Lauter Einsatz- und Friedenspraktiker in verschiedenen Uniformen und Zivil, Leistungsträger in Friedenssicherung - wieder ein friedens- und sicherheitspolitisches Großereignis. Für die Tagesmedien offenbar ohne jeden Nachrichtenwert!
Peacekeeping und vernetztes Handeln mit Gesicht:
Festakt zum Tag des Peacekeepers
am 23. Oktober 2017 in Berlin
Winfried Nachtwei (10/2017)
(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Rund 350 Gäste kamen am Spätnachmittag des 23. Oktober, dem Vorabend des Tages der Vereinten Nationen, in den „Bolle Festsälen“ in Berlin Moabit zur Feier des „Tages des Peacekeepers 2017“ zusammen. Die meisten waren Teilnehmerinnen und Teilnehmer an internationalen Friedensmissionen – Soldaten, Polizisten und Zivilexperten, außerdem viele Repräsentanten der Ressorts, der Politik und Gesellschaft.
Eingeladen hatte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gemeinsam mit den Bundesministern des Auswärtigen, Sigmar Gabriel, und des Innern, Thomas des Maizière.
Schade war, dass sich die Minister – es hieß, wegen der Fraktionssitzungen vor der morgigen Konstituierung des Bundestages – von ihren Staatssekretären vertreten lassen mussten. Die alljährlich rotierende Organisationsverantwortung lag dieses Jahr beim Verteidigungsministerium.
Seit 2013 wird auch in Deutschland der Tag des Peacekeepers, angelehnt an den International Day of UN-Peacekeepers am 29. Mai, begangen. (Zum Hintergrund und den letzten Peacekeeper-Tagen: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1497 )
Wie die vorherigen war auch die diesjährige Feierstunde würdig, stimmungsvoll und ermutigend. Moderiert wurde sie von Dr. Christian Mölling, Stellvertrender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Grußworte sprachen Staatssekretär Gerd Hoofe (BMVg), Rüdiger König (Leiter der Abteilung Stabilisierung im AA) und Staatsekretärin Dr. Emily Haber (BMI).
Die Videobotschaft des VN-Generalsekretärs Antonio M. d. O. Guterres war ein wenig persönliches VN-Werbevideo.
Bewegend und mit langem Beifall bedacht war dann die Lesung des nigerianischen Literatur-Nobelpreisträgers Wole Soyinka. (1986 hatte er als erster Afrikaner den Literatur-Nobelpreis erhalten. Der heute 83-Jährige mit seiner markanten weißen Haarkrone, laut Deutsche Welle „Nigerias unerschrockener Literat“, kritisierte unverblümt viele nigerianische Regierungen und etliche Diktaturen. Seine Friedensinitiativen beim Biafra-Krieg brachten ihm 22 Monate Haft ein. 2017 zerstörte er aus Protest gegen den neuen US-Präsidenten Trump seine Green Card. http://www.dw.com/de/wole-soyinka-nigerias-unerschrockener-literat/a-18319016 ) (1)
Stellvertretend werden bei den Feiern zum Tag des Peacekeepers jeweils drei Soldaten, Polizisten und Zivilexperten geehrt. Heute waren es
Zivile Experten
- Emanuela Goerick UN Verification Mission in Colombia (UNMC), Human Ressources Officer seit April 2017, verantwortlich für Personalplanung, Rekrutierung, Auswahl und Organisationsmanagement.
(UNMC besteht seit November 2016. Ihr Auftrag: Reintegration der früheren Mitglieder der Guerilla-Organisation FARC-EP ins politische, wirtschaftliche und soziale Leben, einschließlich Einhaltung der Sicherheitsgarantien für diese. Seit 5. Oktober ist UNMC zusätzlich mit der Überwachung des Waffenstillstands zwischen kolumbianischer Regierung und der zweitgrößten Guerilla-Organisatioj ELN betraut. Anfang September 2017 hatten beide Seiten eine Waffenruhe vereinbart.)
- Sylwia Zalewska-Löwenberg European Union Integrated Border Management Assistance Mission in Libya (EUBAM Libya), Strafrechtsexpertin, zuständig für die Bedarfsanalyse des libyschen Staatsanwaltswesens, Strafgerichtswesens und Strafvollzugs sowie Gesetzesanalyse.
(EUBAM Libya wurde 2013 gegründet als zivile Beratungsmission zur Unterstützung der Sicherung der libyschen Land-, See- und Luftgrenzen. Das HQ befindet sich wegen der Sicherheitslage seit 2014 in Tunis. Seit Ende 2015 dient die Mission verstärkt als Planungseinheit zur Vorbereitung einer möglichen künftigen GSVP-Mission zur EU-Unterstützung von Rechtsstaatlichkeit, Polizei, Terrorismusbekämpfung, Grenz- und Migrationsmanagement. Zzt. vor allem strategische Beratung auf ministerieller Ebene. Kürzlich wurde eine „Leichte Präsenz“ in Libyen hergestellt, die regelmäßigere und längere Dienstreisen nach Tripolis ermöglichen wird.)
- Matthias Kalusch OSZE Special Monitoring Mission in Ukraine (SMMU), seit 2014 Leiter des Kiewer Monitoring Teams der OSZE Special Monitoring Mission in Ukraine: Beobachtung der Auswirkungen des Konflikts in der Ostukraine auf Kiew und die umliegenden Regionen, insbesondere der Sicherheitslage, auch humanitärer und politischer Fragen, z.B. Parlamentssitzungen, Demonstrationen, Verhalten von Sicherheitskräften, Lage der Flüchtlinge, die aus Krim und dem Osten kommen. Seit 2014 ist er ziviler Koordinator für die deutschen Sekundierten des ZIF bei OSZE SMMU.
(Das Kiewer Team ist eines von zehn Beobachterteams mit bis zu 24 BeobachterInnen und acht ukrainische Unterstützungskräfte. OSZE SMMU wurde im März 2014 auf Bitten der ukrainischen Regierung und mit Beschluss aller 57 OSZE-Mitgliedsstaaten gegründet und ist eine unbewaffnete zivile Beobachtermission, die mit ihren rund 700 BeobachterInnen rund um die Uhr in allen Regionen des Landes außer der Krim präsent ist. Ihre Hauptaufgaben: Berichterstattung über die Lage in er Ukraine, Überwachung des Waffenstillstandes und des Abzugs von Truppen und Material gemäß Minsker Abkommen und Förderung des Dialogs zwischen allen Konfliktparteien.)
Soldaten
- Hauptfeldwebel Vanessa Kistner (geb. Bohn), Gebirgsjäger, Mission multidimensionnelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation au Mali (MINUSMA), 1. Halbjahr 2017 Spähtruppführerin (Fennek) und stellv. Zugführerin; Aufgabe: Verdichtung des Lagebilds für die übergeordnete Führung, Bedrohungslage der Zivilbevölkerung. Mit Spähtrupp z.T. fünf Tage im Land unterwegs, um Detailinformationen über Gelände, Wegenetze und Gefährdungslage zu beschaffen, aber auch für Gespräche mit einheimischer Bevölkerung und Ältesten; „Auge und Ohr der Missionsleitung“.
(MINUSMA ist der größte Bundeswehreinsatz mit – heute - 1010 Soldatinnen und Soldaten, plus 142 bei EUTM Mali. Vgl. Friedenssicherung durch die VN in Mali und deutscher Beitrag zu MINUSMA: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1476 Bei MINUSMA arbeiten zzt. auch vier deutsche zivile Experten.)
- Korvettenkapitän Anna Prehn UN International Force in Lebanon (UNIFIL), Okt. 2016 bis Feb. 2017, Leiterin eines deutschen, dann deutsch-libanesischen Ausbildungsteams. Hauptaufgabe Planung und Durchführung der Ausbildung der libanesischen Marine; Überarbeitung des Ausbildungskonzepts der libanesische Marine.
(UNIFIL besteht seit 1978. Nach dem Krieg zwischen Israel und dem Libanon 2006 wurde UNIFIL auf den Seeraum vor dem Libanon ausgeweitet. Damit entstand bei UNIFIL der erste seegestützte Einsatzverband unter Kommando der VN. Deutschland ist seit 2006 an der Marinekomponente von UNIFIL beteiligt. Die libanesische Marine soll befähigt werden, selbst ihre Seegrenze zu sichern und Waffenschmuggel über See zu unterbinden.)
- Stabsunteroffizier Sascha Budde, MINUSMA, bis Mai 2017, Waffenmechaniker für das schwere MG.50 im Transporthubschrauber NH90 in Gao, Truppführer der Bordsicherungssoldaten im vorausfliegenden Begleitschutzhubschrauber.
Polizisten
- Polizeihauptkommissarin Kathryn Graun German Police Project Team (GPPT) Kabul, Mai 2015 bis August 2016, Aufgaben: Security, dann Assistentin des GPPT-Leiters, Verbindung zu einzelnen Teams, zu nationalen und internationalen Partnern.
(GPPT seit 2002 in Afghanistan, zzt. 42 deutsche Polizeibeamte)
- Polizeihauptmeister Jürgen Schindler, UNPOL MINUSMA, Feb. 2016 bis Mai 2017 Leiter Einsatz und stellv. Regionalkommandeur im HQ MINUSMA Gao.
(Zzt. 16 deutsche Polizeibeamte bei MINUSMA)
- Polizeioberrat Niels Zimmermann, MINUSMA, Nov. 2015 bis Sep. 2016, Einsatzreferent bei der Aus- und Fortbildung der Formed Police Units (Einsatzhundertschaften) der UN Police.
In einem 10-minütigen Film stellen die neun Peacekeeper ihre Motivation, ihre Aufgaben, Einsatzbedingungen und zentralen Erfahrungen vor, unterlegt mit Szenen aus dem Missionsalltag und landestypischer oder „kraftvoller“ Musik.
Zu Einsatzbedingungen:
In Mali Extremtemperaturen, höchste bei 73° C, im Schatten 45-53° C; Sandstürme, wo Sand durch alle Ritzen geht; Unterkunftscontainer mit Bett, Kühlschrank und – am wichtigsten – Klimaanlage; ein Polizist erlebte in seiner Zeit Anschlag im benachbarten Supercamp, auf den Straßen gingen fast täglich Minen hoch, „keine ungefährliche Situation“.
Besondere Erfahrungen:
- Das Arbeiten mit Kameraden anderer Länder (Mali)
- Gastfreundschaft und große Dankbarkeit (Libanon)
- Gefühle von Freude über Angst, Heimweh, aber auch die Emotion, mit diesen unterschiedlichen Menschen zusammen zu sein (Mali)
- Bewegt habe die Soldatin, als unterwegs „ein kleines Mädchen meine Hand nahm und sagte, ihr macht so eine tolle Arbeit, ihr dürft nie wieder weg gehen.“ (Mali)
- Bei Dienstreisen in entferntere Gebiete erlebt, wie UNPOL die malische Polizei begleitete und der Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit gab. (Mali)
- Man versucht, was zu bewegen, Stück Sicherheit reinzubringen, vielleicht nur Tropfen auf den heißen Stein mit einem Trupp, aber vielleicht was Wirkung für die Gegend.
Persönliches:
- Zeit im Libanon für die Familie sicher schwieriger als für einen selbst. Aber man hatte regelmäßigen Kontakt, habe es gut überstanden. (Libanon)
- „Mein Einsatz in Mali war eine Lebenserfahrung, die ich in keiner Weise missen möchte und die mir gezeigt hat, wie gut wir in Deutschland leben und wie wichtig es ist, anderen Nationen zu ermöglichen, denselben Standard zu erreichen.“
- „Besonders stolz und glücklich bin ich für die Unterstützung meiner Familie in der Zeit, wo ich in Mali war. Und das ist jetzt an euch gerichtet: Ich möchte mich von tiefem Herzen bedanken, dass ihr so viel Vertrauen in mich gehabt habt und unterstützt habt und dass ich diese Erfahrung in Mali sammeln durfte. Vielen Dank!“ (Mali)
- „Ich schätze kleine Sachen viel mehr, bin reifer geworden, innerlich gefestigt; weiß auch jetzt, wohin ich will und was ich machen will. Ja, das haben die Auslandseinsätze bei mir bewirkt.“ (Mali)
Beim folgenden Gespräch des Moderators mit einigen der Peacekeeper loben die Zivilexperten die besonders gute Einsatzbegleitung durch das ZIF, das jetzt eine echte Entsendeorganisation ist. Es fällt auf, wie viele Peacekeeper sich ausdrücklich mit Dankesworten an ihre anwesenden Familienmitglieder wenden.
Zum Abschluss überreichen die Vertreter der drei Ministerien „ihren“ Frauen und Männern mit herzlichen Worten die Glasskulptur zum Tag des Peacekeepers.
Stimmungsvoll eingerahmt wird die Veranstaltung vom Blechbläserquintett des Stabsmusikkorps der Bundeswehr.
Schlussbemerkung:
Wieder kamen bei der Feier zum Tag des Peacekeepers so viele Friedenspraktiker in verschiedenen Uniformen und Zivil zusammen wie bei keiner anderen Gelegenheit in Deutschland. Es war wieder ein friedens- und sicherheitspolitisches Großereignis.
Zum Teil ausführliche Berichte erschienen am Folgetag im Netz
- auf der Seite des Verteidigungsministeriums: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/tag-des-peacekeepers-19186
- beim Zentrum Internationale Friedenseinsätze (ZIF): http://www.zif-berlin.org/de/ueber-zif/nachrichten-aus-dem-zif/detailansicht/article/tag-des-peacekeepers-2017.html
- beim Deutschen Bundeswehrverband: https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/einsatz-aktuell/beitrag/news/deutsche-peacekeeper-werden-in-berlin-geehrt/
Im Unterschied zu den Vorjahren ist unerklärlicherweise beim Auswärtigen Amt und beim Innenministerium keine Nachberichterstattung zu finden.
In den Tagesmedien erreichte die schlechte Tradition der Minimalberichterstattung beim 5. Tag des Peacekeepers aber ihren Tiefpunkt: Es erschien KEIN EINZIGER BERICHT!
Immer wieder scheint es Ereignisse von höherem Nachrichtenwert zu geben als die Tatsache, dass neun in Krisenregionen unter hohen Belastungen und Risiken sehr bewährte und angesehene deutsche Peacekeeper – stellvertretend für Tausende – vorgestellt und geehrt werden.
Am selben 23. Oktober zum Beispiel die Meldung, der Militärische Abschirmdienst (MAD) habe seit 2008 rund 200 Rechtsextremisten in der Bundeswehr identifiziert. Die Zahl verbreitete sich am Montagmorgen schnell und unübersehbar über die Medien. Es roch wohl nach Skandalverdacht. (Dass die korrekte Zahl ohne Kontext verkürzte, ja falsche Kommentierungen begünstigte, enthüllte schon am 23. Oktober die TAZ in einem Musterbeispiel an seriösem Journalismus: „Das Spiel mit den Zahlen – 200 Rechtsextreme sollen seit 2008 in der Bundeswehr aufgefallen sein. Wird alles nur noch schlimmer? Eine Einordnung“, http://www.taz.de/!5456635/ ; zusätzlich auch meine Einordnung: www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1503 )
Ich weiß um den Bad-News-Mechanismus in den Tagesmedien. Fern liegt mir eine persönliche Medienschelte. Dafür kenne ich zum Glück sehr viele richtig gute, verlässliche und nach bestem Wissen und Gewissen arbeitende Journalisten.
Trotzdem finde ich den strukturellen Primat von Skandalnachrichten und die faktische Nachrichtensperre gegenüber positiven Nachrichten (hier zu Spitzenleistungsträgern in Friedenssicherung), die ich inzwischen dutzendfach und durchgängig erlebt habe, unsäglich.
(1) Im Anschluss an den Tag des Peacekeepers stellte am Folgetag Prof. Jürgen Wertheimer (Internationale Literatur) unter Mitwirkung von Wole Soyinka auf Einladung des Verteidigungsministeriums das Studienprojekt „Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung“ („Cassandra-Projekt“) am Beispiel Boko Haram/Nigeria vor. Ausgangsthese ist, „dass extremistische Ideologien, politisch/religiöse Utopien und religiöse (Gewalt-)Phantasien ansteckend wirken, indem sie über Sprache und Symbole spezielle Zielgruppen emotionalisieren und damit die Chance der Radikalisierung schaffen.“ (Wertheimer) Literarische Texte werden als Seismographen für politische Veränderungsprozesse entschlüsselt, aber auch auf ihre Wirkungsmöglichkeiten der Gegennarrativbildung geprüft. Ein äußerst spannender und vielversprechender Ansatz!
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: