinghausen, Nienborg, Oelde, Raesfeld, Rhede, Rheine, Stadtlohn, Südlohn, Vre­den, Wadersloh, Werne, Werth, Wesecke, Wolbeck.9 Die Gestapo führte eine große Leibes- und Gepäckvisitation durch und beschlagnahmte Messer, Sche­ren, Rasierklingen und einen Teil der Lebensmittel und Wäsche.10

Der Sohn des damaligen Wirts, Heinz E., erinnert sich, daß die Menschen auf nacktem Boden schlafen mußten, daß seine Schwester dafür sorgte, daß in der Spülküche Gefangene mit Menschen von außerhalb reden konnten.11 Man glaubte allgemein, es gehe zum Arbeitseinsatz im Osten.

Am 12. Dezember gegen 23.00 Uhr begann der Abtransport zum Güterbahn­hof, geleitet von Dr. Bast von der Gestapo. Siegfried Weinberg berichtet:

"Ca. 35-40 Personen wurden in kleine Omnibusse mit Handgepäck hineinge­zwängt und zum (Güter-)Bahnhof befördert. (...) Noch hielt der Wagen nicht richtig, da wurden schon die Türen aufgerissen. Die Gestapo-Banditen fingern an zu rasen. `Verfluchte Hunde, seid ihr noch nicht raus, aber schneller, sonst hagelt es' usw. Die älteren Leute wurden natürlich aufgeregt, und wir Jungen war­fen unser Gepäck beiseite und halfen, was nur zu helfen war, doch die Schläge hagelten auf uns nieder. Aber willenlos mußten wir alles über uns ergehen lassen. "12

Um 10 Uhr morgens am 13. Dezember 1941 setzte sich der Zug in Bewegung. In Osnabrück kamen ca. 200 Menschen hinzu, in Bielefeld 400 aus dem Regie­rungsbezirk Minden. Um 15 Uhr verließ der Zug Bielefeld, bewacht von einem Begleitkommando der Ordnungspolizei in der Stärke ein Führer, 12 Mann. Die­ser ersten Deportation aus Münster folgten noch drei weitere: am 27.1. über Dort­mund nach Riga, am 31.3. nach Warschau, am 31.7.1942 nach Theresienstadt. Nur Henriette Hertz, ehemalige Schülerin des Annette-Gymnasiums und Toch­ter des Rechtsanwalts Dr. Albert Hertz, konnte 1942 noch untertauchen. Sie überlebte in der Illegalität.13 Am 15. Dezember gegen 23 Uhr traf der Zug aus Westfalen im Rangierbahnhof Skirotawa südöstlich von Riga ein. Es lag tiefer Schnee.

Warum nach Riga?

Über Jahrhunderte war die Geschichte Lettlands durch die Vorherrschaft frem­der Mächte geprägt (vor allem Deutsche, aber auch Schweden, Rußland). Der Prachtbau der "Große Gilde" (Zusammenschluß der Rigaer Kaufleute) mit der "Stube von Münster", die Altstadt und viele alte Bürgerhäuser repräsentieren die Schokoladenseite dieser Geschichte. In kurzer Folge wühlten Revolutio­nen (1905, 1917, 1919), Krieg (1917 deutsche Truppen in Riga) und Bürgerkrieg (1918-20) das Land auf. Deutsche "Baltikumskämpfer" betätigten sich ab 1918 reichlich in den rechtsextremen Freikorps. Die 1933 gegründete Orts­gruppe Münster sowie der Gau Westfalen des "Reichsverbandes der Balti­kumkämpfer" hatten ihren Sitz in der Aegidiistraße 60. Monatlich traf man sich auf dem Schießstand in Gievenbeck.

1920 entstand zum ersten Mal ein unabhängiger lettischer Staat, der ab 1934 autoritär regiert und am 14. Juni 1940 durch den Einmarsch der Roten Armee liqui­diert wurde. Im Juni 1941 erreichte die Sowjetherrschaft ihren traumatisierenden Höhepunkt: Eine Woche vor dem deutschen Angriff wurden 14.500 Menschen aus Lettland in die Sowjetunion deportiert, unter ihnen auch viele Juden; kurz vorm Rückzug der Roten Armee ermordete die sowjetische Geheimpolizei einen Großteil der Gefängnisinsassen, in Lettland nach Angaben von 1943 mehr als 900.

Als deutsche Truppen in den ersten Julitagen Lettland besetzten, als das west­fälische Panzerregiment 11 bei Livani/Lievenhof die Daugava/Düna überquerte, wurden sie von großen Teilen der Bevölkerung als "Befreier" mißverstanden und stürmisch begrüßt. Während des deutschen Einmarsches begannen einhei­mische Kräfte, mit den politischen Gegnern im eigenen Volk abzurechnen

Angehörige des Selbstschutzes, extrem nationalistische und antisemitische "Donnerkreuzler" (Perkonkrust) und vor allem das schnell wachsende Kom­mando des Polizeimajors Viktor Arajs verhafteten, quälten und erschossen tausende Menschen.14 Die direkt hinter den Fronttruppen vorrückende "Ein­satzgruppe A von Sicherheitspolizei und SD" ermutigte das Wüten und begann sofort, die systematische Vernichtung von mutmaßlichen Kommunisten und Juden, des "jüdischen Bolschewismus", zu organisieren.15 Das für Lettland zuständige, 170 Mann umfassende Einsatzkommando 2 stützte sich dabei auf das Kommando Arajs, die lettische Hilfspolizei, deutsche Ordnungspolizei, die Ortskommandanturen der Wehrmacht und die deutsche Zivilverwaltung.

Ca. 30.000 lettische Juden fielen allein im Sommer 41 der durch den deutschen Ãœberfall in Gang gesetzten Mordwelle zum Opfer.16 Die Ãœberlebenden wurden in mehreren Ghettos zusammengepfercht. In der Moskauer Vorstadt, einem alten Arbeiterviertel. entstand das Rigaer Ghetto, dessen Tore sich am 25. Oktober schlossen.

Die Deportationszüge aus dem "Großdeutschen Reich" waren angekündigt (ab 17.11.1941 jeden zweiten Tag), als der neue Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Ostland, Friedrich Jeckeln, von Himmler den Befehl zur "Ghetto-Li­quidierung" erhielt.17 Jeckeln, vor dem Krieg HSSPF West in Düsseldorf, 1941 HSSPF Rußland Süd und Organisator des Massakers von Babi Yar bei Kiew im September, sorgte für die Umsetzung des Befehls: Am 30. November und 8. Dezember 1941 werden in einer minutiös geplanten "Aktion" 27.500 Insas­sen des Ghettos erschossen - die meisten in großen Gruben bei der 8 km ent­fernten Bahnstation Rumbula, Hunderte noch im Ghetto oder auf dem Weg dorthin. Nur 4500 Männer und 300 Frauen, die vorher als "Arbeitsjuden" und Schneiderinnen aussortiert worden waren, entkamen dem Massaker.18

Nach Aussagen von Tatzeugen wimmelte es auf dem Erschießungsgelände regelrecht von Uniformierten: Den 10-15 Schützen sahen viele hundert zu, auch Wehrmachts- und Polizeioffiziere sowie Angehörige der Zivilverwaltung. Noch abends meldeten der sowjetische und der britische Rundfunk das Massaker, das auch in Riga tagelang Stadtgespräch war. Mit diesen Erfahrungen wurde Dr. Rudolf Lange, Führer des EK 2, als einziger hoher SS-Führer des Ostens zur Wannsee-Konferenz am 20.1.1942 hinzugezogen. Hier begegnete er Dr. Meyer, Staatsekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und Gauleiter Westfalen-Nord/Münster.

"Reichsjudenghetto"

Nachdem die Deportierten des ersten Zuges aus Berlin am Morgen des 30. November in Rumbula erschossen worden waren, nachdem die Insassen der vier nächsten Züge in das wenige Kilometer entfernte mörderische Lager "Jungfernhof" gekommen waren, war nun "Platz geschaffen" für die weiteren aus dem Reich anrollenden Züge. SS-Männer mit Hunden, Peitschen, Eisenstan­gen trieben am Morgen des 16. Dezember die Menschen aus dem "Bielefel­der" Zug durch den Schnee zum 5 km entfernten Ghetto.19 Dort waren schon Transporte aus Köln, Kassel und Düsseldorf angekommen. Bis Anfang Februar folgten je drei Transporte aus Berlin und Wien, zwei aus Theresienstadt, je einer aus Hannover, Leipzig und Dortmund. Weil die meisten der aus Westfalen Verschleppten in der Straße gegenüber dem alten jüdischen Friedhof einquar­tiert wurden, hieß diese Straße dann "Bielefelder Straße" bzw. Bezirk; um die Ecke lag dann die Dortmunder, Kölner, Düsseldorfer Straße (hierhin kam Fa­milie Goldenberg aus Münster), die Prager, Leipziger, Berliner Straße. Die Wohnbezirke bildeten 10 Gruppen, mit jeweils einem Ältestenrat, Proviant­meister und Leiter des Arbeitseinsatzes. Max Leiser aus Köln war Ghettoälte­ster, Vorsitzender des Ghettorates, dem einige "Zentralämter" (Arbeitseinsatz, Kleiderkammer) zugeordnet waren. Umgeben von einem ca. 3 m hohen, dop­pelt gezogenen Stacheldrahtzaun, bewacht durch deutsche Schutzpolizei und lettische Hilfspolizei entstand hier für 22 Monate das größte "Reichsjudeng­hetto" im ganzen Osten.

Die damals 14jährige Irmgard Heimbach wurde mit sieben anderen Osnabrückern in Raum 14 des Gebäudes B (Bielefelder) 7 einquartiert. Ihre ersten Eindrücke: "Es waren eingerichtete Wohnungen, aber in einem wüsten Durcheinander. Die Möbel und Kleidungsstücke waren durcheinandergeschmissen, die Töpfe standen auf dem Herd, das Essen auf dem Tisch. Allerdings waren die Speisen zu Eis gefroren "20 - Spuren des "Rigaer Blutsonntags".

"Die meisten Häuser befanden sich in einem äußerst baufälligen. Zustand, die Wohnungen waren verwahrlost, die hygienischen und sanitären Verhältnisse katastrophal." In einem Bericht der deutschen Gesundheitsbehörde vom 3.2.1942 wurden "sämtliche Wohnungen als so völlig verlaust und verwanzt bezeichnet, daß eine akute Seuchengefahr für- ganz Riga zu befürchten sei."21 Die Essensrationen reichten kaum zum Überleben: 100, maximal 200 g Brot pro Tag, zum Teil verschimmelt; gefrorene Kartoffeln, Kartoffelschalen, Fischköpfe, Bücklingsabfälle, Rhabarber- und Rote-Rüben-Blätter, Spinat- und Kohlabfälle, manchmal schon stinkend und verdorben. "Besonders die älte­ren Menschen starben an Hunger, Kälte und Krankheit." 22

Arbeitsfähige wurden auf die verschiedenen Arbeitskommandos verteilt: Frauen zum Schneeschaufeln in den Straßen Rigas, zu Aufräumungsarbeiten (Wilhel­mine Süßkind, damals Cohen aus Coesfeld), zur Reichsbahn (Mutter Heim­bach), später zur AEG und in andere Fabriken, Männer in den Exporthafen, zur SS, besonders viele bei der Wehrmacht. Schiffe entladen bei bis zu -40 Grad C ohne entsprechende Kleidung, bei einer Wassersuppe mit einem Kartoffel stückchen und vielleicht zwei Möhrenscheiben als tägliche Essensration - das war mörderisch.23

Zugleich waren Arbeitskommandos die erste Voraussetzung, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben: Vielleicht begegnete den Häftlingen ein Mensch, der ihnen was zusteckte, leichtere Arbeit gab: vielleicht ergab sich eine Tauschmöglichkeit. Der Soldat Josef R. aus Dülmen traf 1942 in Riga den Dül­mener Metzgermeister Jupp Salomon beim Schneeschippen, mit Lumpen an den Füßen und kaum noch wiederzuerkennen.24 Sprechen durften sie nicht miteinander. Der Soldat besorgte Butterbrote und ließ sie in Jupps Nähe fallen. Das wiederholte sich am nächsten Tag. Danach sah Josef R. den Dülmener nie mehr wieder.

Wehe, jemand wurde mit Getauschtem ertappt! Julie Salomons aus Münster, 46 Jahre, arbeitete bei der "Heeresbekleidung" und hatte von dort Socken mit­gebracht.25 Bei der abendlichen Kontrolle am Ghettotor wurden die Socken bei ihr entdeckt, sie kam ins Ghettogefängnis. Kommandant Krause, der of­fenbar einen "guten Tag" hatte, entließ sie. Auf Befehl des Kommandeurs der Sicherheitspolizei Dr. Lange wurde sie wieder verhaftet. Irmgard Heimbach sah aus ihrem Zimmer in B 7, wie Frau Salomons von Krause, seinem Adjutan­ten Gymnich und Ghettopolizisten über die Bielefelder Straße zum alten jüdi­schen Friedhof geführt wurde. Kurz darauf hörte sie die Schüsse. Die Tochter

Selma lief schreiend aus B 7 hinter ihrer Mutter her, wurde bald aber wieder zurückgebracht.

Frau Salomons starb an dem Ort, wo Kommandant Krause fast täglich 1-3 Menschen per Genickschuß ermordete.26 Lilo Stern aus Münster: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich immer, wenn Krause nahte. Alle verschwanden dann sofort von der Straße.27

Verboten war bei Todesstrafe:

Verlassen des Ghettos, Kontaktaufnahme durch den Zaun, Besitz von Wert­gegenständen, Tauschhandel, Kinder gebären. Ein Großteil der Opfer im Ghetto wurde erhängt. Abends mußten die Arbeitskommandos am Galgen, der auf dem Blechplatz stand, vorbeiziehen - der Abschreckung wegen. Wer nicht hochsah, bekam Prügel.

Salaspils

Schon am 22. Dezember 1941 waren 500 Männer aus den Transporten Mün­ster/Osnabrück/Bielefeld und Hannover, unter ihnen Siegfried Weinberg und Vater Heimbach, zum "Arbeitserziehungslager" Salaspils 18 km südöstlich von Riga getrieben worden. Zunächst waren die Männer beim Barackenbau eingesetzt.

Siegfried Weinberg: Eine Baracke für 500 Männer war "ca. 12 m breit und ca. 20 m lang. Die Kojen waren in fünf Stockwerken übereinander gebaut. Jede Koje war ca. 75 cm hoch. In diesen Kojen wurde nun geschlafen, geges­sen und während der Freizeit sich aufgehalten. Die hygienischen Verhältnisse waren menschenunwürdig. Ohne Mantel und Handschuhe in der Baracke sich aufzuhalten, war unmöglich, da in der Baracke eine Temperatur von 1-3 Grad war. Die Eiszapfen hingen von der Decke herab (...)

Im Lager war- nur eine Pumpe vorhanden, die aber nur soviel Wasser pumpte, als die Küche zum Kochen benötigte. Wer sich waschen wollte, mußte dies mit Schnee machen. Das ganze Lager war durch Ungeziefer verseucht, Ruhr und Hungertyphus rasten durch das Lager und forderten viele Opfer. Wie lebende Leichen, nur noch ein menschenähnliches Knochengestell, wanderten die Männer durch das Lager. Kauen sich selbst schleppend, mußten Balken und Bretter geschleppt werden ohne Erholungspause. Wagte es jedoch einer, sich wenige Minuten zu erholen und zu verschnaufen, so fuhr (um so) unbarmher­ziger der Knüppel des Kommandanten oder eines Postens auf ihn nieder. (...) Wer krank geschrieben wurde, bekam nur 50 % der Ration zugeteilt. (...) Am 2. Januar 1942 wurden die ersten zwei Jungen im Alter von 17 Jahren durch Genickschuß erschossen.28

"Unter Schlägen und ständigen Todesdrohungen leisteten die Juden in Salaspils härteste Zwangsarbeit. Sie mußten Holz in den Wäldern schlagen ", arbeiteten im Sägewerk, Steinbruch, in einer Ziegelei, beim Torfstechen. Salaspils war "ein gefürchtetes Todeskommando".29

Nur wenige Häftlinge überlebten und kehrten krank, zum Skelett abgemagert und völlig verlaust im Sommer ins Ghetto zurück, unter ihnen Achim Laumann/ Oelde, den seine Frau Ellen zunächst nicht wiedererkannte.

Danach blieb Salaspils ein Lagerkomplex für lettische und russische Zivil- und Kriegsgefangene. Ca. 100.000 Menschen sollen hier in deutscher Zeit umge­bracht worden sein, darunter 7000 Kinder.

"Dünamünde"

 

Im Ghetto waren inzwischen viele Alte, Frauen und Kinder verschwunden. Was war geschehen?

Anfang Februar bekamen die Ghettokommandantur und die jüdische Verwal­tung den Auftrag, für die einzelnen Gruppen Listen der nicht mehr arbeitsfähi­gen Häftlinge aufzustellen. Offizielle Begründung: in Dünamünde gebe es in einer Fischkonservenfabrik leichte Arbeit und gute Verpflegung. Nur wenige meldeten sich daraufhin. Am 5. Februar 1942 wurde das Ghetto frühmorgens hermetisch abgeriegelt. Einzelne Gruppen mußten in ihren Wohnstraßen zum Appell antreten. Der jüdische Ordnungsdienst durchsuchte unter Leitung der deutschen und lettischen Ghettowache die Wohnungen und trieb alle Bewoh­ner, auch Schwerkranke, auf die Straße. Als erste wurden die per Liste erfaßten Juden selektiert, dann auch andere Ältere sowie Frauen mit kleineren Kindern. "Uni die Opfer zu täuschen, wurden auch jüdische Sanitäter und Krankenschwe­stern (...) für den Abtransport bestimmt."30 Wer sich sträubte oder nicht schnell genug war, wurde brutal mißhandelt, zum Teil wie Vieh auf die Ladefläche geworfen. Die LKWs und Busse kamen relativ schnell zurück und nahmen neue Opfer auf. Offensichtlich waren sie nicht nach Dünamünde gefahren - sondern in den "Hochwald", den Wald von Bikernieki, der schon seit dem Juli 1941 als Erschießungsgelände diente. Unter Leitung von Offizieren der Sicherheitspoli­zei führten ca. 10 Mann des Kommando Arajs die Erschießungen durch. Die Kleidung der Erschossenen "wurde teilweise blutbefleckt und mit Einschußlö­chern ins Ghetto zurückgebracht". Viele in der Kleiderkammer eingesetzte Ju­den erkannten die Kleidung ihrer Verwandten und Freunde wieder.31

Dieser ersten "Dünamünde-Aktion" fielen ca. 2000 Menschen zum Opfer, ei­ner zweiten Ende März nochmal mindestens 2000 Menschen. Unter ihnen waren viele Menschen aus Münster.

Hochwald

Die Hausfrau Malwine Stabulnik wohnte direkt am Wald von Bikernieki, dem "Hochwald": Karfreitag und Karsamstag 1942 zählte sie 41 Omnibusse, "die Menschen irr den Wald brachten. Etwa 20 bis 30 Minuten später kamen sie leer aus dem Wald zurück. Tag und Nacht hörten ich und andere Einwohner die Schüsse (...). Am Ostersonntag war alles still. Es war schönes und sonniges Wetter. Wie viele andere, so ging auch ich mit meiner Familie in den Wald, uni die Gräber der erst am Tage zuvor erschossenen und völlig unschuldigen Menschen zu sehen. Unter den vielen Gräbern erblickten wir (...) ein offenes Grab, das mit den Leichen Erschossener gefüllt war. Die Leichen lagen unor­dentlich durcheinander, sie waren nur leicht oder mit Unterwäsche bekleidet. Es waren (...) Frauen und Kinder. Den Leichen war anzusehen, daß die Men­schen vor der Erschießung noch brutal mißhandelt und gequält worden wa­ren. (...) Erschossen worden waren auch Juden aus dem Ausland. Das konnte man an den verschiedenen zurückgebliebenen Gegenständen erkennen."32

Schon im Januar 1942 hatte ein Forstwärter in Bikernieki viele verstreute per­sönliche Papiere von Ausländern gefunden - zum Beispiel von einem Bochu­mer Arzt, einem Kölner Lehrer, einer Kinderkrankenschwester und einer Buchhalterin aus Hannover.33 Woche für Woche verschwanden in diesem Wald die im Ghetto und im Zentralgefängnis "Aussortierten", abertausende Deportierte, die di­rekt vom Zug hierhin transportiert wurden. 46.500 Menschen wurden hier ermordet. 55 Massengräber - eingefaßt durch normale Bordsteine - sind heute in dem hü­geligen Waldgelände zu zählen. Sie liegen innerhalb der damaligen "Gruben", die als kleine Lichtungen mit schwächerer Vegetation erkennbar sind. Einzelne Bäume haben Einschußlöcher, andere Brandnarben von den Leichenver­brennungen, die vor dem deutschen Rückzug 1944 durchgeführt wurden, um Spuren zu verwischen. Auf dem Boden immer wieder Verbrennungsrückstän­de, Knochensplitter, Zähne.34

Bis 1991 gab es nirgendwo einen Hinweis, daß hier vor allem Juden ermordet worden sind! Dasselbe in Salaspils, in Rumbula: Unter der Sowjetherrschaft wurde der Holocaust systematisch verschwiegen. Bei unseren Besuchen be­gegneten uns nur Jogger und eine Familie, die in einer Mulde Picknick hielt.

Kaiserwald, Stutthof ...

Am 2. November 1943 wurde das Rigaer Ghetto aufgelöst. Sämtliche Kinder mit ihren Müttern sowie Kranke und Alte kamen in einen Zug. Sie wurden nie wieder gesehen. 7874 Ghetto-Häftlinge wurden in das neu errichtete KZ Kai­serwald im Rigaer Norden mit seinen 13 Nebenlagern verlegt, Irmgard Heimbach als Sträfling Nr. 1121 mit ihrer Mutter und vielen anderen Frauen zur AEG. Ruth Weinberg mußte mit ca. 500 Frauen und Männern in den SD-Werkstät­ten in der ehemaligen Textilfabrik Lenta arbeiten. Nach einem Fluchtversuch wurden im Juli 1944 allen Frauen die Köpfe kahl geschoren, den Männern ein Mittelstreifen auf dem Kopf rasiert. Siegfried Weinberg, der als Auto- und Elektromechaniker zusammen mit sechs lettischen Juden ein Arbeitskommando in der Stadt hatte, tauchte daraufhin mit seinen Kameraden unter. Sie fanden in einer Möbelfabrik Unterschlupf bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Im Krankenrevier des KZ Kaiserwald war Mord an der Tagesordnung: Wer länger als zwei, drei Wochen lag, bekam eine Todesspritze. Ewald Aul, der schwerstkrank ins Revier geraten war, berichtete, täglich seien dort ca. fünf Kranke gestorben.35

Allein zwischen August 1943 und Frühjahr 1944 kam mehr als die Hälfte der Häftlinge von Kaiserwald um.

Als die Rote Armee näher rückte, begann am 6. August 1944 die Evakuierung der Häftlinge per Schiff in das bei Danzig liegende KZ Stutthof. Mindestens 10 Münsteraner Juden verloren hier ihr Leben, unter ihnen Selma Salomons. Für die anderen noch Lebenden war aber auch das grausame Stutthof noch nicht die letzte Leidensstation. Auf Todesmärschen wurden die Gefangenen nach Westen getrieben - nach Buchenwald, Bergen-Belsen, Hamburg-Fuhlsbüttel ... Mehr als 20.000 Menschen waren Ende 1941/Anfang 1942 aus dem "Groß-deutschen Reich" nach Riga verschleppt worden. Von ihnen kehrten weniger als 700 aus Riga zurück. Von zig weiteren Deportationszügen Richtung Riga gibt es keine Überlebenden und keine Dokumente, Schätzungen sprechen von mindestens 30.000 Menschen.36

Rückkehr?

Aus Münster wurden 121 Juden nach Riga verschleppt. 114 von ihnen kamen um: gestorben an Entkräftung, Kälte, Quälerei; erschossen auf dem alten jüdi­schen Friedhof, im Wald von Bikernieki, in Salaspils, in Stutthof, auf den Hun­germärschen. (Von insgesamt 299 aus Münster Deportierten überlebten 24).

Das Ehepaar Goldenberg und Verona Goldschmidt kehrten nach Münster zurück, Siegfried Weinberg erst im Jahre 1948. Denn seine Befreiung in Riga im Oktober 1944 war nur von kurzer Dauer gewesen. Im Januar 1945 wurde er verhaftet und ohne jede Verhandlung im März für dreieinhalb Jahre in ein Lager hei Swerdlowsk am Ural gesperrt. Nach stalinistischer Denkart standen überlebende KZ-Hälftlinge generell im Verdacht der Kollaboration, und wer ver­dächtig war, war schnell "schuldig".

Im Münsteraner Wohnungsamt traf S. Weinberg auf dieselben Beamten wie 1940/41. 1949 wanderte er, wie Ruth vorher, in die USA aus. Wilhelmine Süßkind, geborene David, kehrte als einzige der Coesfelder Juden dorthin zurück. Ihr Bruder Paul starb in Kaiserwald, ihr Mann Gustav in Libau. Aus ih­rer engeren Verwandtschaft fielen allein 17 Menschen den Nazis zum Opfer.

"Eigentlich hätte man nicht zurückkommen dürfen. Ich persönlich finde, daß es richtig ist, daß Deutschland nicht judenfrei ist, daß sie nicht dies Gefühl haben, sie haben das geschafft", so die heute 87jährige Frau Süßkind in dem Dokumentarfilm. "Verschollen in Riga".37

46 Jahre dauerte es nach dem Krieg, bis daß die Stadt Münster die ehemaligen jüdischen Münsteranerinnen zu einem Besuch ihrer früheren Heimatstadt einlud, daß offiziell am 13. Dezember der nach Riga Deportierten gedacht wurde. Beide Ereignisse waren menschliche Höhepunkte in der Geschichte Münsters, Marksteine für die kollektive Erinnerung.

Doch bis ins Jubiläumsjahr blieb ein weißer Fleck unverändert: Der Frage nach damaligen Tätern und Mittätern, Helfern und Wegbereitern wird beharrlich ausgewichen.

Wilhelm Sasse, Mitorganisator der Riga-Deportation, blieb im Dienst der Stadt Münster bis 1962, zuletzt als Oberrechtsrat. Von den anderen an der Deporta­tionsorganisation Beteiligten ist niemand belangt worden. Als 1990 der Histo­riker und lettische Exilpolitiker Adolfs Silde in Münster starb, erschien in beiden Münsteraner Tageszeitungen ein rühmender Nachruf. "Sein Interesse galt den Verfolgten" lautete die Überschrift der MZ vom 12.05.1990.38 Daß der seit 1964 in Münster Wohnende einer der Gründer des "extrem nationalisti­schen, faschistischen" Perkonkrust war, der einen "fanatischen Judenhaß pro­pagierte"39, daß Silde in Zeitungsartikeln 1941/42 die Massenmorde an den Juden gepriesen hatte40, blieb unerwähnt.

Und seit Jahrzehnten wird vor allem anläßlich des Volkstrauertages am "Drei­zehner-Denkmal" ("Ehre den Toten beider Weltkriege - Treue um Treue") so getan, als habe es im letzten Krieg keinerlei Mittäter und Wegbereiter gege­ben, als seien alle im Krieg Umgekommenen nur "Opfer" gewesen, als habe die Wehrmacht nur ihre "Pflicht" erfüllt und einen "sauberen Krieg" geführt. Die Tradition der vielen Kriegerdenkmäler, der steinernen Verharmlosung, ja Rechtfertigung von Krieg und Gewalt, ist längst nicht gebrochen.

Das Ausscheiden der Kriegsgeneration aus Amt und Würden hat die Erinne­rung an die Nazizeit leichter gemacht, Verdrängung teilweise überwunden. Die Ausstellung des Landgerichts über die Geschichte des Gerichtswesens in Münster ist dafür ein positives Beispiel. Doch die Erinnerung bleibt weiter gespalten, wie der historische Beitrag der Bundeswehr zum Stadtjubiläum ("Garnisonsstadt Münster") zeigt.

Die "zweite Schuld" (Ralph Giordano) währt fort in dem Unwillen, arbeitsteilige Täterschaften zur Sprache zu bringen, sich ihnen zu stellen: Ohne Beschönigungen und Aufrechnerei bei Alten, ohne moralische Überheblichkeit hei Jüngeren.

"Zukunft hat Geschichte" - doch welche Zukunft kommt aus gespaltener Erin­nerung?

Anmerkungen

1 Nach den Aufzeichnungen von Generaloberst Halder, Auszüge abgedruckt bei: Gerd Ueber-

schär/Wolfram Wette, Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, Frankfurt 1991, S. 249.

2 "Richtlinien für die militärische Sicherung und für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Ostland", auszugsweise zitiert bei: Hans-Heinrich Wilhelm, Motivation und "Kriegsbild" deutscher Generale und Offiziere im Krieg gegen die Sowjetunion; in: Peter Jahn/Reinhard Rürup (Hrsg.), Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin 1991, S. 172.

3 Heiner Lichtenstein, Im Namen des Volkes? Köln 1984, S. 63ff.

4 Sogenannter "Jäger-Bericht" vom 1.12.1941, abgedruckt in: Ernst Klee/Willi Dreßen/Volker Rieß (Hrsg.), "Schöne Zeiten" - Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt/M 1988, S. 52ff.

5 Siegfried Weinberg am 6.4.1991 in Brooklyn, New York, gegenüber dem Autor.

6 Schnellbrief des Chefs der Ordnungspolizei, Delague, vom 24.10.1941, abgedruckt bei: Reinhard Rürup (Hrsg.), Topographie des Terrors, Berlin 7. Auflage 1989, S. 117.

7 Städtischer Rechtsrat Sasse, Vermerk über die vertrauliche Besprechung am 19.11.1941, im

Faksimile abgedruckt in: Diethard Aschoff, Die Juden in Münster, Geschichte original - am

Beispiel der Stadt Münster, Heft 5, Münster 1980, Blatt 8.

8 Ausführungsbestimmungen der Gestapo Münster über den Abtransport der münsterländischen

Juden nach Osten, im Faksimile abgedruckt in: Diethard Aschoff (1980), Blatt 8.

9 "Verzeichnis der evakuierenden Juden aus dem Bereich der Staatspolizeileitstelle Münster nach

Riga" vom 10.12.1941, Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 36 Nr. 18f, Fol. 13.

10 Siegfried Weinberg, Bericht über die Deportation nach Riga und seine dortigen Erfahrungen,

Riga 9.11.1944; abgedruckt bei: Diethard Aschoff, In der Hölle des Ostens (Quellen und For-

schungen zur Geschichte der Stadt Münster, N. F. 12), Münster 1987.

11 Hanns Eickelkamp im Dokumentarfilm "Verschollen in Riga - Bilder einer Erinnerungsrei-

se" von Jürgen Hobrecht, Münster/Berlin 1992.

12 Siegfried Weinberg bei Diethard Aschoff (1987), S. 327f.

13 Vgl. Birgit Lammersmann/ Karin Wißmann, Nicht nach Riga! Der Überlebenskampf einer mün-

sterschen Jüdin im Dritten Reich, in: Heinz-Ulrich Eggert (Hrsg.), Schon fast vergessen.

Alltag in Münster 1933-1945, 2. Auflage Münster 1989.

14 Hierzu: Bernhard Press, Judennord in Lettland 1941-1945, Berlin 1992, S. 33ff.; Margers.Ve-

stermanis, Der Holocaust in der neuen lettischen Nationalgeschichtsschreibung, Manuskript

Riga 1992; Hans-Heinrich Wilhelm, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD

1941/42, in: Helmut Krausnick/ Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungs-­

krieges, Stuttgart 1981, S. 555ff., S. 596f.

15 Hans-Heinrich Wilhelm (1981).

16 Nach Stahlecker: Einsatzgruppe A, Gesamtbericht bis zum 15.10.1941, abgedruckt in: Der Pro-

­ zeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 1945/46,

Band 37.

17 Landgericht Hamburg 147 Ks 6/71, Urteil gegen Jahnke u.a. vom 23.2.1973, Zentralstelle der

Länderjustizverwaltungen, Ludwigsburg.

18 Einer der Ãœberlebenden des lettischen Ghettos ist Margers Vestermanis. Ihm verdankt der Autor

die entscheidenden Anstöße und Anregungen zur Spurensuche in Riga.

19 Wilhelmine Süßkind im November 1989 in Coesfeld gegenüber dem Autor.

20 Irmgard Heimbach, Vier Jahre hinter Stacheldraht, in: Stationen nach Auschwitz, Osnabrück 1989, S. 198.

21 Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg 141 Js 534/60, Anklageschrift gegen Gerhard

Maywald vom 5.1.1976, S. 101f.

22 Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg (1976), S. 102.

23 Ewald Aul, "Alle nur erdenklichen Grausamkeiten", in: "Stationen nach Auschwitz" a.a.O.

24 Josef R. am 4.12.1991 in Dülmen gegenüber dem Autor.

25 Irmgard Heimbach in "Verschollen in Riga" (1992).

26 Siegfried Weinberg hei Diethard Aschoff (1987), S. 329.

27 Lilo Stern am 15.12.1991 in Münster gegenüber dem Autor.

28 Siegfried Weinberg bei Diethard Aschoff (1987), S. 331f.

29 Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg (1976), S. 117.

30 Dieselbe (/1976), S. 157ff.

31 Dieselbe (1976), S. 174.

32 Zitiert bei: Hans-Heinrich Wilhelm (1981), S. 563f.

33 Meldung der Außerordentlichen Kommission zur Feststellung von NS-Verbrechen auf letti­-

schem Territorium, Riga undatiert (Ende 1944, Anfang 1945), Zentrales Historisches Staats­archiv

Lettlands, Bestand P-132, Verzeichnis 30, Akte 35, Blatt 2 und 6.

34 Besuche in den Jahren 1989, 1990, 1991. Führung durch Sergej Svilpe, dem einzigen Überle­benden

einer Rigaer antifaschistischen Untergrundgruppe.

35 Zeugenaussage von Ewald Aul im Prozeß gegen Heinz Günther Wisner vor dem Landgericht Düsseldorf

am 6.10.1981, wiedergegeben bei: Heiner Lichtenstein (1984), S. 160.

36 Schätzungen zur Gesamtzahl der nach Riga Deportierten bei: Bernhard Press (1992), S. 138ff.;

Margers Vestermanis (1992), S. 39.

37 Wilhelmine Süßkind in "Verschollen in Riga" (1992).

38 Münstersche Zeitung und Westfälische Nachrichten vom 12.5.1990.

39 Landgericht Hamburg (37) 5/76, Urteil gegen Viktor Arajs vom 21.12.1979, S. 66.

40 Bernhard Press (1992), S. 42. In Münster befand sich auch viele Jahre die Zentralleitung der

"Daugavas Vanagi" (Dünafalken), der "Selbsthilfeorganisation" der ehemaligen Angehörigen

der lettischen Legion (Waffen-SS, Polizeiverbände


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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