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Nachtwei am 22. Mai 2020 11:08:41 +01:00 (41494 Aufrufe)
2001/02 erlebte ich die hoffnungsvollen Anfänge dieses geradezu revolutionären Rüstungskontrollabkommens: Die Militärs zwischen Vancouver und Wladiwostok konnten sich seitdem GEMEINSAM in die militärischen Karten sehen, eine zentrale vertrauensbildende Maßnahme - und eine der letzten noch funktionierenden zwischen NATO-Länder n und Russland!
Bericht + Rede aus der Frühphase von „Open Skies“ (2001) + Aktuelles:
US-Präsident Trump kündigt Vertrag über „Offenen Himmel“
von 1992 – und damit einen der letzten funktionierenden Mechanismen zur Vertrauensbildung zwischen Vancouver bis Wladiwostok
Winfried Nachtwei, MdB a.D., Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung (22./27.05.2020)
Am 21. Mai berichtete die Tagesschau, dass US-Präsident Trump den Rüstungskontroll-Vertrag über den „Offenen Himmel“ kündigen will. Der 1992 unterzeichnete und 2002 in Kraft getretene Vertrag war bisher ein zentraler Mechanismus rüstungspolitischer Vertrauensbildung zwischen NATO-Mitgliedern und Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Als Mitglied des Bundestags-Unterausschusses für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung bekam ich 2001/2002 konkrete Einblicke in die Praxis dieses geradezu revolutionären und einzigartigen Abkommens, das GEMEINSAME und allen Beteiligten zugängliche Aufklärung garantiert – und als einziges Abkommen auch jenseits des Ural. Über 1.500 Aufklärungsflüge wurden seit 2002 durchgeführt. Aus gut unterrichteten Kreisen höre ich, dass die Aufklärungspraxis insgesamt gut laufe, „eine tolle Maßnahme“. Hier
(1) mein Bericht von der Testzertifizierung am 2. August 2001 in Fürstenfeldbruck
(2) eine Bundestagsrede zum Thema am 28. November 2001
(3) Viel zu wenig beachtet: Das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr in Geilenkirchen, Vermerk von W. Nachtwei, 07.05.2001
(4) Bericht von der Übergabe der neuen Beobachtungsplattform an die Bundeswehr am 21. Juni 2019
(5) Interview mit dem Kommandeur ZVBw, Juni 2019
(6) Visualizing the Open Skies Treaty, von Alexander Graef & Moritz Kutt, April 2020
(7) Tagesschau am 5. November 2019
(8) SWP-Aktuell „Angriff auf den Open-Skies-Vertrag“ von Wolfgang Richter, Mai 2020
(9) Tagesschau zur Kündigung am 21. Mai 2020
(10) Erklärung der Außenminister Belgiens, Deutschlands, Finnlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Spaniens, Schwedens und der Tschechischen Republik zur Ankündigung der USA, aus dem Vertrag über den Offenen Himmel auszutreten, 22. Mai 2020
(11) Die Rettung von „Open Skies“ ist ein Test für die strategische Autonomie der EU, die dritte Meinung von Alexander Graef, taz 27.05.2020
(1) Gemeinsame Sicherheit durch Offenen Himmel: Bericht von der Testzertifizierung für Beobachtungsflugzeuge 2001 in Fürstenfeldbruck –
Winfried Nachtwei, MdB (09.08.2001)
Geheimhaltung gehört seit jeher zu den Grundregeln von Armeen.
Auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck bei München übten in den ersten beiden Augustwochen 250 Militärs aus 31 Staaten das genaue Gegenteil: Gemeinsam führten sie eine Test-Zulassungsprüfung (Zertifizierung) für Beobachtungsflugzeuge durch, mit deren Hilfe sich die Teilnehmerstaaten des Vertrages über den „Offenen Himmel“/OH (Open Skies) gegenseitig von oben in die militärischen Karten schauen wollen.
Als Mitglied des Bundestagsunterausschusses „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ konnte ich zusammen mit dem CSU-Kollegen Hans Raidel am 2. August 2001 die Prüfung miterleben.
Der 1992 von 27 Staaten unterzeichnete Vertrag über den Offenen Himmel berechtigt die Vertragsstaaten zu weitreichenden Beobachtungsflügen von Vancouver bis Wladiwostok. Für jeden Staat sind passive und aktive Quoten festgelegt, also die Zahl von Beobachtungsflügen anderer über dem eigenen Staatsgebiet und eigene Flüge über anderen Staaten. (Die passive Quote der Bundesrepublik ist 12, die von Russland und Belarus 42) Die immer kooperativ durchgeführten Flüge sollen die Einhaltung von Rüstungskontrollvereinbarungen überprüfen, militärische Aktivitäten erfassen und damit zu Vertrauensbildung und gemeinsamer Sicherheit beitragen. Sie können darüber hinaus zur Krisenverhütung und –bewältigung im Rahmen der OSZE und anderer internationaler Organisationen sowie zum Umweltschutz genutzt werden.
Handicap des Vertrages ist, dass er wegen der lange Zeit ablehnenden Haltung der russischen Duma nicht in Kraft treten konnte. Nichtsdestoweniger wurde der Vertrag schon vorläufig und probeweise angewendet, fanden Testbeobachtungsflüge und Testprüfungen statt.
Im Juni ratifizierten die russische und belarussische Parlamente endlich den Vertrag. Wenn die Ratifizierungsurkunde wie angekündigt Anfang November hinterlegt wird, könnte der Vertrag mit Beginn des nächsten Jahres in Kraft treten und die Implementierung beginnen. Damit wären die drei Säulen europäischer Rüstungskontrolle (KSE, Wiener Dokument, OH) endlich funktionstüchtig. Vor diesem Hintergrund war die aktuelle Test-Zertifizierung eine Art Generalprobe.
Teilnehmer
Initiator und Gastgeber der internationalen Veranstaltung war das für Rüstungskontrolle und Abrüstung zuständige Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (ZVBw). Dass neben allen Vertragsstaaten (die NATO-Staaten, Russland, Ukraine, Bulgarien, Rumänien, Georgien, Kirgistan, Slowakei) auch Nichtunterzeichner wie Schweden, baltische Staaten, Kroatien und Slowenien teilnahmen, zeigt die Attraktivität des Vertrages.
Sechs Beobachtungsflugzeuge waren gekommen: drei Antonov-30 aus Russland, Bulgarien und der Ukraine, eine Antonov 26 aus Ungarn (alle 1.500 km Reichweite), eine Andover aus Großbritannien (1.500 km), eine kanadische Herkules C-130 mit POD (Sensorcontainer, 5.000 km).
Prüfprogramm
An acht Tagen überprüften die internationalen Teams die Flugzeuge, Kameras und Sensoren am Boden und bei Übungsflügen auf Herz und Nieren.
Am Besuchstag standen Flugdienst, Kalibrierung, 12 Stunden Untersuchungen am Boden und Bearbeitung des erflogenen Datenmaterials im Labor auf dem Programm.
Die russische, ukrainische und kanadische Maschine absolvierten jeweils mehrstündige Flüge mit festgelegten Flughöhen, Sensoren, Filmen und Filtern.
Bei der „Kalibrierung“ (Hmin-Bestimmung) wird in einem hochkomplexen Verfahren
überprüft, dass keine Einzelbild-, Panorama- oder Videokamera und kein Film bei der festgelegten niedrigsten Flughöhe eine Bodenauflösung erbringt, die besser ist als 30 cm. Für Infrarot-Zeilenabtastgeräte gilt eine minimale Bodenauflösung von 50 cm, für seitwärts gerichtetes Radar 3 Meter. Sinn der Vertragsbestimmung ist, „Waffengleichheit“ zwischen den Staaten zu gewährleisten und die Erfassung von Hauptwaffensystemen (gemäß KSE-Vertrag) zu ermöglichen, ohne dass dabei weitergehende detaillierte Erkenntnisse gewonnen werden können.
Kooperative Prüfungen und Übungen benötigen einheitliche Verfahrensweisen. Der deutschen Initiative und Moderation ist es zu verdanken, dass alle Nationen nach demselben methodischen Ansatz vorgehen.
Übungsflug
Zusammen mit Pressevertretern nahm ich an einem Übungsflug mit der ukrainischen Antonov-30 teil. Da ich erst vor wenigen Tagen mit Ukraine Airlines vom Urlaub auf dem Dnjepr und der Krim zurückgekehrt war, bestand sofort herzlicher Kontakt zur ukrainischen Mannschaft.
Das ca. 25 Jahre alte Propellerflugzeug mit seinem verglasten Bug ist für seine Aufgabe umgebaut: drei Einzelbildkameras können vertikal und schräg durch gläserne Blenden automatisch und halbautomatisch fotografieren. Ihre Linsen haben einen Durchmesser von mehr als 30 cm. Installiert wurde auch eine Dunkelkammer. Außer für die zwei Systembediener ist Platz für je 4-5 Vertreter des beobachtenden und des beobachteten Staates. Normalerweise sind noch eine bis drei weitere Nationen bei den Beobachtungsflügen an Bord. Jede Nation protokolliert. Der Missionsbericht geht an alle.
Der Überflug über den Flugplatz Fürstenfeldbruck in 500 m Höhe bringt beste Draufsicht. Flug und Landung sind ziemlich bewegt.
Die internationale Kooperation an den verschiedenen Prüfungsstationen und im Flug läuft intensiv und selbstverständlich. Zum deutschen Team gehört sogar ein bulgarischer Major. Den Teilnehmern sind alle Einrichtungen des Militärflugplatzes frei zugänglich. Die deutsch-bayrischen Organisatoren fördern die multinationale/-kulturelle Chemie. Nach einem ökumenischen Gottesdienst mit einem orthodoxen Popen spielten am Sonntag beim Fußballturnier nicht nationale Mannschaften, sondern Mannschaften der Missionschefs, Cockpitbesatzungen, Sensorbediener, Inspektoren, Techniker usw. gegeneinander.
Offene Fragen und Perspektiven
In einer Gesprächsrunde mit Brigadegeneral Hübner, Leiter des ZVBw, den verantwortlichen Offizieren und Beamten aus AA (Referat 242), BMVg, ZVBw, dem deutschen Ständigen Vertreter in der Beratungskommission „Offener Himmel“ (OSCC/Wien) und den beiden MdB werden offene Fragen und Perspektiven der OH-Umsetzung erörtert.
- Russische Haltung: Die Ratifizierung des Vertrages wurde möglich mit der neuen Duma und der verbreiteten Einsicht, dass Satellitenaufklärung für RUS aus Geldmangel immer schwieriger wird und der Vertrag RUS neue Möglichkeiten der Informationsbeschaffung bietet. (Statt 3-4 Satellitenstarts/Jahr in der Vergangenheit erfolgt jetzt nur noch alle zwei Jahre ein Start; 75% der russischen Militär- und Kommunikationssatelliten sind veraltet und nicht mehr nutzbar; vgl. Hartwig Spitzer: Grünes Licht für Open Skies, NDR 4/ Hamburg 11.8.2001)
Etliche Fragen sind aus russischer Sicht noch zu klären, insbesondere die Quotenfrage. RUS kann sich die volle Ausschöpfung seiner Passivquote (42 Beobachtungsflüge anderer über RUS/BLR) gar nicht leisten. Aber das dürfte die Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde im November nicht verzögern. Zudem hat RUS ab Anfang Januar zwei Jahre Zeit zur Klärung der Quotenfrage. In diesem Zeitraum gilt die Erstverteilung der Quoten lt. Vertragsanhang, die danach verdoppelt würde.
- Plattform und Sensoren: Deren Qualität sei viel wichtiger als die Zahl der Quoten. In RUS jenseits des Ural sei angesichts der Schließung von immer mehr Militärflughäfen und des Spritmangels eine hohe Reichweite und leistungsfähige Sensorik unerlässlich. Die westlichen Plattformen seien unzureichend (POD billig, aber extrem eingeschränkte Aufnahme von Sensoren und Nutzung durch 12 Staaten; Andover in 2003 außer Dienst; umgerüstete andere Flugzeuge haben noch geringere Reichweiten und Raumkapazitäten), die Taxi-Option (Benutzung russischer Maschinen mit geringer Reichweite) sei hinderlich. Für eine aktive Beteiligung D`s an Open Skies ist eine eigene Plattform unabdingbar. Eine kommerzielle Mietlösung erscheint wegen der geringeren Verfügbarkeit und zu erwartender russischer Ablehnung wenig sinnvoll.
Am besten wäre deshalb eine europäische Lösung zusammen mit anderen EU-Partnern. Sie wäre kostengünstiger, integrationspolitisch attraktiv und ein wichtiger Beitrag zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihrem krisenpräventiven Ansatz. Hierfür haben AA und BMVg im letzten Jahr einen Vorschlag erarbeitet, der von den Ministern bekräftigt wurde und zzt. bilateral sondiert wird.
Um von der Taxi-Option wegzukommen, müsse aber RUS bei einer europäischen Lösung über eine substantielle Kooperation einbezogen werden.
Die deutsche Initiative würde erheblich an Wirksamkeit gewinnen, wenn sie mit einem finanziellen Angebot einhergehen würde. Das wurde bisher durch Haushaltsvorgaben verhindert. Sogar im Material- und Ausstattungskonzept der Bundeswehr ist eine OH-Plattform nicht aufgeführt.
- Deutsche Rolle: Sie war bisher führend dank der hervorragenden Expertise und Motivation des deutschen OH-Teams und des ZVBw. In Wien ist D treibende Kraft. Nicht von ungefähr fanden die ersten beiden Test-Zertifikationen in Fürstenfeldbruck statt. Über ein Drittel der bisher ca. 300 Probeflüge erfolgte mit deutscher Beteiligung. Die OH-Erfahrungen werden im Rahmen von Rüstungskontrollseminaren auch an Nichtvertragsstaaten weitervermittelt: kürzlich an Südkoreaner, demnächst auch für Nordkoreaner und andere Staaten.
Der Verlust der deutschen, mit modernster Sensorik ausgestatteten Tupolew 154 M durch Absturz 1997 und die Ablehnung einer Ersatzbeschaffung durch die Minister Rühe und Scharping waren ein enormer Rückschlag.
Mit der bevorstehenden Implementierung wird sich der deutsche know-how-Vorsprung relativieren. Zugleich werden die USA eine aktivere Rolle spielen.
Im Vorgriff auf eigene Fähigkeiten wäre eine europäische Kooperation bei der Operationsplanung und –durchführung ein erster praktikabler Schritt. Dabei könnte das ZVBw eine zentrale Rolle spielen.
Konsequenzen
Bedeutung und Chancen des Vertrages über den Offenen Himmel werden in der Politik nicht (mehr) angemessen wahrgenommen. Bei einigen westlichen Vertragsstaaten gibt es inzwischen ein grundsätzliches Desinteresse am Vertrag.
Am Vorabend seines Inkrafttretens sind deshalb einige Klarstellungen notwendig.
- Nur weil die Beziehungen zwischen den Staaten des OSZE-Raums generell entspannt sind und große Bedrohungen nicht in Sicht sind, ist der auf zwischenstaatliche Transparenz zielende OH-Vertrag noch längst kein Relikt aus unsicheren Zeiten und ist diese Form der Rüstungskontrolle längst nicht überflüssig – im Gegenteil!
Im Unterschied zum KSE-Vertrag sind bei OH Sibirien und Nordamerika in die Luftinspektionen einbezogen. Der OH-Experte Prof. Spitzer/Uni Hamburg betont, kein anderes Rüstungskontrollabkommen habe eine vergleichbar vertrauensbildende Wirkung. Besondere Vorteile der fliegenden Luftüberwachung sind ihre flexiblen Einsatzmöglichkeiten, ihre Allwetterfähigkeit (bei 2.000 m Flughöhe auch unterhalb der Wolkendecke) die vergleichsweise geringen Kosten, die Nichtdiskriminierung kleinerer Länder, die für alle Beteiligten gleiche und rasche Verfügbarkeit von Beobachtungsdaten.
Im Unterschied zur üblichen militärischen und insbesondere Satellitenaufklärung geht es hier nicht um Informationsdominanz und –monopole, sondern um gemeinsame Sicherheit in jeder Phase: Die kooperativen Flugmissionen werden von gemeinsamen Teams vorbereitet, durchgeführt und gemeinsam ausgewertet.
- Die Großwetterlage zwischen RUS und dem Westen ist angesichts der NATO-Oster-weiterung, des Kosovokrieges und des Strebens der USA nach einer „Politik der freien Hand“ von erheblichem Misstrauen überschattet. Rüstungskontrolle stagniert, ja ist zunehmend gefährdet, statt von Abrüstung ist von Um- und Aufrüstung die Rede. Vor diesem Hintergrund ist der NATO-unabhängige, kooperative und vertrauensbildende Ansatz von OH besonders wertvoll und seine engagierte und funktionierende Implementierung von elementarer Bedeutung. Er ist ein wesentlicher Beitrag zu struktureller Krisenprävention.
- Der Vertragstext verweist darauf, dass die OH-Luftüberwachung nicht nur für zwischenstaatliche Transparenz im Vertragsgebiet sorgen soll, sondern auch für Krisenprävention und –bewältigung weltweit zur Verfügung stehen kann. Multilaterale Krisenbewältigung ist inzwischen zu einer sicherheits- und friedenspolitischen Hauptaufgabe geworden, zu der sich die rotgrüne Bundesregierung wie auch die EU ganz besonders verpflichtet haben. Multilaterale operative Krisenbewältigung wird bisher aber erheblich beeinträchtigt durch Informationsvorsprünge bis –monopole einzelner Staaten, die über Satellitenaufklärung verfügen. Im Rahmen von Luftbeobachungsregimes (Aerial Observation Regime) kann die gemeinsame Informationsbasis der Staatengemeinschaft, der OSZE und VN verbessert werden. Bei der kooperativen Durchführung von Flugmissionen müssten die Konfliktparteien mit an Bord sein. Das hätte unmittelbar konfliktdämpfende Wirkung. Das ZVBw hat hierzu detaillierte Vorschläge entwickelt. (vgl. ZVBw-Katalog: Rüstungskontroll-maßnahmen zum Krisenmanagement, Geilenkirchen 2001)
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund traditionellen sicherheitspolitischen Denkens ist die kooperative und offene Praxis von open skies spektakulär, ja revolutionär.
Die hoch engagierten deutschen OH-Experten und das ZVBw leisten als treibende Kraft einen kaum zu überschätzenden Beitrag zu Vertrauensbildung und Stabilität im OSZE-Raum.
Für die Weiterentwicklung der Rüstungskontrolle und die Stärkung der Krisenprävention hat eine funktionierende Implementierung des Vertrages über den OH größte Aktualität und hohe Dringlichkeit.
Damit die Bundesrepublik auch künftig angemessen dazu beitragen kann, ist die Beschaffung einer eigenen Plattform – möglichst mit anderen EU-Partnern zusammen – unabdingbar. Die Initiative von AA und BMVg ist deshalb ausdrücklich zu begrüßen.
Hierfür müssen aber auch entsprechende Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden.
Die Fraktionen sollten eine entsprechende Initiative ergreifen.
(Fotos von der Test-Zertifikation in Fürstenfeldbruck und dem Besuch des Bundestags-Unterausschusses „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ am 22. April 2002 in Nordholz auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zu zwei Punkten im Hinblick auf die nächsten Monate Anmerkungen machen. Zunächst einmal ist mir in den letzten Wochen und Monaten aufgefallen, dass in Teilen der Öffentlichkeit Militäreinsätze und Kriegseinsätze immer gleichgesetzt worden sind. Ich muss feststellen, dass diese Art von Gleichsetzung – das war auch beim Einsatz in Mazedonien sehr deutlich der Fall – die Einsatzrealität der Bundeswehr in keiner Weise trifft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dies möchte ich deutlich machen, indem ich auf einen kleinen, unauffälligen Haushaltstitel aufmerksam mache, der allerdings erhebliche sicherheitspolitische Bedeutung hat, nämlich die Aufwendungen im Rahmen der nationalen Umsetzung des KSE-Vertrages einschließlich des Vertrages über den offenen Himmel sowie das Chemiewaffenübereinkommen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)
Der Vertrag über den offenen Himmel ist in der allgemeinen Öffentlichkeit vielleicht gar nicht so sehr bekannt. Er wurde 1992 unterzeichnet und hatte eine enorme Bedeutung, weil nämlich mit diesem Vertrag recht kurzfristig kooperative Beobachtungsflüge in dem gesamten Raum von Vancouver bis Wladiwostok durchgeführt werden können. Das führt zu einem Ausmaß an Vertrauensbildung, wie es in keinem anderen Bereich in einer so großen Zone überhaupt gegeben ist. Bei diesem Vertrag kann man wirklich feststellen, dass er ein enormer Fortschritt für die gemeinsame Sicherheit ist und dass er ein Beitrag ist, die Abkehr von Denkmustern des Kalten Krieges, die ja noch nicht ganz verschwunden sind, unumkehr-bar zu machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland spielte im Rahmen der Probeimplementierung eine führende Rolle. Dafür – auch das sollte hier einmal gesagt werden – ist insbesondere dem Zentrum für Verifikationsaufga-ben der Bundeswehr zu danken, das hierzu eine in der Öffentlichkeit recht wenig beachtete, aber vorzügliche Arbeit leistet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)Anfang Januar des nächsten Jahres wird dieser Vertrag endlich in Kraft treten. Die Bundesrepublik wird ihre bis-her vorbildliche Rolle allerdings nur dann weiter so ausfüllen können, wenn ein Mangel, der 1998 eingetreten ist, möglichst bald behoben wird. Seit 1998 nämlich verfügt die Bundesrepublik über keine entsprechende Beobachtungsplattform, kein entsprechendes Flugzeug mehr. Hier ist der Bedarf offenkundig. Es ist notwendig, dass es hierzu einer Einigung kommt, und zwar zu einer multilateralen Lösung in europäischer Zusammenarbeit mit dem Zieleiner wirklich modernen Ausstattung. Ich glaube, dass dieses Anliegen von allen Fraktionen des Hauses deutlichgeteilt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (…)
(3) Viel zu wenig beachtet: Das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr! Vermerk von W. Nachtwei, MdB, vom 07.05.2001 für die Grüne Bundestagsfraktion
Am 25. April beging das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (ZVBw) in Geilenkirchen bei Aachen sein zehnjähriges Bestehen mit einer großen Feierstunde, bei der Bundesaußenminister a.D. Genscher den Hauptvortrag hielt und an der auch drei Mitglieder des Unterausschusses „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ teilnahmen. Die leitenden Offiziere stellten den MdB die Arbeit des ZVBw vor.
Mit seinen 280 MitarbeiterInnen ist es nach der amerikanischen und russischen die drittgrößte Verifikationsorganisation weltweit. (GB und FR jeweils weniger als 100 Mitarbeiter)
Sein Einsatzgebiet reicht von der amerikanischen bis zur russischen Pazifikküste und deckt so die 55 OSZE-Staaten ab.
Seine Basis sind verschiedene Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge:
- der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) mit 30 Staaten
- das Wiener Dokument über militärisch-politische Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen mit 55 Staaten
- der INF-Vertrag über die Zerstörung nuklearer Mittel- und Kurzstreckenwaffen
- der Vertrag über den Offenen Himmel/open skies zur Förderung von Offenheit und Transparenz und als Beitrag Rüstungskontrolle
- das Abkommen von Dayton
- das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) mit 143 Staaten
- das Anti-Personen-Minen-Übereinkommen.
Auftrag des ZVBw ist,
die sich aus diesen Verträgen ergebenden Aufgaben zu planen und durchzuführen,
hierzu mit den Partnerstaaten und internationalen Organisationen zusammenzuwirken
die ermittelten Verifikationsergebnisse auszuwerten und zur sicherheitspolitischen Lagebeurteilung beizutragen.
Zusätzlich führt das ZVBw Anteile der BW an Beobachtermissionen der VN, OSZE, EU und WEU truppendienstlich und ist zuständig für Militärexperten mit besonderem Aufgabenspektrum (z.B. humanitäres Minenräumen).
Im ZVBw ist eine einmalige Kompetenz und Erfahrung in Sachen Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung konzentriert – diametral entgegengesetzt zu traditionellen militärischen Grundhaltungen und zu einer Mentalität von Wettrüsten und Kaltem Krieg.
Das wirkt einmal über die ständige internationale fachliche Zusammenarbeit (die „Seele der Rüstungskontrolle“) mit den Verifikationsorganisationen der Partnerstaaten und über Hilfe bei der Ausbildung von Rüstungskontrollpersonal anderer Staaten.
Das wirkt andererseits in die Bundeswehr, indem es kooperative Sicherheit, Vertrauensbildung und Abrüstung für viele Offiziere erfahrbar macht.
Die leitenden Offiziere des ZVBw sind sehr nüchtern in ihren Lageeinschätzungen, z.B. hinsichtlich der russischen Bereitschaft, wirklich ihre Chemiewaffenbestände zu vernichten, z.B. hinsichtlich der zunehmend rigiden US-Haltung zur Rüstungskontrolle.
Zugleich verweisen sie auf weitere Abrüstungschancen: In Albanien, das mit Mazedonien und Slowenien außerhalb der konventionellen Rüstungskontrollverträge steht, müssten Anreize (zivile Arbeitsplätze) geschaffen werden, das schweres Gerät zu verschrotten. Über Militärberater könne auf Streitkräftereduzierungen hingewirkt werden. (Gerade ist eine Soldatengruppe aus ALB zurück, wo man an der Zerstörung von 40.000 Kleinwaffen mitwirkte.)
Auch z.B. bei Bulgarien, Ukraine u.a. sei auf die Zerstörung von überzähligem Gerät hinzuarbeiten, bevor es in die falschen Hände gerate.
Inzwischen hat das ZVBw einen umfangreichen Katalog „Rüstungskontrollmaßnahmen zum Krisenmanagement“ erarbeitet. Erst- und einmalig ist hier zusammengefasst, welche Rüstungskontrollmaßnahmen zur Frühwarnung, Konfliktverhütung, Konfliktbewältigung und Konfliktnachsorge beitragen können. Z.B. können gemeinsame Luftbeobachtungen in Krisenregionen erheblich zur Spannungsreduzierung beitragen. Zugleich ist ein klares Bewusstsein vorhanden, wie viel gerade im nichtmilitärischen Bereich noch für eine wirksame Krisenverhütung zu tun ist. So mangelt es bis heute in der Bundesregierung an einer integrierten und alle Ressorts verknüpfenden Krisenfrüherkennung.
Das ZVBw trägt mit seinen MitarbeiterInnen hoch überproportional zu Vertrauensbildung und Sicherheit im OSZE-Raum bei – zugleich wird es in der Öffentlichkeit und auch in der Politik hoch unterproportional wahrgenommen.
Das ZVBw verdient in der Politik erheblich mehr Beachtung, zumal sich die politische Großwetterlage für Rüstungskontrolle und Abrüstung verdüstert.
Dem Auswärtigen wie dem Verteidigungsausschuss und auch anderen KollegInnen sind deshalb Besuche in Geilenkirchen dringend zu empfehlen!
Mit Oberst Hugenschmidt, stv. Kommandeur und ehemals Sekretär des Unterausschusses „Abrüstung ...“, ist die Realisierung ein Vergnügen.
(4) Bericht von der Übergabe der neuen Beobachtungsplattform „OH“ an die Bundeswehr und Interview mit dem Kommandeur des ZVBw
„Am 21. Juni 2019 wurde die neue Beobachtungsplattform „Offener Himmel“ vom Typ Airbus A319 „OH Offener Himmel“ von der Lufthansa Technik an die Bundeswehr übergeben. Ab Ende 2020 soll dieses einzigartige Luftfahrzeug für Beobachtungsmissionen über dem Anwendungsgebiet des Vertrags über den Offenen Himmel eingesetzt werden.
Vertrag über den Offenen Himmel
Der Vertrag über den Offenen Himmel wurde am 24. März 1992 durch 27 Vertragsstaaten unterzeichnet und trat nach der Ratifizierung am 1. Januar 2002 in Kraft. Mittlerweile haben 34 OSZE-Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa-Staaten den Vertrag ratifiziert.
Wert des Offener Himmel-Vertrags ist gestiegen
Das neue Offener Himmel-Flugzeug der Bundeswehr ist ein deutliches Signal zur Stärkung der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in schwierigen sicherheitspolitischen Zeiten. Deutschland leistet damit einen bedeutenden Beitrag im OSZE-Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa-Raum „von Vancouver bis Wladiwostok“. Die moderne deutsche Offener Himmel-Plattform wird die Möglichkeiten Deutschlands zur Nutzung des Offener Himmel-Vertrags deutlich erweitern, zum Beispiel durch eine größere Reichweite, die Überflüge über ganz Russland zulässt. Sie wird aber auch die Zusammenarbeit mit den Offener Himmel-Partnern weiter intensivieren, da diese das neue Flugzeug für gemeinsame Beobachtungsflüge mit Deutschland oder alleine auf der Basis einer Anmietung nutzen können.
Rechtsverbindliches Instrument
Dies stärkt die Implementierung des Offener Himmel-Vertrags und damit den Vertrag selbst als rechtsverbindliches Instrument der Vertrauensbildung in Europa. Auch die USA und Russland investieren in neue Flugzeuge und ihre Sensorausstattung. Angesichts der derzeitigen sicherheitspolitischen Lage hat damit der sicherheitspolitische Wert dieses Vertrags für Europa insgesamt zugenommen.
Der Vertrag erlaubt den 34 Vertragsstaaten gegenseitige ungehinderte Beobachtungsflüge mit vertraglich festgelegten Sensoren im Anwendungsgebiet von „Vancouver bis Wladiwostok“. An allen Flügen nehmen Vertreter der beobachtenden und der beobachteten Staaten teil – das ist ein wichtiger zusätzlicher Faktor der Vertrauensbildung.
1997: Tragischer Absturz der Tu-154
Deutschland hatte seit dem tragischen Absturz einer bis dahin durch die Luftwaffe betriebenen Tupolev Tu-154M im September 1997 kein eigenes Offener Himmel-Beobachtungsflugzeug mehr. Daher war man seither zur Wahrnehmung der vertraglichen Rechte auf Kooperation mit Partnernationen angewiesen, so vor allem mit Schweden und Rumänien. Nach der Zertifizierung und Indienststellung in 2020 wird Deutschland mit dem beschafften Airbus A319 „Offener Himmel“ wieder über ein modernes und leistungsfähiges Beobachtungsluftfahrzeug mit großer Reichweite verfügen. ( https://www.bmvg.de/de/aktuelles/ministerin-bei-uebergabe-von-a319-oh-61200
(5) Interview mit dem Kommandeur des Zentrums für Verifikations-aufgaben der Bundeswehr, Brigadegeneral Peter Braunstein, anlässlich der Übergabe der neuen Beobachtungsplattform Airbus A319 OH am 21.06.2019:
„Aus der Ost-West-Konfrontation öffnete sich mit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und der sicherheitspolitischen Entwicklung ab 1989 ein Zeitfenster für die Realisierung eines völkerrechtlich verbindlichen Vertragswerkes, um durch mehr Offenheit und Transparenz zu Vertrauensbildung und zur Stärkung der kooperativen Sicherheit im euroatlantischen Raum beitragen zu können. Den Vertrag über den Offenen Himmel unterzeichneten am 24. März 1992 27 NATO- und ehemalige Warschauer Pakt-Staaten. In Kraft trat er am 1. Januar 2002. Das Vertragsgebiet erstreckt sich von Vancouver bis Wladiwostok und umfasst nahezu die gesamte nördliche Hemisphäre. Heute haben 34 der 57 OSZE-Mitgliedsstaaten den Offener Himmel-Vertrag gezeichnet; und weitere haben ihre Bereitschaft angezeigt.
Und was genau passiert im Rahmen der Vertragserfüllung?
Im Grunde verpflichten sich die Mitgliedsstaaten gegenseitig dazu, Beobachtungsflüge über ihrem Staatsgebiet durch andere Vertragsstaaten durchführen zu lassen. Für die Anzahl solcher Beobachtungsflüge spielen die Größe und das militärische Potential des jeweiligen Landes eine wichtige Rolle. Diese sogenannten Quoten einzelner Länder werden bei der jährlich durchgeführten Sitzung der Open Skies Consultative Commission (OSCC) verteilt. Sie beinhalten die Anzahl der Rechte zur Durchführung von Beobachtungsflügen über andere Vertragsstaaten und diejenige Anzahl, die über dem eigenen Territorium akzeptiert werden müssen. Die Wahrnehmung dieser Rechte und Pflichten ist vertraglich sehr genau geregelt und komplett transparent. Für jeden Vertragsstaat ist eine maximale Flugentfernung für Beobachtungsflüge innerhalb des Landes festgelegt. Diese ist u.a. von der Größe des Landes abhängig und beträgt beispielsweise 1.300 km über der Bundesrepublik Deutschland, 5.130 km über den Vereinigten Staaten von Amerika und bis zu 7.200 km über der Russischen Föderation.
Wie müssen wir uns den Ablauf vorstellen, Herr General?
Jeder Beobachtungsflug ist spätestens 72 Stunden vor der Landung des Beobachtungsluft-fahrzeuges im beobachteten Vertragsstaat anzukündigen. In dieser Zeit muss sichergestellt werden, dass Unterkünfte, Besprechungsräume und Verpflegung organisiert sind, damit der Flug tatsächlich stattfinden kann. Dazu haben die Vertragsstaaten Flugplätze identifiziert und gemeldet, die in der Lage sind, das Beobachtungsluftfahrzeug aufzunehmen und an denen alles Notwendige bereitgehalten wird. Auf diese Weise ist ein reibungsloser Ablauf der Vertragswahrnehmung garantiert. Durch die Verteilung dieser sogenannten „Flugplätze Offener Himmel“ wird sichergestellt, dass jeder Punkt des Territoriums der Vertragsstaaten innerhalb der festgelegten Flugentfernungen überflogen werden kann. Der beobachtete Staat ist verantwortlich, dem beobachtenden Vertragspartner den Überflug über das gesamte Staatsgebiet zu gewährleisten. Dazu wird den Beobachtungsflügen Vorrang im Luftverkehr gewährt und selbst ansonsten gesperrte Lufträume für den Durchflug geöffnet.“
(6) Visualizing the Open Skies Treaty,von Alexander Graef & Moritz Kutt, April 2020, https://www.openskies.flights/
(7) „Open Skies“-Abkommen: Droht ein Ende des „offenen Himmels“? von Florian Flade und Georg Mascolo, Tagesschau 05.11.2019
„(…) Auswärtiges Amt appelliert an US-Regierung
Auch die deutsche Botschafterin in Washington D.C., Emily Haber, wurde bereits in der Sache im Weißen Haus vorstellig. Die Botschaft der Europäer an die Trump-Regierung lautet: Das "Open Skies"-Abkommen müsse unbedingt bleiben. Ähnlich sehen es die Demokraten im US-Kongress. Sie drückten "große Sorge" vor einem Ende der Vereinbarung aus.
"Der 'Open Skies'-Vertrag ist einer der letzten funktionierenden Mechanismen zur Vertrauensbildung zwischen Europa und Russland und ein Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur", teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes mit. Man werbe deshalb bei den Partnern dafür, "den Vertrag zu erhalten und ihn weiter in vollem Umfang umzusetzen". Insbesondere kleinere Staaten seien auf die technische Unterstützung der USA angewiesen, um Überwachungsflüge durchführen zu können. "Ohne diesen Vertrag ginge für Europa erneut ein Stück Sicherheit verloren."
(8) Angriff auf den Open-Skies-Vertrag - Präsident Trump will den Vertrag über den Offenen Himmel kündigen, SWP-Aktuell Nr. Mai 2020, Wolfgang Richter
„Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die USA den multilateralen Vertrag über den Offenen Himmel (OH) verlassen werden und Russland bald folgen könnte. Damit würde Präsident Trump den Rückzug der USA aus der regelbasierten Sicherheits-ordnung fortsetzen und eine weitere Bresche in die Rüstungskontrollarchitektur schlagen. Deren kontinuierlicher Abbau, ein neuer Rüstungswettlauf sowie die Rück-kehr bewaffneter Konflikte und von Szenarien nuklearer Kriegsführung gefährden die europäische Sicherheitsordnung und die strategische Stabilität. Der OH-Vertrag gestattet kooperative Beobachtungsflüge über den Territorien der Vertragsstaaten. Damit lässt sich ein Mindestmaß an militärischer Transparenz und Vertrauensbildung auch in Krisenzeiten bewahren. Dies kann nicht durch nationale Satellitenaufklärung ersetzt werden, zumal sie nur wenigen Staaten zur Verfügung steht. Eigenständige Beobachtungsoptionen sind gerade für Bündnispartner in Spannungsregionen wichtig. Deutschland muss sich gemeinsam mit den europäischen Partnern nachdrücklich dafür einsetzen, den OH-Vertrag zu erhalten. (…)“
Die USA werden sich aus dem "Open Skies"-Vertrag zur Rüstungskontrolle zurückziehen. Präsident Trump beschuldigte Russland, gegen das Abkommen verstoßen zu haben. Experten halten die Begründung für vorgeschoben.
Ein offener Himmel "von Vancouver bis Wladiwostok" - diese Formel ist das Fundament des "Open Skies"-Vertrags, der den Unterzeichnerstaaten gegenseitige Aufklärungsflüge zusichert. Damit sollte nach Ende des Kalten Krieges zwischen den NATO- und ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Vertrauen aufgebaut und Transparenz bei der Rüstungskontrolle und Truppenbewegungen geschaffen werden.
Die USA werden sich aus diesem internationalem Vertrag zurückziehen, wie das Weiße Haus ankündigte. Der formelle Austritt werde nach den Bestimmungen in sechs Monaten vollzogen. Präsident Donald Trump beschuldigte Russland, wiederholt gegen das Abkommen verstoßen zu haben.
Kaliningrad nur vorgeschobener Grund?
Russland begrenze zum Beispiel Kontrollflüge über der russischen Exklave Kaliningrad, was "die Transparenz in einem sehr militarisierten Gebiet reduziert", erklärte ein Sprecher des Pentagon. Dies gelte auch für die Grenze zwischen Russland und Georgien.
Tatsächlich gibt es seit 2014 Streit über Kaliningrad, nachdem ein polnischer Beobachtungsflug über dem Gebiet sehr lange gedauert hatte. Dagegen protestierte die russische Regierung und änderte eigenmächtig die Regeln für die Exklave an der Ostsee. Dies gestattet der Vertrag allerdings nicht.
Nach Einschätzung der Stiftung Wissenschaft und Politik sind Beobachtungsflüge über der russischen Exklave dennoch "in ausreichendem Umfang" möglich. "Eine essentielle Einschränkung der Vertragsimplementierung liegt demnach nicht vor", schreibt der deutsche Think Tank.
"Schlag gegen das Fundament der europäischen Sicherheit"
Der russische Vizeaußenminister Alexander Gruschko sagte der Nachrichtenagentur Ria-Nowosti: "Der Rückzug der Vereinigten Staaten aus diesem Vertrag bedeutet nicht nur einen Schlag gegen das Fundament der europäischen Sicherheit, sondern auch gegen die bestehenden militärischen Sicherheitsinstrumente." Die Entscheidung Washington schade den US-Verbündeten in Europa.
Satelliten statt Flugzeuge
Sogar das Pentagon räumt hinter vorgehaltener Hand ein, dass die "Open Skies"-Überflüge für die USA durch die Fähigkeiten moderner Überwachungssatelliten an Bedeutung verloren haben. Dann wären die Vorwürfe gegen Russland nur vorgeschoben, um aus einem ungeliebten - weil einschränkenden - internationalem Vertragswerk auszusteigen.
Denn vor "Open Skies" haben sich die USA unter Trump bereits aus dem Atomabkommen mit dem Iran, dem INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen oder etwa dem Pariser Klimaabkommen verabschiedet.
Nachteil für Deutschland
Mit den USA fehlt "Open Skies" einer von zwei zentralen Akteuren. Ähnlich wie beim INF-Vertrag ist es wahrscheinlich, dass sich nun auch der zweite große Partner, Russland, aus dem Vertrag zurückzieht.
Ein Nachteil ist dies vor allem für kleinere Staaten - wie Deutschland - die bisher weniger in die Satellitenüberwachung investiert haben. So ist auch zu erklären, dass mehrere NATO-Staaten die US-Regierung im Vorfeld gebeten haben, am Abkommen festzuhalten. Der Ausstieg der Vereinigten Staaten hatte sich seit Monaten angedeutet.
Aufklärungsergebnisse werden geteilt
Die unbewaffneten Aufklärungsflüge dienen dem Bundesverteidigungsministerium zufolge der "Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in schwierigen sicherheitspolitischen Zeiten". An allen Flügen nehmen immer sowohl Vertreter der beobachtenden als auch der beobachteten Staaten teil. Außerdem werden die Aufklärungsergebnisse allen Unterzeichnerstaaten zur Verfügung gestellt.
"Open Skies" hat 34 Unterzeichnerstaaten. Darunter sind fast alle NATO-Staaten, sowie Russland, Belarus und die Ukraine. Auch Finnland und Schweden haben sich dem Offenen Himmel verschrieben.
(10) Erklärung der Außenminister Belgiens, Deutschlands, Finnlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Spaniens, Schwedens und der Tschechischen Republik zur Ankündigung der USA, aus dem Vertrag über den Offenen Himmel auszutreten, 22. Mai 2020 :
„Wir bedauern, dass die US‑Regierung die Absicht bekundet hat, vom Vertrag über den Offenen Himmel zurückzutreten, obgleich wir ihre Bedenken teilen, was die Umsetzungen des Vertrags durch Russland angeht.
Der Vertrag über den Offenen Himmel ist ein zentrales Element des vertrauensbildenden Rahmens, der im Lauf der vergangenen Jahrzehnte geschaffen wurde, um Transparenz und Sicherheit im gesamten euro‑atlantischen Raum zu verbessern.
Wir werden den Vertrag über den Offenen Himmel, der sowohl für unsere Architektur der konventionellen Rüstungskontrolle als auch für unsere kooperative Sicherheit einen eindeutigen Mehrwert hat, weiterhin umsetzen. Wir bekräftigen, dass dieser Vertrag funktionsfähig und nützlich bleibt. Der Rücktritt wird binnen sechs Monaten wirksam.
Mit Blick auf Fragen bezüglich der Umsetzung des Vertrags werden wir, wie zuvor unter den NATO‑Bündnispartnern und anderen europäischen Partnern beschlossen, weiterhin auf Russland einwirken, um offene Fragen wie die unzulässigen Beschränkungen der Flüge über Kaliningrad anzugehen. Wir rufen die Russische Föderation weiterhin auf, diese Beschränkungen aufzuheben, und werden unseren Dialog mit allen Parteien fortsetzen.“
(11) Die Rettung von „Open Skies“ ist ein Test für die strategische Autonomie der EU, sagt Alexander Graef, taz 27.05.2020, https://taz.de/US-Rueckzug-aus-Open-Skies-Abkommen/!5685007/
Der angekündigte Rückzug der USA aus dem Vertrag über den offenen Himmel – „Treaty on Open Skies“ – ist ein weiterer schwerer Schlag für die Rüstungskontrolle, die militärische Transparenz und Vertrauensbildung zwischen der Nato und Russland. Bei jedem Aufklärungsflug über Russland sitzen Nato-Militärs gemeinsam mit russischen Soldaten*innen in einem Flugzeug. Das ist einmalig. Die gemachten Aufnahmen stehen prinzipiell allen 34 Mitgliedsstaaten zur Verfügung, das schafft Transparenz und gegenseitiges Vertrauen.
Seit 2002 wurden mehr als 1.500 Flüge durchgeführt. Ein Drittel davon ging über Russland und Weißrussland. Die bei Überflügen verwendeten Flugzeuge sind deutlich unabhängiger von Wolkenbildung als Satelliten, deren Daten zusätzlich der Geheimhaltung unterliegen. Die allermeisten europäischen Staaten besitzen auch überhaupt keine Aufklärungssatelliten. Für sie ist der Vertrag deshalb auch militärisch relevant.
Das offizielle Rücktrittsgesuch der USA wurde bereits am vergangenen Freitag eingereicht. Sechs Monate später würde es laut Vertrag in Kraft treten. Die US-Regierung umgeht damit auch eine Auflage des Kongresses, die eigentlich eine 120-Tage-Frist vorsieht, bevor ein Rücktrittsgesuch eingereicht werden kann. Laut Vertrag müssen die Mitgliedsstaaten nun in spätestens 60 Tagen auf einer Konferenz entscheiden, wie es mit dem Vertrag weitergeht und was der Rücktritt der USA bedeutet. Auch eine Auflösung ist möglich.
In den nächsten Wochen kommt es auf die Europäer an: Sie müssen nun versuchen, Russland im Vertrag zu halten, denn ohne Moskau hätte dieser wenig Sinn. Insbesondere Deutschland ist gefordert. Erst im vergangenen Sommer hat die Bundeswehr für rund 120 Millionen Euro ein neues Flugzeug für Aufklärungsflüge erhalten, das 2021 zum Einsatz kommen soll. Der Erhalt des Vertrags ist auch ein erster Test für die viel beschworene strategische Autonomie der Europäischen Union sowie für die von Außenminister Heiko Maas ins Leben gerufene Allianz für den Multilateralismus.