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Mein Gastkommentar in DER STANDARD, Wien: "AFGHANISTAN AUF DER KLIPPE"

Veröffentlicht von: Nachtwei am 14. Juli 2021 07:22:54 +01:00 (33322 Aufrufe)

Die komprimierte Bilanz eines parlamentarische Mitauftraggebers. Innerhalb von sechs Stunden über 120 Postings.

Gastkommentar in DER STANDARD, Wien, am 14.07.2021

Afghanistan auf der Klippe

Der Abzug der Soldaten symbolisiert die strategische Niederlage des Westens. Nicht schwinden darf jetzt die internationale Unterstützung. Die Bilanz eines deutschen Mitauftraggebers.

https://www.derstandard.at/story/2000128168090/afghanistan-auf-der-klippe

Winfried Nachtwei

Der Afghanistaneinsatz war das größte, teuerste und bei weitem opferreichste Krisenengagement der (westlichen) Staatengemeinschaft und der Nato. Nach fast 20 Jahren endete jetzt sein militärischer und polizeilicher Teil so schnell und unauffällig wie möglich. Gleichzeitig erringen die Taliban rasant und oft ohne Gegenwehr die Kontrolle über immer mehr Distrikte und umzingeln etliche Provinzstädte. Eine – zumindest weitgehende – Machtergreifung der Taliban scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

Startziele des Afghanistaneinsatzes waren die Bündnissolidarität mit den am 11. September 2001 angegriffenen USA, die Verfolgung der Drahtzieher der Angriffe und die Beseitigung des sicheren Hafens internationaler Terrornetzwerke in Afghanistan. Die Staatenwelt und wir in der damaligen rot-grünen Koalition in Berlin waren gefordert, die eigene Bevölkerung vor weiteren Terroranschlägen zu schützen.

Nach dem schnellen Sturz des Taliban-Regimes kam als strukturelle Terrorvorbeugung hinzu die Stabilisierung und Förderung verlässlicher Staatlichkeit in einem von 23 Kriegsjahren zerrütteten Land. Die UN-mandatierte Internationale Unterstützungstruppe ISAF sollte die Aufbauunterstützung absichern.

Abstürzendes Land

20 Jahre später ist unübersehbar: Der internationale, militärische wie zivile Afghanistaneinsatz hat seine wesentlichen strategischen Ziele verfehlt. Al-Kaida wurde zwar geschwächt, der Terror und sein Nährboden aber nicht nachhaltig bekämpft. 2019 entfielen 41 Prozent aller Terrortoten weltweit auf Afghanistan. Der UN- und ISAF-Auftrag, zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften für ein sichereres Umfeld zu sorgen, wurde krass verfehlt. Der letzte Juni war der gewaltträchtigste Monat seit 2001. Fortschritte beim Staatsaufbau wurden durch exzessive Korruption konterkariert.

Ein Kollaps des Staates, ein Abrutschen in einen entfesselten Bürgerkrieg, der auch noch existierende Teilfortschritte in der Infrastruktur, im Gesundheits- und Bildungswesen zunichtemachen würde, ist nicht unwahrscheinlich.

In ein solches abstürzendes, von Binnenflüchtlingen geflutetes Land Flüchtlinge abzuschieben, bedeutet faktisch, Menschen ins Bodenlose abzuwerfen. Die afghanische Regierung hat die EU-Staaten aufgefordert, angesichts der Eskalation des Taliban-Terrors und der dritten Corona-Welle Abschiebungen auszusetzen.

Die faktische strategische Niederlage des Westens in Afghanistan hat identifizierbare Gründe: Es fehlte an einer gemeinsamen Strategie und an klaren, erfüllbaren Aufträgen. Kontraproduktiv war von Anfang an ein strategischer Dissens: Die USA unter Präsident George W. Bush konzentrierten sich etliche Jahre auf bloß militärische Terrorbekämpfung ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, während die Mehrzahl der anderen Verbündeten und die UN den Aufbau unterstützen wollten. Beiden „Strömungen“ war gemein ein Mangel an Landeskenntnis und Konfliktverständnis mit der Folge, dass die Herausforderungen von Terrorbekämpfung wie Aufbau massiv unterschätzt und die eigenen Wirkungsmöglichkeiten überschätzt wurden. Hybris militärischer Stärke einerseits, technokratische Machbarkeitsillusionen andererseits.

Stabilisierung, gar Staatsaufbau lassen sich nicht importieren, sondern von externen Kräften nur unterstützen. Verbündete waren zu oft die alten Warlords und zu selten bevölkerungsnahe und Reformkräfte. Dabei war der Mitteleinsatz lange Zeit wegen schwacher ziviler Kräfte (etwa bei der deutschen Polizeihilfe) viel zu militärlastig. Besonders kurzsichtig war die lange, insbesondere von den USA blockierte politische Konfliktlösung mit den Taliban. Verhandlungen wurden erst aufgenommen, als die strategische Überlegenheit der Taliban offenkundig war.

Notorische Schönrednerei

Bei 20 Besuchen vor Ort habe ich die Arbeit der von der deutschen Bundesregierung entsandten Soldaten, Zivilexperten und Polizisten hochschätzen gelernt. Diese Frauen und Männer verdienen großen Dank. Auf der politisch-strategischen Ebene erlebte ich in Berlin und anderen Hauptstädten hingegen eine notorische Neigung zur Schönrednerei, Realitätsflucht und einen Mangel an Wirkungsorientierung. Der Knackpunkt des Einsatzes war, so das Ergebnis meiner Langzeitbeobachtung, ein kollektives politisches Führungsversagen.

Nach dem Abzug der Nato-Truppen muss als erstes dem üblichen Trend widerstanden werden, dass mit einem Truppenabzug erst die mediale Aufmerksamkeit, dann auch jede internationale Unterstützung schwindet. Die Einstellung, Afghanistan ließe sich wie Ballast abwerfen, ist kurzsichtig und zynisch. Politisch trotz alledem dranbleiben, ist die erste Notwendigkeit. Die Unterstützung des Verhandlungsprozesses in Doha ist da vordringlich.

Afghanische Ortskräfte, die für deutsche Ministerien gearbeitet haben, dürfen nicht im Stich gelassen werden. Darauf läuft aber das bisher inkonsequente deutsche Regierungshandeln hinaus.

Friedenschancen stärken

Im Land sind alle Zipfel an Friedenschancen zu stärken. Bestehende Hoffnungsinseln zivilgesellschaftlicher Projekte und Entwicklungszusammenarbeit müssen am Leben gehalten werden, wo möglich auch durch Arrangements mit pragmatischen Taliban.

Die Aufgaben der politischen UN-Mission in Afghanistan werden erheblich zunehmen. Hier ist eine stärkere personelle Unterstützung durch EU-Staaten angesagt.

Ratlos bin ich bei der Schlüsselfrage, was die bisherigen Truppenstellerstaaten zur akuten Bürgerkriegsprävention beitragen können, nachdem der faktische Einsatzabbruch die Rutschbahn Richtung Bürgerkrieg geschmiert hat. Dieses Dilemma ist in der aktuellen Diskussion um den Nato-Abzug kein Thema, sollte es aber sein.

Winfried Nachtwei war von 1994 bis 2009 grüner Bundestagsabgeordneter, ab 2002 sicherheitspolitischer Sprecher, und beteiligt an 20 Mandatsentscheidungen zu Afghanistan. www.nachtwei.de

 

 

 


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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

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Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

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Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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