In Kabul ist für AfghanInnen nichts mehr sicher. Nach der Lkw-Bombe im Herzen der Stadt drei Tage später drei Selbstmordattentäter bei einer Beerdigung. Bis Mittwoch wertete die Bundesregierung die Hauptstadt als relativ sicher, weshalb man dorthin abschieben könne. Inzwischen setzte die Bundesregierung die Abschiebungen nach Afghanistan aus. Das Auswärtige Amt soll die Sicherheitslage neu bewerten.
Mörderische Woche in Kabul -
Mittwoch Lkw-Bombe in der Rush Hour im Zentrum, Freitag
Demo mit Toten, Samstag drei Selbstmordattentäter bei Beerdigung
W. Nachtwei (1./2./3./7. Juni 2017)
Fotos unter www.facebook.com/winfried.nachtwei
Mittwoch, 31. Juni 2017, fünfter Tag des Ramadan, 8.22 Uhr Ortszeit im Kabuler Stadtzentrum (Wazir Akbar Khan Viertel, Zanbaq Circle): Im dichten Berufsverkehr explodiert an einer Sperre zur stark gesicherten Grünen Zone (Botschaften, Ministerien, Präsidentenpalast, NATO-HQ) ein Wassertankwagen mit mutmaßlich 1.500 kg Sprengstoff.
Nach jetzigem Stand sind mehr als 90 Menschen getötet und um 460 verletzt worden. (Inzwischen meldete TOLOnews 100 Tote und 600 Verletzte. Am 6. Juni teilte Präsident Ghani mit, dass die Zahl der Todesopfer auf 150 gestiegen sei.) In unmittelbarer Nähe des Explosionsortes befinden sich die Deutsche und die Indonesische Botschaft, der Hauptsitz von Roshan Telecom, Azizi Bank, BBC, dann die Botschaften der Türkei, Vereinigten Arabischen Emirate, Großbritanniens, Frankreichs, Chinas, Irans, Pakistans und Spaniens sowie die Amani-Oberschule, wenige hundert Meter weiter der Präsidentenpalast.
Bei der Dt. Botschaft wurden ein afghanischer Wachmann getötet, eine örtliche Mitarbeiterin schwer und eine entsandte Botschaftsangehörige leicht verletzt. Das Kanzleigebäude wurde trotz der blast walls völlig verwüstet; andere Gebäude auf dem Gelände wurden massiv beschädigt. Zum Glück wurde das Kanzleigebäude seit kürzerem nicht mehr genutzt. Nach dem Anschlag auf das Dt. Generalkonsulat in Mazar-e Sharif im November war seine Lage als zu riskant bewertet worden. Das dreistöckige Roshan-Gebäude wurde fast völlig zerstört. Schäden gab es noch in einem Umkreis von vier Kilometern. Bisher gibt es keine Bekennererklärung. Die Taliban distanzierten sich ausdrücklich. In Verdacht steht das aus den Stammesgebieten Pakistans heraus operierende Haqqani-Netzwerk.
Am Zanbaq Circle laufen über 25 Routen zusammen, jede mit zwei bis fünf Checkpoints. Beunruhigt fragt man sich, wie ein Lkw voller Sprengstoff bis ins Herz der Stadt gelangen konnte. Unabhängig vom letztendlichen Angriffsziel des Lkw-Bombers geschah die Explosion an einem Ort, der kaum öffentlichkeitswirksamer und psychologisch verheerender sein konnte. Der Angriff traf die Vertrauenswürdigkeit des afghanischen Staates und seiner Sicherheitsorgane ins Mark und zielte zugleich auf die politischen Brückenköpfe der Staatengemeinschaft in Afghanistan.
Freitag, 2. Juni: Am Vortag begannen Proteste gegen den Großanschlag und gegen die mangelhafte Sicherheitsvorsorge der Behörden mit einer Mahnwache am Anschlagsort und einer Demonstration mit bis zu 1200 Personen. Am 2. Juni versammelten sich mehrere hundert Demonstranten am Zanbaq-Circle und protestierten gegen das Versagen der Regierung. Als die Demonstranten Richtung Präsidentenpalst zogen und auch Steine flogen, setzten Sicherheitskräfte Wasserwerfer und Tränengas ein und feuerten (Warn-)Schüsse ab. TOLOnews meldete fünf Todesopfer durch Schüsse – darunter der Sohn eines Senators - und zeigt Videos vom Chaos auf der Straße. Zu hören ist das Knattern von Schusswaffen.
Samstag, 3. Juni: Der ANA-Standortkommandant von Kabul und der stellvertretende Innenminister warnen vor drohenden Anschlägen bei größeren Menschenansammlungen. Am Nachmittag findet die Beerdigung für den erschossenen Sohn des Senators mit hochrangigen Teilnehmern (Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, Außenminister, mehrere Abgeordnete) statt. Um 15.30 Uhr Ortszeit sprengen sich bei der Zeremonie nacheinander drei Selbstmordattentäter in die Luft. Nach Information aus dem Gesundheitsministerium wurden 20 Menschen getötet und 119 verletzt.
Am Spätnachmittag wird aus der Gegend um den Sherpoor Circle, wo sich ca. 2000 Demonstranten versammelt haben, sporadisches Gewehrfeuer gemeldet. Ein Sprecher der Demonstranten fordert den Rücktritt des Präsidenten und des Regierungsgeschäftsführers, des NDS-Chefs und des Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates. Er appelliert an die Internationale Gemeinschaft, den Anschlag von Mittwoch als Kriegsverbrechen zu verurteilen. Die NATO ruft er auf, gegen interne und externe terroristische Kräfte vorzugehen. (http://www.tolonews.com/afghanistan/death-toll-20-least-87-wounded-cemetery-blast )
Ausführliche Analyse „A Black Week in Kabul: Terror and protests“ von Martine Bijlert + Thomas Ruttig, 4. Juni,https://www.afghanistan-analysts.org/a-black-week-in-kabul-terror-and-protests/
Abschiebungen nach Afghanistan: Aus Deutschland sollte am Abend des 31. Mai der inzwischen sechste Abschiebeflug nach Kabul starten. Ein 20-jähriger Afghane wurde am Vormittag in Nürnberg aus dem Berufsschulunterricht geholt und von der Polizei in Abschiebehaft genommen. Mitschüler protestierten spontan und widersetzten sich seinem Abtransport. Schließlich beteiligten sich mehrere hundert Menschen an den Protesten. Zum tumultartigen Verlauf Bericht und Video http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/nuernberg-300-jugendliche-protestieren-gegen-abschiebung-eines-mitschuelers-a-1150127.html .
Angesichts des Anschlages von Kabul stoppte Innenminister de Maiziére den Flug. Inzwischen setzte die Bundesregierung nach Abstimmung mit den Ländern die Abschiebungen nach Kabul insgesamt aus – bis auf „Gefährder und Straftäter“. Dazu https://thruttig.wordpress.com/2017/06/02/damit-das-thema-im-wahlkampf-nicht-polarisierend-verwendet-wird-abschiebungen-nach-afghanistan-ausgesetzt/
Rückzug von Entwicklungshelfern: Am 1. Juni wurden die meisten der in Afghanistan für die GIZ arbeitenden deutschen und internationalen MitarbeiterInnen ausgeflogen. Bisher arbeiteten noch rund 100 deutsche/internationale und 1.400 einheimische MitarbeiterInnen für die deutsche staatliche Entwicklungszusammenarbeit.
Das Berufsausbildungszentrum Takhta Pul bei Mazar steht für Projekte, die trotz sehr erschwerter Rahmenbedingungen immer noch sehr gut funktionierten.
Wieweit sich die politische Vorgabe von Afghanistan als Schwerpunktland deutscher Entwicklungszusammenarbeit noch realisieren und verantworten lässt, ist jetzt die schwierige Frage.
Die opferreichsten Anschläge der letzten Monate: Am 21. April, vor fünf Wochen, drang zur Zeit des Freitagsgebets ein Taliban-Kommando in das Camp Shaheen der Afghanischen National Armee bei Mazar-e Sharif ein und tötete lt. TOLOnews über 250 überwiegend unbewaffnete Rekruten. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1468 )
Am 17. März, vor zehn Wochen, griff ein IS-Kommando das zentrale Militärhospital in Kabul an und tötete mindestens 50 Menschen.
Am 7. Februar Selbstmordanschlag am Tot des Obersten Gerichtshofes bei Dienstschluss: mindestens 22 getötete Zivilisten.
Am 10. Januar töteten zwei Selbstmordattentäter (Taliban) vor dem afghanischen Parlament mindestens 28 Menschen, die meisten Zivilisten und Polizisten.
Am 21. November 2016 (Ashura-Fest) Selbstmordanschlag in einer schiitischen Moschee: 27 Tote und mindestens 35 Verletzte.
Laut Zivilopfer-Bericht von UNAMA war 2016 die Zahl der Zivilopfer durch Suizid- und komplexe Angriffe (398 Getötete, 1.565 Verletzten) so hoch wie nie seit 2009. 77% dieser Opfer waren allein in Kabul zu beklagen mit 308 Getöteten und 1.206 Verletzten. Gegenüber 2015 bedeutete das in Kabul ein Anstieg um +75%!
Laut Quartals-Bericht des US Special Inspector General for Afghanistan`s Reconstruction (SIGAR) vom 30. April 2017 wurden zwischen 1. Januar und 24. Februar 2017 807 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte getötet und 1.328 verwundet – d.h. rund 15 Gefallene pro Tag schon in der Kampf-„Vorsaison“. 2016 wurden mehr als zweimal so viele Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte getötet wie auf Seiten der US-Streitkräfte in Afghanistan seit 2001 (über 2.400). (TOLOnews-Berichte zu Sicherheitsvorfällen in Afghanistan http://www.tolonews.com/search?search=security+report )
SIGAR John F. Sopko brandmarkte wiederholt Korruption und schlechte Führung als Hauptprobleme der afghanischen Sicherheitskräfte. Mehr als 50% des für die ANDSF gekauften Treibstoffs würden nicht ihren gewollten Bestimmungsort erreichen. Afghanische Offizielle seien daran beteiligt, dass Treibstoff und Waffen an die Taliban verkauft werden. (TOLOnews 24.05.2017) (Die Frage, wieweit die Art und Weise der US-Ausrüstungshilfen Strukturen und Mentalitäten von Korruption angeheizt hat, bleibt ausgeklammert.)
Noch am 9. Februar 2017 sprach US-General Nicholson, Kommandeur von Resolute Support, vor dem Streitkräfte-Ausschuss des US-Senats von einer Patt-Situation in Afghanistan. Meiner Einschätzung nach ist das eine professionelle Beschönigung: Immer mehr spricht dafür, dass dieses Patt sukzessive wegkippt.
Hier einige umfassende Berichte zur Lkw-Bombe mit weiteren Links:
Thomas Ruttig zur Lkw-Bombe, https://thruttig.wordpress.com/2017/05/31/lkw-bombe-in-kabul-mit-uber-80-todesopfern-wird-laufend-aktualisiert/
Friederike Böge FAZ 31.05.2017 „Blutbad im Diplomatenviertel“, FAZ 31.05.2017, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/terror-in-kabul-war-die-deutsche-botschaft-das-ziel-15041233.html
Willi Germund Frankfurter Rundschau 01.06.2017 „Attentat könnte Racheaktion des IS sein“, http://www.fr.de/politik/anschlag-in-kabul-attentat-koennte-racheaktion-des-is-sein-a-1288750
TOLOnews 31.05.2017 „Officials Say 1.500 kg Of Explosives Used in Kabul Truck Bomb“ (mit 3 Min. Video), http://www.tolonews.com/afghanistan/officials-say-1500kg-explosives-used-kabul-truck-bomb
New York Times 31.05.2017 „Huge Bombing In Kabil Is One of Afghan War`s Worst”, https://www.nytimes.com/2017/05/31/world/asia/kabul-explosion-afghanistan.html?_r=0
ALJAZEERA 31.05.2017 “Kabul bombing: Huge explosion rocks diplomatic district”, http://www.aljazeera.com/news/2017/05/huge-blast-rocks-kabul-diplomatic-area-170531040318591.html
Reaktionen in sozialen Medien, http://www.aljazeera.com/news/2017/05/social-media-reacts-kabul-bomb-blast-170531074935457.html
Martin Gerner „Terror im Botschaftsviertel: Umdenken bei Abschiebungen nach Afghanistan?“ http://martingerner.de/terror-im-botschaftsviertel-umdenken-bei-abschiebungen-nach-afghanistan/
W. Nachtwei, Abschiebungen nach Afghanistan: Wichtigste aktuelle Berichte zur Sicherheitslage dort und zur Situation Abgeschobener, 22.04./01.05.2017, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1464
W. Nachtwei, UNAMA-Jahresbericht 2016 Zivilopfer Afghanistan: Im Norden Zunahme um 58%, 923 getötete + 2.589 verletzte Kinder, Zunahme um 24%, Zivilopfer durch Daesh/IS fast verzehnfacht, bei Angriffen auf Moscheen versechsfacht! 7.02.2017,
http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1454 ;
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: