Alljährlich kommen in der Evang. Akademie Villigst so viele Menschen mit Afghanistan-Erfahrung, Kompetenz-, -Herkunft und -Herz zusammen wie nirgendwo sonst in Europa, jetzt zum 32. Mal. Nach Ex-Präsident H. Karzai im Vorjahr in diesem mit Dr. Habiba Sarabi, stellv. Vorsitzende des High Peace Council und ehem. Gouverneurin von Bamyan, Botschafter M. Potzel, Sonderbeauftragter der Bundesregierung für AFG + PAK, Prof. Milad Karimi, Uni Münster, Ramiz Bakhtiar, AFG Youth Representative to the UN, Mansur Faqiryar, afg. Nationaltorhüter 2011-2014, Hier mein Vortrag zum Tagungsabschluss, der auch ein Kommentar zur Ankündigung eines US-Teilabzuges ist.
„Gehen oder bleiben?“ Mein Vortrag bei der
32. Afghanistan-Tagung in Villigst – vier Wochen vor der
Ankündigung eines US-Teilrückzugs aus Afghanistan
von Winfried Nachtwei, MdB 1994-2009
Die 32. Afghanistan-Tagung in Villigst/Ruhr war wieder ein Ort des genauen Hinsehens, konstruktiven Austauschs und der hartnäckig-aktiven Solidarität.
Das Thema in diesem Jahr „Nach 40 Jahren Krieg: Afghanistan an der Schwelle zum Frieden?“(Programm siehe unten)
Ein ausführlicher Bericht zu der Tagung am 23.-25. November 2018 in der Ev. Akademie Villigst/Ruhr folgt! Der Bericht von der 31. Tagung „HINSEHEN statt Wegsehen – MUTMACHER gegen die Gewaltseuche“ unter http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1512
Erste Kommentare zur Ankündigung des US-Teilrückzuges von Thomas Ruttig, A. Cordesman/CSIS, auf Long War Jounal, Telepolis, TOLOnews, New York Times, FAZ, Tagesspiegel unter http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1566
Mein Impulsvortrag
Gehen oder bleiben? Wie sollte Deutschland die
aktuellen Friedensbemühungen in Afghanistan unterstützen?
(mit ANHANG zur Schlüsselfrage „Gehen oder bleiben?“)
Guten Morgen, meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!
Der ursprünglich eingeplante Referent, ein Bundeswehroffizier mit langjähriger und frischer Afghanistanerfahrung, musste leider aus Krankheitsgründen absagen. Als kurzfristiger Ersatz konnte ich mich nicht so sorgfältig vorbereiten. Ich danke für Ihr Verständnis.
Als Mitglied des Bundestages und des Verteidigungsausschusses bis 2009 war ich seit 2001 an 20 Mandatsentscheidungen zu Afghanistan beteiligt, erst zustimmend, dann wegen Kritik an der deutschen Afghanistanpolitik enthaltend. Die Mitverantwortung für den deutschen Afghanistaneinsatz hält bis heute an.
Meine heutigen Ausführungen orientieren sich an meinen Vorträgen zu Afghanistan, wie ich sie vor Publikum ohne besonderen Afghanistanbezug halte. Informationen aus Gesprächen mit Referenten des Auswärtigen Amtes, des Entwicklungsministeriums, der Bundeswehr und einem Bundestagsabgeordneten in den letzten Tagen fließen ein.
Der bebilderte Vortrag gliedert sich folgendermaßen:
(1) Startphase
(2) Übergabe der Sicherheitsverantwortung 2014/15
(3) Konflikteskalation
(4) Entwicklungszusammenarbeit unter Bedrohung
(5) Friedensdrängen
(6) Großprobleme – hier nur angetippt
(7) Deutsche Politik und Afghanistan
(8) Ausblick
ANHANG zur Schlüsselfrage: GEHEN oder BLEIBEN?
(Die Kurzbeschreibungen der Bilder sind fett gedruckt. Die schriftliche Fassung ist gegenüber dem gesprochenen Wort an einigen Stellen erweitert.)
(1) Startphase
Tafel Paktia-Projekt 1962-1978 aus der Ausstellung „100 Jahre Deutschland Afghanistan – Freundschaft und Zusammenarbeit“: Die deutsch-afghanischen Beziehungen sind reich an konstruktiven und freundschaftlichen Erfahrungen. In Afghanistan ist das viel mehr bekannt als in Deutschland. Die Ausstellung wurde erfolgreich in mehreren Städten Afghanistans gezeigt, leider nicht hierzulande. Seitens der „Afghanistan-Ressorts“ gab es unverständlicher Weise keine Bereitschaft, die Chance dieser hervorragenden Ausstellung zu nutzen.
Saur-(April-)Putsch 1978: Vor 40 Jahren begannen in Afghanistan politische Gewalt und Krieg – nicht „erst“ mit der internationalen Intervention 2001.
Kundgebung vorm Brandenburger Tor am 14. September 2001: Vor rund 200.000 Menschen die Spitzen der deutschen Politik. Einmütig war die Bereitschaft, den von Terroristen angegriffenen USA Solidarität zu zeigen. Für Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer blieb die Bündnis-/USA-Loyalität ausschlaggebende Motivation auch im Hinblick auf Afghanistan.
UN-Hauptquartier in New York mit den ersten Sätzen der UN-Charta: Als das Taliban-Regime schneller als erwartet zusammenbrach, riefen die Vereinten Nationen dazu auf, das von 23 Jahren Krieg, Besatzungund Terror zerstörte Afghanistan beim Übergang vom Waffenstillstand zu Frieden und beim Aufbau zu unterstützen. Dem nachzukommen, auch mit einer kleinen „Sicherheitsunterstützungstruppe“ (ISAF) für Kabul, war für die große Mehrheit des Bundestages selbstverständlich. (Dass bei der Internationalen Petersberg-Konferenz zu Afghanistan Anfang Dezember 2001 keine Taliban-Vertreter einbezogen waren, erwies sich später als strategischer Fehler.)
Buchtitel „Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen“ von Siba Shakib: Diese harte Geschichte der afghanischen Flüchtlingsfrau Shirin-Gol war lange Bestseller in Deutschland, Zeichen eines breiten Mitgefühls mit den geschundenen Menschen in Afghanistan.
Deutsche ISAF-Soldaten im Marktgetümmel in Kabul Augst 2003: Eine exemplarische Szene damals: leicht bewaffnete ISAF-Soldaten in Kabul- eher „auf Streife“ als auf Patrouille, Ausdruck des light footprint. In Berlin, New York und anderen Hauptstädten war bewusst, dass es völlig aussichtslos ist, den Afghanen von außen mit militärischem Zwang den eigenen Willen aufzwingen zu wollen. Die Weltmächte Großbritannien und Sowjetunion haben das blutig zu spüren bekommen. Deshalb war der Unterstützungsansatz ernst gemeint, „ja keine Besatzer sein!“ Zweitens: Im Sommer 2003 waren US-Soldaten bei ISAF nicht zu sehen. Die US-Administration unter Präsident Bush verachtete die Unterstützung von Statebuilding, konzentrierte sich auf rein militärische Terrorbekämpfung ohne sonderlich Rücksicht auf die Bevölkerung und hatte ihren Schwerpunkt längst auf den Krieg gegen den Irak verlagert. Mit anderen Worten: Zwischen den westlichen Verbündeten bestand ein strategischer Dissens, der auf der politischen Ebene über Jahre nicht ausgetragen und geklärt wurde.
Deutsche Polizisten und Polizistinnen des Deutschen Polizeiprojektbüro (GPPB) 2003: Damals und bei fast allen anderen Afghanistanaufenthalten besuchte ich die deutschen Polizisten des späteren German Police Project Team (GPPT). Durchweg erfuhr ich sie als besonders kompetente Polizisten, die ihren afghanischen Kollegen auf gleicher Augenhöhe begegneten, ohne Besser-Wessi-Gehabe. Deutschland hatte die Lead-Rolle bei der Koordination der internationalen Polizeiaufbauhilfe übernommen. (Die USA beim Armeeaufbau, Großbritannien bei der Drogenbekämpfung, Italien beim Justizaufbau) Der Haken: Das GPPT umfasste jahrelang ganze zwölf Beamte. Das war Ausdruck der enormen Unterschätzung der Aufgabe Staatsaufbau, die sich auch auf anderen Feldern zeigte. Nicht bewusst war, dass sich die Internationale Gemeinschaft in Afghanistan in ein multinationales Engagement eingelassen hatte, wie es das in dieser Komplexität in der Geschichte bisher nicht gegeben hatte: Vielzahl der staatlichen und nichtstaatlichen, internationalen und nationalen Akteure, Vielfalt unterschiedlicher, oft widerstreitender Interessen und Ziele, oft unzureichende Landeskenntnis und Konfliktverständnis, unterhalb der allgemeinen Mandatsziele Kohärenz- und Strategiemangel.
In der Koranschule Kunduz Mai 2007: Seit 2004 war ich fast jedes Jahr in Kunduz, sah die hoffnungsvollen Aufbaufortschritte in der Infrastruktur, im Gesundheits- und Bildungswesen. Eine von Forschern der FU Berlin initiierte Umfrage in den Provinzen Kunduz und Takhar ergab, dass rund 80% einen Sicherheitsgewinn sahen, der den ausländischen Soldaten zu verdanken sei. Auf meine Frage an die Koranschüler, wie sie die begleitenden deutschen Soldaten erfahren würden, kam die Antwort „Die verhalten sich anständig“. In einer Gesellschaft, wo Ehre und Respekt eine zentrale Rolle spielen, erschien mir ein solches Urteil über fremde Soldaten als Bestnote.
14 Tage später: Selbstmordanschlag auf dem Markt von Kunduz, drei zerfetzte Bundeswehrsoldaten, sieben zerfetzte afghanische Zivilisten. Von da an ging es in der Provinz, die in den ersten Jahren als Hoffnungsprovinz galt, mit der Sicherheit schrittweise bergab. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1471 )
„Der Kampf um die Herzen der unglücklichen Brüder“ von Friederike Böge in der FAZ vom 28.12.2007: Vorschläge und Einzelinitiativen zu politischen Gesprächen mit den Aufständischen wurden von den mächtigsten Playern beiseite gewischt. Über einen entsprechenden Vorschlag des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck bei einem Afghanistanbesuch machte man sich auch im politischen Berlin eher lustig.
(2) Übergabe der Sicherheitsverantwortung 2014/2015
Nach der Präsidentschaftswahl 2014: Die Kopf-an-Kopf-Sieger Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah mit US-Außenminister Kerry, der sie in eine gemeinsame Regierung zwang. Die „Regierung der nationalen Einheit“ erwies sich in der Realität als Regierung der nationalen Blockade. (Die für Abdullah Abdullah geschaffene Position eines Geschäftsführers ist in der afghanischen Verfassung gar nicht vorgesehen)
Schaubild zur Resolute Support Mission (RSM): Unter den Hauptstädten von Kabul über Berlin bis Washington bestand Einmütigkeit, die ISAF-Kampftruppen bis Ende 2014 abzuziehen und durch die NATO-geführte Beratungstruppe Resolute Support Mission mit dem Auftrag Train, Advice, Assist (TAA) zu ersetzen. Bei einer Personalstärke von rund einem Zehntel von ISAF sollte RSM nur auf höchsten Ebenen (Ministerium, Corps, Divisionen) in geschützten Feldlagern, weit weg von jeder Umsetzungsebene, beraten. RSM bestand aus der „Nabe“ in Kabul mit den TAA-Commands Central und Air, und den „Speichen“ der TAAC North, West, South und East. Nach zwei Jahren sollte RSM insgesamt abgeschlossen werden. Vor allem militärische Fachleute warnten, dass jetzt die Aufständischen nur abwarten brauchten, um dann die auf sich gestellten afghanischen Sicherheitskräfte umso wirksamer attackieren zu können. Die Lageverschärfung ab 2014 bestätigte die Warnungen und brachte die NATO dazu, ihre Abzugsplanung zu revidieren, diese an die realen Fähigkeitsfortschritte der afghanischen Sicherheitskräfte (condition based) zu knüpfen und die Befugnisse von RSM etwas zu erweitern.
TAAC North: Von den insgesamt 2.000 RSM-Soldaten des TAAC North (davon 880 deutsche) sind 150 Berater (davon 100 deutsche). Seit 2014 fragte ich immer wieder, ob der bisherige Beratungsansatz quantitativ und qualitativ ausreichend sei, um die notwendige Wirkung zu erzielen. Eine konkretee Antwort blieb bis heute aus.
Schaubild Polizeiausbildung in Kabul und im Norden: Für nachhaltige Sicherheit und Rechtsstaatsförderung ist der Aufbau von Polizei (und Justiz) von strategischer Bedeutung. Sechs Jahre nach Start, 2008, intensivierte die Bundesregierung die deutsche Polizeihilfe mit der Errichtung des Regionalen Polizeitraining-Centers in Mazar und dem Einsatz von bis zu 200 Polizeibeamten.
Alphabetisierung von Polizisten: Die GIZ entwickelte das Projekt „Alphabetisierung und nachholende Grundbildung“ für Polizisten, das in zwischen in allen 34 Provinzen von ausschließlich afghanischen Kräften umgesetzt wird. Wo sonst niemand sagen kann, wo sich ausgebildete Polizisten nach ein, zwei Jahren befinden, erscheint mir dieses Projekt als besonders sinnvoll.
Parallel zu RSM ist auch der Personalansatz der deutschen Polizeihilfe wieder stark reduziert worden. Zurzeit sind 14 Polizisten in Mazar und 39 in Kabul beim GPPT eingesetzt. Bei den Bundestagsdebatten zum Afghanistanmandat findet die Polizeiaufbauhilfe trotz ihrer strategischen Bedeutung seit Jahren praktisch keine Erwähnung, nur selten bei den Dankesworten. (Die EU hat ihre Mission EUPOL 2016 vollständig eingestellt. Zum TAAC-North gehören rund zehn internationale Polizeiberater.)
(3) Konfliktverschärfung
Verwüstete Büros des Provinzrates und der Unabhängigen Menschenrechtskommission: Im Oktober 2015 besetzten die Taliban binnen weniger Stunden Kunduz und terrorisierten die Stadt 14 Tage lang. Um die 280 Menschen wurden getötet. Verfolgt wurden vor allem solche Menschen, die sich für Aufbau und Menschenrechte einsetzten. Die erstmalige Eroberung einer Provinzhauptstadt war ein enormer Schock. Im politischen Berlin wurde der Fall von Kunduz, der Schwerpunktprovinz des deutschen Afghanistaneinsatzes mit den meisten Gefallenen und Verwundeten, bemerkenswert wenig zur Kenntnis genommen. ( http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1373 )
Massendemonstration in Kabul am 12. November 2015: Nach der Ermordung von sieben Hazara (vier Männer, zwei Frauen, ein neunjähriges Mädchen) in Zabul gingen so viele Menschen in Kabul und vielen anderen Städten zu Protesten auf die Straße wie seit 40 Jahren nicht, in der Hauptstadt allein rund 20.000. In den deutschen Medien tauchte diese erste Massenauflehnung gegen den Terror nicht auf – es war der Vortag der Terroranschläge von Paris am 13. November. ( http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1381 )
Überreste von Anschlagsopfern am 27. Juli 2016: 10.000 Menschen, zum großen Teil Hazara, demonstrierten in Kabul friedlich zu einer geplanten Stromtrassenführung. Ein Selbstmordattentäter ermordete 85 Menschen und verwundete über 400. Erstmalig übernahm der afghanische Ableger des IS die Verantwortung für einen Großanschlag. Es war der erste Angriff auf eine friedliche Demonstration.
Schaubilder aus dem UNAMA Report zu Zivilopfern 2009-2017: Ein zentraler Indikator für die Sicherheitslage ist die Zahl der Zivilopfer im Kontext des Gewaltkonflikts. Regelmäßig veröffentlicht UNAMA hierzu Berichte, deren Zahlenangaben auf sehr konservativen Erhebungen beruhen. Die realen Opferzahlen liegen um einiges darüber. Auffällig ist, dass die Zahl der Zivilopfer 2014 um 20% anstieg und seitdem auf dem Extremniveau von über 10.000 Zivilopfern, davon um die 3.500 Tote, verharrt. Die Schlussfolgerungen liegen auf der Hand:
- Die Behauptung, die afghanischen Sicherheitskräfte seien bei Übergabe der Sicherheitsverantwortung mit eigenen Kräften durchhaltefähig, war irrig. Illusionär war die Erwartung der ISAF-Truppensteller, binnen weniger Jahre mit halbherzigen und inkohärenten Maßnahmen funktionierende Sicherheitskräfte aufbauen zu können.
- ISAF hinterließ wegen des politisch gewollten Abzuges kein ausreichend sicheres Umfeld (so der militärische Auftrag),
- Hoffnungen bzw. Erwartungen, mit dem Abzug von ISAF als angeblichem „Stein des Anstoßes“ würde der Krieg „verlöschen“, erfüllten sich nicht, im Gegenteil. Krass sind seitdem die Verluste der afghanischen Armee und Polizei. Laut New York Times sollen allein 2017 10.000 afghanische Sicherheitskräfte gefallen und über 16.000 verwundet worden sein.
Schaubild UNAMA, Zivilopfer nach Umständen in 2017: 40% durch Sprengstoffanschläge, davon 22% Suizid- und komplexe Angriffe, 33% im Kontext von Bodenkämpfen, 11% gezielte Tötungen, 6% Luftwaffeneinätze. (https://unama.unmissions.org/protection-of-civilians-reports ; http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1518
Zerstörtes Kanzleigebäude der deutschen Botschaft: Eine Lkw-Bombe wurde am 31. Mai 2017 im Kabuler Berufsverkehr in unmittelbarer Nähe zur deutschen Botschaft gezündet. Sie kostete mehr als 100 Menschen das Leben und verwundete mehr als 600. Nach dem Angriff auf das deutsche Generalkonsulat in Mazar Ende 2016 verlor Deutschland damit seine beiden diplomatischen Vertretungen in Afghanistan. Ein großes Glück im Unglück war, dass aufgrund einer Sicherheitsanalyse das Kanzleigebäude seit einiger Zeit geräumt war. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1475 )
70% aller Suizid- und komplexen Angriffe geschahen 2017 in der besonders gesicherten Hauptstadt. Hier, unter den Augen der Medien und internationalen Öffentlichkeit, erreichen die Angreifer mit ihren Massakeranschlägen die maximale psychologische Wirkung an Angst, Schrecken, Ohnmacht, Vertrauensverlust der Regierung.
IS-Anschlag auf die schiitische Imam Zaman Moschee am 20.10.2017 in Kabul. Dieser Anschlagtyp steht für die extreme Enthemmung, wo Attentätern nichts mehr heilig ist und die Absicht verfolgt wird, den Gewaltkonflikt durch Konfessionalisierung zu radikalisieren. Solche Anschläge verdreifachten sich 2017. (https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_report_on_attacks_against_places_of_worship_7nov2017_0.pdf )
US-Präsiden Trump: Lange war völlig ungewiss, welchen Kurs die US-Administration unter dem neuen Präsidenten verfolgen würde. Am 22.08.2017 sprach Präsident Trump zum US-Einsatz in Afghanistan: „Wir betreiben kein Nation Building mehr. Wir töten Terroristen!“
Ersteres wurde bisher so nicht umgesetzt. Das zweite wohl.
Airpower Summary US Airforce Central Command: Im September 2018 wurden von der US-Luftwaffe 841 Bomben + Raketen abgeworfen bzw. abgeschossen gegenüber 414 im Sep. 2017 und 232 in 2013. Inzwischen werfen die USA aus bemannten und unbemannten Luftfahrzeugen so viele Bomben über Afghanistan ab wie nie seit 2004:
310 in 2006, 1.708 in 2007, 5.101 in 2010. 2.365 in 2014, 947 in 2015, 1.337 in 2016, 4.361 in 2017. Bis Ende September wurden 5.213 abgeworfen. Die Einsatzregeln wurden gelockert, „troops in contact“ ist nicht mehr die notwendige Voraussetzung für Luft-Boden-Einsätze. Lt. UNAMA ist die Zahl der Zivilopfer bei Luftwaffeneinsätzen so hoch wie nie seit Beginn der Zählung 2009.
Insgesamt steigerten und verschärften die US-Streitkräfte ihre Kampfeinsätze gegen die Aufständischen auch am Boden erheblich – sowohl im Rahmen der US-Operation Freedom`s Sentinel wie auch bei CIA-Geheimoperationen. Das Zielspektrum wurde erweitert, die Einsatzregeln gelockert. Delta-Force-Einheiten sollen laufend Kill-Operationen durchführen.
Ohne die Kampfoperation Freedom`s Sentinel wären die afghanischen Sicherheitskräfte (und damit auch Resolute Support) wohl kaum überlebensfähig. Kein Wunder, dass auf Seiten der afghanischen Sicherheitskräfte die offensivere Operationsführung der US-Kräfte begrüßt wird. Zugleich kann sie zur Konflikteskalation beitragen. US-General Stanley McChrystal, 2009/10 COMISAF, sprach 2009 von „COIN mathematics“: Wer zwei Aufständische töte, können über ihre Brüder, Väter, Söhne und Freunde schnell zehn neue Aufständische produzieren.
Kontrolle von Gebieten und Bevölkerung: Laut 41. Quartalsbericht des Special Inspector General für Afghanistan Reconstruction (SIGAR) vom 30. Oktober 2018 befanden sich im Mai 2016 66% der Distrikte unter Regierungskontrolle bzw. –einfluss; 25% waren umkämpft; 9% unter Kontrolle/Einfluss der Aufständischen. Im Mai 2018 waren die Distrikte auf Seiten der Regierung um 10% auf 56% zurückgegangen, die umkämpften Distrikte und die auf Seiten der Aufständischen um je 5% angestiegen. ( https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2018-10-30qr.pdf , S. 70) Laut New York Times vom 08.09.2018 sollen aber nicht 44% der Distrikte von den Taliban kontrolliert oder umkämpft sein, sondern 61%. Die seit Jahren wiederholte Behauptung der NATO, zwischen Pro-Regierungskräften und Aufständischen bestehe ein Patt, ist auch aus den folgenden Grünen nicht glaubwürdig: Die jährliche Schwundrate der afghanischen Sicherheitskräfte soll 30% betragen. Laut offiziellen US-Angaben sollen die Taliban 2014 über rund 20.000, 2018 über 60.000 Kämpfer verfügt haben. Lt o.g. SIGAR-Bericht waren die Verluste der ANDSF von Mai bis Oktober 2018 so hoch wie nie in dem Zeitraum. Die meisten und zunehmenden Verluste erleiden Polizei und Armee bei Angriffen auf Checkpoint, wo „Red Units“ der Taliban inzwischen über US-Waffen und Nachtkampffähigkeit verfügen. (https://www.nytimes.com/2018/01/16/world/asia/taliban-red-unit-afghanistan.html )
„The Taliban`s Fight for Hearts and Minds“, Foreign Policy 12.09.2018: Eine neue Strategie der Militanten sei, die US-gestützte Administration „to out-govern“. Am 22.01.2018 berichtete die WELT unter dem Titel „Schöner wohnen mit den Talban“ von einer ähnlichen Entwicklung in der Provinz Kunduz. Welchen Stellenwert solche Vorkommnisse haben, kann ich nicht beurteilen.
Schaubild Binnenflüchtlinge im Kontext des Gewaltkonflikts (SIGAR Juli 2018): Ihre Zahl ging von 100.000 in 2012 über 200.000 in 2014, 470.000 2015, 670.000 2016 auf 470.000 2017.
(4) Entwicklungszusammenarbeit unter Bedrohung
„Die deutsche Zusammenarbeit mit Afghanistan“, Karte(GIZ Juli 2017): Ihre Schwerpunkte sind: Gute Regierungsführung, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigungsförderung, Stadtentwicklung und kommunale Infrastruktur (Energie, Wasserversorgung, Abwasserentsorgung), Bildung und Ausbildung, humanitäre Hilfe und Stabilisierung. Für das Schwerpunktland deutscher Entwicklungszusammenarbeit und Stabilisierungshilfe stehen bis 2020 jährlich 430 Mio. Euro zur Verfügung, davon 250 Mio. für die EZ, 180 Mio. für Stabilisierungsprojekte des AA. Deutschland ist der zweitgrößte bilaterale Geber!
„Hilfe per Fernsteuerung“ von Friederike Böge, FAZ 15.08.2016: (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1424 ): Bis zur Zerstörung der deutschen Botschaft war Afghanistan in finanzieller und personeller Hinsicht d a s Schwerpunktland deutscher EZ und Stabilisierungshilfe. Jetzt wurden alle ausländischen EZ-MitarbeiterInnen abgezogen. Aber der Wille, die Aufbauunterstützung fortzusetzen, war ungebrochen. Fernsteuerung wurde wichtiger, die Verantwortung afghanischer MitarbeiterInnen nahm zu. Neben rund 1.200 Ortskräften arbeiten wieder knapp 100 deutsche bzw. internationale MitarbeiterInnen im Kontext der deutschen EZ in AFG.
Berufsausbildungs(Technical and Vocational Education and Training/TVET)-Campus Takhta Pul bei Mazar (Antrittsbesuch der Direktorin der neuen TVET-Authority Anfang Juli 2018): Der Campus wurde mit Hilfe der Kreditanstalt für Wiederaufbau errichtet und umfasst ein Landwirtschaftsinstitut, eine Ingenieurschule und eine Berufsschullehrerakademie. 1500 junge Leute studieren hier. Der Betrieb läuft gut und störungsfrei. Der Campus soll in seiner Art in Afghanistan einmalig sein. Hier wachsen für Tausende Menschen Perspektiven. Ein Projekt, das deutlich mehr ist als ein Tropfen auf den heißen Stein. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1368 )
Übergabe von zwei Schulen, einem Teacher Training College und einem Bewässerungskanal durch die Afghanisch-Deutsche Zusammenarbeit in Baghlan: Pressemitteilung vom 11. Juli 2017 auf http://germancooperation-afghanistan.de/de/front
Schullandschaft Jaghori in der Provinz Ghazni: Der Freundeskreis Afghanistan entstand 1980/81 kurz nach der sowjetischen Invasion aus dem Kreis ehemaliger westdeutscher Entwicklungshelfern. In Jaghori, einer Hazara-Enklave in der Provinz Ghazni, wuchs im Laufe der Jahre mit Unterstützung des FKA eine Schullandschaft aus neun Schulen, die staatlich registriert und landesweit wegen ihres hohen Bildungsniveaus bekannt wurden.
Seit 2005 gibt es in Jaghori ein dreiköpfiges Schulkomitee, in dem Personen verschiedener Clans zusammenwirken. Mitglieder des FKA und Verantwortliche der Schulen kennen und vertrauen sich seit zehn und mehr Jahren. In den letzten zwölf Jahren gab es keinerlei Beanstandungen und war die Zusammenarbeit ausgesprochen verlässlich. Auf Seiten des FKA lagen die Verwaltungskosten bei 5%.
https://www.fk-afghanistan.de/index.php/projekte/projektstandorte/62-jaghori
Wegen der Verschärfung der Sicherheitslage im umliegenden Paschtunengebiet ist Jaghori für Dritte, also auch Vertreter des FKA, nicht mehr erreichbar. Die bei Ko-Finanzierungen vorgeschriebene Überprüfung von Baumaßnahmen vor Ort ist zzt. nicht mehr möglich, Ko-Finanzierungen sind also blockiert. Da dies mit einem Rückgang der Afghanistanspenden zusammenfällt, befürchten die FreundInnen des FKA: „Uns geht die Puste aus“.
(Am 10. August 2018 griffen die Taliban Ghazni und besetzten die Provinzstadt. Hunderte wurden getötet oder verwundet (mehrheitlich Hazara). Bei ihrem Rückzug griffen die Taliban den von Hazara bewohnten Distrikt Nahoor an, dessen Bevölkerung sich erfolgreich zur Wehr setzte. Am 15. August verübte der IS einen Selbstmordanschlag auf das Mawud-Bildungszentrum in einem von Hazara bewohnten Stadtteil Kabuls und ermordete 50 junge Menschen, viele aus dem Bezirk Jaghori, und verletzte 65 zum Teil schwer. Inzwischen wurden Angriffe auf Hazara auch aus der Provinz Uruzgan gemeldet. Die Korrespondenz mit Jaghori sei voller Verzeiflung! In dieser Lage brauchen die Schulen von Jaghori die FKA-Solidarität mehr denn je. Dass dem FKA nicht die Puste ausgeht, kann und muss politisch geregelt werden!)
Ein hoffnungsvolles Zeichen ist, dass die Initiative für ein „Paktia neu“ (Entwicklung von Land- und Forstwirtschaft in den Provinzen Khost, Paktia und Paktika, anknüpfend an das ehemalige Paktia-Projekt, vom BMZ positiv aufgenommen wurde: Man will Maßnahmen zur Wiederherstellung von Waldlandschaften (Forest Landscape Restauration) in fünf Provinzen, darunter Khost und Paktia, durchführen, mit dem Ministerium für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehhaltung als politischem Träger und armen Kleinbauernfamilien als Zielgruppe. Die Beauftragung soll demnächst erfolgen.
(5) Friedensdrängen
Friedensangebot von Präsident Ghani an die Taliban (taz 1. März 2018): Bei der Kabul-Konferenz im Februar machte Präsident Ghani den Taliban so weitgehende Friedensangebote wie nie zuvor: Aufhebung der UN-Sanktionen gegen Taliban-Verhandler, Eröffnung eines Taliban-Büros in Kabul, Aberkennung als politische Partei, Freilassung von Gefangenen, Aufnahme von Taliban in die Regierung – alles ohne Vorbedingungen. Dies geschah mit ausdrücklicher Unterstützung der westlichen Verbündeten einschließlich den USA.
Friedensdemonstrationen/-märschebreiten sich aus: Angestoßen durch einen opferreichen Anschlag vor einer Ringkampfarena in Lashkar Gah im März protestierten erst in Helmand, dann in insgesamt acht Provinzen viele Menschen in Sit-Ins, Protestcamps und Protestmärschen für Frieden.
Waffenstillstand und unglaubliche Szenen: Zum Ende des Fastenmonats im Juni erklärte Präsident Ghani einen dreitägigen Waffenstillstand. Die Taliban erklärten ebenfalls einen Waffenstillstand. Sicherheitskräfte und Taliban umarmten sich, machten Selfies, massenweise unglaubliche Verbrüderungsszenen. Allerdings, so hörte ich, seien Regierung wie Staatengemeinschaft in keiner Weise darauf vorbereitet gewesen, die Friedenschance dieser Tage auch zu nutzen.
Taliban-Angriff auf Ghazni am 10. August (Karte): Auf ein längeres Waffenstillstandsangebot des Präsidenten gingen die Taliban nicht ein. Im Gegenteil: Sie verstärkten ihre Angriffe: Rund 1.000 Taliban besetzten die Provinzhauptstadt Ghazni über vier Tage. 150 Sicherheitskräfte und 95 Zivilpersonen kamen dabei ums Leben. Am 14. August nahmen die Taliban einen Militärstützpunkt in Ghormach, Provinz Faryab im Nordwesten ein.
(6) Großprobleme, die jetzt nur benannt, aber nicht angemessen behandelt werden können
Veränderungen der Opiumproduktion 2017/18 (Karte): 2017 sprang die Opiumproduktion um 87% auf das Rekordniveau von 9.000 to. Die Mohnanbaufläche wurde in dem Jahr um 63% auf 328.000 Hektar ausgeweitet, in Helmand allein um 63.700 ha (=79%)! Die Opiumproduktion stellte rund 590.000 Vollarbeitsplätze, die Sicherheitskräfte rund 350.000. In 2017 verschwand Counternarcotics von der Agenda der US-Politik.
2018 ging der Opiumanbau um ein Fünftel auf 263.000 ha zurück – und blieb immer noch der zweithöchste Wert seit 1994. Hauptsächlicher Grund war die Dürre im Norden und Westen, die schlimmste, an die sich Bewohner erinnern konnten. (https://www.afghanistan-analysts.org/a-drop-from-peak-opium-cultivation-the-2018-afghanistan-survey/ )
Die heikle Nachbarschaft Afghanistans (Karte): Botschafter Potzel hatte zu Beginn der Tagung die unterschiedlichen Interessen von Nachbarn und mächtigen Playern in Afghanistan, an Konflikteindämmung, Konfliktfortsetzung oder Friedensprozess sowie ihre unterschiedliche Kooperationsbereitschaft dargestellt, aber auch den Vorteil der Bundesregierung, die zumindest mit allen sprechen wolle und könne.
(7) Deutsche Politik und Afghanistan
Im „Paul-Löbe-Haus“ mit den Sitzungssälen der Bundestagsausschüsse, hier Verteidigungsausschuss: Die Bundesregierung formulierte in ihrem „Perspektivbericht“ zu Afghanistan vom Februar 2018 vier strategische Ziele, zu deren Erreichen das gemeinsame (internationale) Engagement beitragen soll:
- „Reduzierung des gewaltsamen Konflikts auf ein Niveau, das von den afghanischen Sicherheitskräften kontrolliert werden kann und die Bedrohung für Deutschland, seine Verbündeten sowie für die Region miniert,
- Staatlichkeit, die auch aufgrund effektiver Gewährleistung von Sicherheit und Recht, insbesondere der Menschenrechte Legitimität genießt und damit Stabilität ermöglicht,
- wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die der Bevölkerung Zukunftsperspektiven jenseits von Armut, Flucht, Migration und Extremismus eröffnet,
- ein innerafghanischer Friedensprozess, der von den Staaten der Region unterstützt wird.“ (S. 5)
Die Frauen und Männer der zuständigen Arbeitsebenen, der Ressortreferate, der Bundeswehr, GIZ und KfW, die entsandten Frauen und Männer in Afghanistan engagieren sich mit voller Kraft und hoher Kompetenz.
Auf Seiten der politischen Auftraggeber kann das leider nicht festgestellt werden: In den Ausschüssen ist Afghanistan kaum noch Thema, gibt es kaum aktives Interesse und wenig an genauerer Unterrichtung. Die Koalitionsmehrheit blockiert weiterhin eine systematische Wirkungsanalyse und Evaluierung. Von Einzelausnahmen abgesehen werden die Bundestagsdebatten weiterhin geprägt von Schönrednerei einerseits und undifferenzierter Schwarzmalerei andererseits. Dass wir als Vorbereitungskreis der Villigster Afghanistan-Tagung nach 2013 das fünfte Jahr in Folge keinen Bundestagsabgeordneten gewinnen konnten, ist symptomatisch und ein stiller Skandal!
Diese politische Abwendung von Afghanistan ist sicherheits- und friedenspolitisch kurzsichtig und wirkt als nachträgliches Dementi aller hohen menschenrechtlichen Ansprüche der ersten Jahre.
Weltkarte der größten humanitären Krisen 2018: Für diese politische Abwendung gibt es zugleich plausible Gründe. Gegenüber der Häufung komplexer, dynamischer und näher rückender Krisen und Konflikte sind einzelne Regierungen, Parlamente, Abgeordnete und die schwächelnde „Staatengemeinschaft“ zunehmend überfordert. In Öffentlichkeit und Politik ist das Afghanistanengagement überwiegend als „gescheitert“ abgestempelt - und damit abgehakt. Wer engagiert sich schon freiwillig für ein „Looser-Thema“?
(8) Ausblick
Blick auf Reichstag/Bundestag und andere Gebäude des Parlaments unter düsterem Himmel: In den nächsten zwei Jahren geht es im Berliner Parlaments- und Regierungsviertel um fundamentale Weichenstellungen der deutschen – und internationalen – Afghanistanpolitik:
- Im März 2019 steht die nächste Mandatsdebatte zu Resolute Support an. Und damit die Fragen nach ihrer realen Wirksamkeit und (Un-)Endlichkeit.
- Die internationalen Zusagen der Brüsseler Afghanistan-Konferenz von 2016, und damit die deutsche Zusage von 430 Mio. Euro Aufbauhilfe pro Jahr, laufen bis 2020. Bis 2020 muss also in Berlin und international die Meinungsbildung abgeschlossen werden.
- Ungewiss sind die internationalen und nationalen Kontexte: Möglicherweise verschlechtert sich die Sicherheitslage weiterhin, kommen die Friedensgespräche noch nicht wirklich voran. In der US-Administration könnte sich die Absicht durchsetzen, private Militärfirmen den Afghanistaneinsatz übernehmen zu lassen. Das wäre das Ende des bisherigen Bündniseinsatzes. In Deutschland schließlich ist der Fortbestand der Großen Koalition und die weitere Bewilligung von rund 400 Mio. Euro keineswegs sicher.
Insofern wird die Frage „GEHEN ODER BLEIBEN?“ hochaktuell.
31. Afghanistan-Tagung 2017 in Villigst: Eine solche Afghanistan-Tagung wie die in Villigst soll es europaweit nicht geben – mit so viel Erfahrung, Kompetenz, Engagement, Verbundenheit, Herz und langem Atem zu Afghanistan und seinen Menschen.
Die Herausforderungen der kommenden zwei Jahre brauchen eine politische Lobby. Auf die Community der Villigster Afghanistan-Tagung kommt es dabei besonders an. Aber wir sind dabei keineswegs allein: In der Bundesrepublik gibt es viele Zehntausende Freunde Afghanistans, ein Potenzial zur Unterstützung einer solidarisch-verlässlichen und klugen Afghanistanpolitik.
„Ungeheuerlich! Männer reden, Männer entscheiden, Männer bedrohen. Und trotzdem wurde eine Frau Afghanistan Gouverneurin. Das ist die fast unglaubliche Geschichte von Habiba Sarabi. Begegnung mit einer todesmutigen Politikerin.“ (Seite Drei Reportage in der Süddeutschen Zeitung vom 10.12.2013): Wir wollen Sie, Frau Sarabi, stellvertretend für die Frauen Afghanistans,
Studentinnen und Studenten in einer UNI-Vorlesung: … und Sie, Herr Bakhtiar, stellvertretend für die große junge Generation Afghanistans, von Herzen unterstützen.
Die friedliche Oase um die Blaue Moschee in Mazar: Damit wieder mehr Frieden möglich wird, damit Afghanistan endlich wieder zu einem besseren Ort wird.
ANHANG zur Schlüsselfrage GEHEN ODER BLEIBEN
1. Die Frage darf kein Tabu sein: Wenn die völkerrechtlichen Grundlagen entfallen, wenn es keine nennenswerten Partner in Afghanistan mehr geben und das Engagement völlig aussichtslos würde, dann stünde das GEHEN vor der Tür.
2. Aber auch dann bliebe die Frage, wer/was gehen, wer/was bleiben soll?
- Humanitäre und Aufbauhilfe, Entwicklungszusammenarbeit? Hier ist die Akzeptanz in Politik und Gesellschaft am größten.
- Polizeiaufbauhilfe? Militärische Beratung?
3. Was wären die mutmaßlichen Folgen eines Abzuges der Bundeswehr? Gehen würde das zweitgrößte Kontingent, die Rahmennation für andere Truppensteller im Norden.
- Viele kleinere Länder würden auch gehen.
- Deutsche Polizeiaufbauhilfe, die auf die Bundeswehrstrukturen angewiesen ist, würde auch gehen. Die Präsenz der GIZ würde, so vermute ich, zumindest stark schrumpfen. Einzelne NGO`s würden wohl weiter arbeiten.
- Das Feld würde noch stärker den USA überlassen. Unter Trump würde das wohl den Trend zur Privatisierung des Einsatzes beflügeln.
(Vgl. Meine Anmerkungen zur Mandatsentscheidung Resolute Support vom 21.11.2017, 8. Abschnitt zur Trump-Rede vom 22. August: „Im Vorfeld hatte es im Weißen Haus massiven Streit um die Zukunft des US-Einsatzes in Afghanistan gegeben: Chefstratege Steve Bannon votierte vehement für einen Abzug der US-Truppen, für die Privatisierung des Krieges und die Entsendung einer reinen Söldnertruppe. Unterstützt wurde er von Blackwater-Gründer Prince. Sicherheitsberater McMaster, Verteidigungsminister Mattis (beide hohe Ex-Generale) und Außenminister Tillerson votierten für eine reguläre Truppenaufstockung.“, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1506 )
4. Was wären die mutmaßlichen Folgen eines Totalabzuges des internationalen Militärs? Angesichts der jahrzehntelangen Konflikterfahrungen miteinander und der dominierenden Gewaltkultur ist der Ausbruch einer großen Versöhnung höchst unwahrscheinlich, die Explosion Richtung Bürgerkrieg sehr wahrscheinlich. Die erste Hälfte der 1990er Jahre gilt als eine besonders schlimme Phase der jüngeren afghanischen Geschichte.
5. Wären Regionalmachte bereit und in der Lage, dem Absturz ins Bürgerkriegschaos entgegen zu wirken? Russland, China, USA, Saudi-Arabien, Iran, Pakistan, Indien an einem Strick?
6. Wären UN-Blauhelme eine Alternative, wie es zu Tagungsbeginn vorgeschlagen wurde? Solche Friedenstruppen kommen nur mit Zustimmung wesentlicher Konfliktparteien in ein Land, wenn also zumindest eine partielle Friedensregelung vereinbart ist, nicht zur Durchsetzung, sondern zur nachträglichen Absicherung eines Friedensprozesses. Mit der Landesnatur wäre eine Blauhelmtruppe (geringe Luftbeweglichkeit, schwächere Ausstattung, viele nationale Einsatzbeschränkungen) völlig überfordert. In der jetzigen Konfliktlage wäre die Entsendung einer UN-Friedenstruppe ein Selbstmordunternehmen und absolut verantwortungslos.
Anders könnte es aussehen nach Abschluss eines Friedensabkommens.
7. Wie also sinnvoll bleiben?
- Beim Friedensprozess die Gesprächsfähigkeit der Bundesrepublik gegenüber allen bestmöglich nutzen. Der deutsche Sonderbeauftragte AFG-PAK braucht dafür die notwendigen Kapazitäten!
- Das Aufbauengagement auf den verschiedenen Feldern kohärent, auf Wirkung zielend, Chancen nutzend und verlässlich fortsetzen – über 2020 hinaus!
8. Wie das notwendige Mindestmaß an Akzeptanz zurückgewinnen?
Das geht nur mit selbstkritisch-ehrlicher Bilanzierung und der Entwicklung von realistischen wie glaubwürdigen Exit-Kriterien. Die Forderung nach strategischer Geduld ist einerseits sehr richtig, insbesondere in Anbetracht eines höchst ungeduldigen Zeitgeistes. Die Beschwörungen von strategischer Geduld erscheinen mir andererseits angesichts des Glaubwürdigkeitsabsturzes der internationalen Afghanistanpolitik als ein Vertrösten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
„Nach 40 Jahren Krieg: Afghanistan an der Schwelle zum Frieden?“
Das Programm
Freitag, 23.11.
Impulse zum Tagungsthema von
- Botschafter Markus Potzel, Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Vorsitzender der Internationalen Kontaktgruppe für Afghanistan
- Dr. Habiba Sarabi, stellvertretende Vorsitzende des High Peace Coucil, 2005-2012 Gouverneurin der Provinz Bamyan (erste GouverneurIN in der afghanischen Geschichte!) , http://www.womenpeacesecurity.org/peacebuilder/habiba-sarabi/
Vortrag „Religion (der Islam) als integrierende und identitätsstiftende Kraft in Afghanistan?“ Prof. Dr. Milad Karimi, Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster
Samstag, 24.11.
Podiumsgespräch „Wir wollen Frieden!“ – Was erwarten Afghaninnen und Afghanen von ihrer Zukunft? mit
- Shakeela Ebraimkhil, TOLONews, zzt. Deutsche Welle
- Ramiz Bakhtiar, Afghanistan Youth Representative to the UN, Mitglied des Young Leaders Forum der Friedrich Ebert Stiftung Kabul, https://unama.unmissions.org/afghanistan-youth-representative-united-nations-selected
- Noor Nazrabi, Geschäftsführer Interkultura-Verlag Hamburg, https://www.afghanistikverlag.de/impressum
Inputs und Gallery Walk: „Zum Engagement in und für Afghanistan gibt es keine Alternative – Projektarbeit in Afghanistan unter den aktuellen Bedingungen“, Gruppen und Projekte präsentieren ihre aktuelle Arbeit
- Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, https://www.patenschaftsnetzwerk.de/
- Ärzteverein für Afghanische Flüchtlinge, http://www.afghandoctor.org/
- Visions for Children, https://visions4children.org/
- Postgeschichte – mehr als 100 Jahre lebendige deutsch-afghanische Beziehungen
- TerraTec – Schulprojekt Chak-e Wardak
Film und Diskussion „Freiwillig oder abgeschoben: Wo endet der Weg zurück?“ mit Mirco Günther, Landesdirektor Friedrich Ebert Stiftung in Afghanistan, Produzent des Dokumentarfilms „Return to Afghanistan. The many faces of flight and migration“, Kabul/Berlin 2017 (IPG-Interview mit ihm am 21.12.2018, https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/strategische-geduld-3172/ )
Gespräch „Wir nutzen die Kraft des Sports, um Grenzen zu überwinden!“ Mansur Faqiryar, 2011-2014 Torhüter der afghanischen Fußball-Nationalmannschaft, Südasienmeister 2013, VfB Oldenburg, Gründer der Mansur Faqiryar Foundation Bremen/Kabul, im Gespräch mit Nadia Nashir, http://www.mansurfoundation.com/de/ , „Unglaublich, aber wahr …“ http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1245
Sonntag, 25.11.
Impulsvortrag „Gehen oder bleiben? Wie sollte Deutschland die aktuellen Friedensbemühungen in Afghanistan unterstützen?“ von Winfried Nachtwei, anschließend Podiumsgespräch
Dr. Habiba Sarabi, Ramiz Bakhtiar und Winfried Nachtwei mit Belal El-Mogaddedi und Abdul-Ahmad Rashid
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: