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Erinnerungsarbeit + Bericht von Winfried Nachtwei
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Hoch organisierter Massenmord: Der "Rigaer Blutsonntag" vor 75 Jahren - der monströse Tatverlauf lt. Landgericht Hamburg

Veröffentlicht von: Nachtwei am 1. Dezember 2016 23:55:44 +02:00 (37656 Aufrufe)

Dass am 30.11. und 8.12.1941 über 25.000 Rigaer Juden im Wald von Rumbula erschossen wurden, um "Platz zu schaffen" für die angekündigten Deportationen aus Deutschland und Österreich, ist hierzulande wenig bekannt. Hier der vom Landgericht Hamburg 1973 ermittelte Tatverlauf.

75. Jahrestag des Massenmordes an den Rigaer Juden

(„Rigaer Blutsonntag“) am 30. November 1941:

Der Tatverlauf laut Landgericht Hamburg

Winfried Nachtwei (Nov. 2016)

Am 30. November und 8. Dezember 1941, vor 75 Jahren, wurden über 25.000 Rigaer Juden in einem Wäldchen an der Bahnstation Rumbula erschossen. Im Ghetto sollte „Platz geschaffen werden“ für die angekündigten Deportationszüge aus dem „Großdeutschen Reich“. Verantwortlicher Planer der hoch organisierten „Aktion“ war der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Ostland und Rußland-Nord, Friedrich Jeckeln, der zwei Monate vorher maßgeblich verantwortlich war für den Massenmord von Babi Jar bei Kiew.

Der „Rigaer Blutsonntag“ ist hierzulande wenig bekannt. Deshalb hier die

Schilderung des monströsen Staatsverbrechens nach den Ermittlungen des Landgerichts Hamburg (Urteil vom 23.2.1973 gegen die vier deutschen Polizisten Friedrich Jahnke, Otto Tuchel, Max Neumann und Emil Dietrich, Angehörige des Kommandos der Schutzpolizei Riga und des Reserve-Polizeibataillons 22, Teil 2. „Vernichtung der lettischen Juden aus dem Rigaer Ghetto”). Die Auszüge aus dem Urteil habe ich Anfang der 90er Jahre in der „Zentralen Stelle der Länderjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ in Ludwigsburg exzerpiert.

1989 lernten wir bei unseren ersten Riga-Besuch Margers Vestermanis kennen. Als 16-jähriger „Arbeitsjude“ hatte er die Vernichtung des lettisch-jüdischen Ghettos und dann dreieinhalb Jahre Ghetto und KZ überlebt.

Fast fünfzig Jahre war der Judenmord in Riga, im Baltikum in Ost und West weitestgehend verdrängt und vergessen. Seit den frühen 90er Jahren wuchs wieder die Erinnerung an die in Riga verschollenen und ermordeten jüdischen Menschen, an die Deportierten, unter ihnen auch Tausende Frauen, Männer und Kinder aus Westfalen, dem Rheinland, aus Nord- und Süddeutschland und Berlin. Im 2000 gegründeten Deutschen Riga Komitee haben sich mit der Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge mehr als 50 deutsche Städte zu einem Netzwerk der Erinnerung zusammengeschlossen. Am 60. Jahrestag des Rigaer Blutsonntags, am 30. November 2001, wurde in Riga die Gedenkstätte Bikernieki eingeweiht. (http://nachtwei.de/druck/druck%20Bikernieki.htm )

Zur Gedenkveranstaltung in Rumbula/Riga am 29. November 2016 in Anwesenheit des lettischen Präsidenten: 75th Anniversary of Rumbula Mass Murders

 http://us2.campaign-archive1.com/?u=9060cdf1fdad8b688398dfd95&id=e2e3acd59e&e=789aae3616

Zum Dokumentarfilmprojekt „Rumbula`s Echo“ von Mitchell Lieber http://www.rumbulasecho.org/rumbulasecho_homepage.shtml , https://www.facebook.com/RumbulasEchoFilm/

2.4 „Behandlung der Juden“

Laut den „Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden auf dem Gebiet des Reichskommissars Ostland“ Lohse vom 13.8.1941 sei „das flache Land von Juden zu säubern“ und in Städten Ghettos einzurichten. Für die hermetische Abschließung der Ghettos seinen „tunlichst Hilfspolitzisten aus den Landeeinwohner einzusetzen“, arbeitsfähige Juden hätten Zwangsarbeit zu leisten. Das Kommando der (deutschen) Schutzpolizei stellte 60 Mann Bewachungskräfte. (Das KdoSchupo bestand aus Beamten, die die Polizeiverwaltung Danzig nach Riga mit der Aufgabe „Neuaufbau der lettischen Polizei“ abgestellt hatte.) In der Vorläufigen Wachvorschrift hieß es:

„Das Betreten des Ghettos ist jedem Nichtjuden bei strengster Bestrafung verboten.“ Entstehende Unruhen seien „im Keim zu ersticken, es ist ggfs. rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen.“

2.5.1 „Vorbereitung der Aktion am 30.11.1941“

Am 10. oder 11. November fand in Berlin eine Besprechung Himmler mit dem neuen Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Ostland und Russland Nord, Friedrich Jeckeln statt. Jeckeln erhielt den ausdrücklichen Befehl, das Ghetto zu liquidieren. In Riga informierte Jeckeln Reichskommissar Lohse. Er kritisierte die bisherige Behandlung der Juden, vor allem ihren „bedenkenlosen“ Arbeitseinsatz. „Gegen den Widerstand aller deutschen Dienststellen, die jüdische Arbeitskräfte dringend benötigten, begann Jeckeln Mitte November 1941 mit der Vorbereitung der Ghettoräumung.“ Mehrfach fuhr er in die Umgebung Rigas, um ein Erschießungsgelände zu finden. Nahe der Bahnstation Rumbula entdeckte er ein „sandiges, leicht hügeliges, mit Kusseln und lichtem Baumbestand bewachsenes Gebiet, dem ein etwa 150 m breites Feld vorgelagert war.“ (Letbartskij-Wald, 8 km vom Rigaer Stadtrand)

Eine Reihe Vorbesprechungen fanden statt mit Führern der Sicherheits- und Ordnungspolizei und lettischer Polizeiverbände, „nachdem er unter Berücksichtigung seiner im Südabschnitt gesammelten Erfahrungen (Anm.: Kamenez-Pdolsk Ende August mit 23.600 Opfern, Berditschew Anfang September mit 18.600 Opfern, Kiew/Babi Jar 29./30. September mit 33.700 Opfern, Kriwoi-Rog Mitte Oktober mit 3.300 Opfern) selbst den Ablauf der von ihm beabsichtigten Massenexekution handschriftlich skizziert hatte.“ Wegen auffallend häufiger Besprechungen habe sich das Vorhaben in der Dienststelle des HSSPF bald herumgesprochen.

Anhand der Stabsliste legte Jeckeln Einsätze fest. „Insbesondere diejenigen, die für weich hielt, teilte er als Aufsichtsführende im Ghetto, beim Abtransport der Juden zur Exekutionsstätte und auf dem Exekutionsgelände ein. An jedem Aktionstag waren etwa 25 Stabsangehörige, von Jeckeln persönlich bestellt und ihm selbst mit ihren Aufgaben vertraut gemacht, an der Exekutionsstelle im Einsatz.“ Den Leiter der Fahrbereitschaft, den degradierten ehemaligen SS-Oberf. Zingler ließ er zu sich kommen und erklärte ihm, dass er an der Exekution als Schütze teilzunehmen habe und sich dabei bewähren könne. Andere Schützen kamen aus Jeckelns Dienststelle, darunter 10-12, die schon bei Jeckelns Aktionen in der Ukraine dabei waren.

Um die Zahl der Schützen zu vergrößern, rief Jeckeln ca. 12 Mann der K-Staffel beim HSSPF ins Ritterhaus (Anm.: heutiges Parlamentsgebäude), eröffnete ihnen sein Vorhaben und dass mehr Erfahrene benötigt würden. „Er fragte nach freiwilligen Meldungen, erklärte jedoch zugleich, dass er es niemandem übelnehme, wenn er sich nicht melde, weil es sich um eine sehr unangenehme Sache handele. Von den Kraftfahrern meldete sich niemand. Ihnen fiel während der Ghettoräumung die Aufgabe zu, SS-Führer und Polizeioffiziere zur Exekutionsstätte und zurück zu fahren.“

Die Aushebung der Gruben geschah zehn Tage vorher unter der Leitung des SS-Untersturmführers H., Ingenieur und Baudezernent in Jeckelns Stab. „Dieser errechnete den vermutlich benötigten Rauminhalt der Gruben und ließ etwa ein halbes Dutzend Gruben anlegen. Sie maßen etwa zehn Meter im Quadrat und waren zweieinhalb bis drei Meter tief.“ Es wurden Rampen angelegt, „damit die Opfer später in die Gruben hineingehen konnten.“

300 russische Kriegsgefangene aus Salaspils gruben die Gruben innerhalb von zwei bis drei Tagen.

Am 27.-29.11 wurde das “Kleine Ghetto” der “Arbeitsjuden abgesperrt. Am 27.11. wurde über Plakate bekannt gemacht: Anordnung des Umzugs aller arbeitsfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren in diesen Ghettobezirk am 29.11.; zugleich Ankündigung des Beginns der Verlegung aller anderen Ghettoinsassen am 30.11. ab 6.00 Uhr. 10 kg Handgepäck waren erlaubt.

Am Morgen des 29.11. Appell der arbeitsfähigen Männer, Abmarsch der Arbeitskolonnen, Einweisung der anderen in das Kleine Ghetto. Am Nachmittag wurden per Plakat alle Schneiderinnen aufgefordert, sich beim Judenrat zu melden. Rund 300, unter ihnen einige, die sich als Schneiderinnen ausgaben, meldeten sich. Sie wurden noch am selben Tag ins Zentralgefängnis geschafft – und nach 14 Tagen in das „Frauenghetto“, einem einzigen großen Haus.

Aufgaben des Kommandos der Schutzpolizei

Wochen vorher fanden Besprechungen statt, eine auf zum Kfz-Einsatz. (…) Wenige Tage vorher die große Schlussbesprechung im Gebäude Kdo Schupo mit Führern von Jeckelns Stab, SD, Ordnungspolizei und lettischer Polizei, insgesamt über 20 Personen: Festlegung des Zeitplans, reibungsloses Zusammenwirken der verschiedenen Einheiten. Am Nachmittag im Konferenzsaal des Ritterhauses Versammlung des Führer- und Offz-Korps des HSSPF und anderer beteiligter Dienststellen und Einheiten. Jeckeln hielt eine „große Rede, in der er die Mitverantwortung bei der Vernichtung der Juden“ zur vaterländischen Pflicht erklärte. Den Angehörigen seines Stabes, denen er bestimmte Aufgaben nicht zugewiesen hatte, machte er zur Pflicht, den Exekutionen als Zuschauer beizuwohnen, um niemandem Mitwisserschaft und Mitzeugenschaft zu ersparen. (sog. „System Jeckeln“)

Befehlsausgabe beim Kommando Schupo

Am 29.11. um 19.00 Uhr Einsatzbesprechung mit einem Teil der Kommandoangehörigen: Bekanntgabe des Einsatzbefehls für die „Umsiedlung“. Die meisten ahnen, worum es geht. Ein SS-Obersturmführer sagt es ausdrücklich. „Bedenken einzelner Beamter, dass es zu einer Panik unter den Juden kommen könne, räumte er mit der Bemerkung aus, das sei nicht zu erwarten, da man das schon mal ausprobiert habe.“

Die Beamten haben die lettischen Polizisten aus den Revieren zu beaufsichtigen, die die Juden aus den Häusern holen und abtransportieren sollten.

Die Marschblöcke von je 1.000 mit je vier Beamten an der Spitze und am Ende, „um Übergriffe gegen die Juden zu verhindern und Zusammenstöße mit Angehörigen anderer Dienststellen zu vermeiden.“

2.5.4 Aufstellung der Marschkolonnen

Die Polizei traf um 4.00 Uhr am Ghettotor ein.

„Mit Unterstützung des jüdischen Ordnungsdienstes drangen lettisce Polizeibeamte in die Häuser des westlichen Ghettobezirks ein und forderten die Bewohner auf, sich auf der Lagerstaße einzufinden. Da die Juden ihre Wohnungen zur Nachtzeit nicht verlassen wollten, viele Alte außerdem nicht schnell enug aus den Häusern kamen, trieben Angehörige der lettischen Kommandos und des jüdischen Ordnungsdienstes die Juden mit Gewalt auf die Straße.“ Auf der Straße Zusammenstellung der Kolonnen durch Schutzpolizisten. Viele, die nicht schnell genug waren, wurden misshandelt.

Mit der Zeit fielen Schüsse, erst Warnschüsse, dann gezielt während des Marsches bei Fluchtversuchen. Viele die nicht mithielten, sich am Straßenrand setzten, „wurden auf der stelle erschossen.“ Die Ludzas Iela (Längsachse des Ghettos) war nach kurzer Zeit „mit vielen Leichen bedeckt.“ Beerdigungskommandos aus dem Kleinen Ghetto (unter ihnen der 16-jährige Margers Vestermanis mit einem Kamerad) brachten im Laufe des Tages ca. 300 Tote auf den Alten Jüdischen Friedhof. Kranke, Alte, Gehbehinderte wurden von lettischen Kommandos auf offene Lkw`s geworfen, z.T. übereinander.

Bei der Durchsuchung der leeren Häuser nach Flüchtlingen wurden ca. 20 Kranke gefunden und ins Lagerhospital gebracht.

2.5.5 Marsch zum Exekutionsgelände

In der Lauvas Iela war der Ghettozaun provisorisch zur Landstraße nach Dünaburg geöffnet. Übernahme der Marschkolonne durch vier deutsche Schutzpolizisten, die die Aufsicht über eine Hundertschaft der lettischen Schutzpolizei hatte, die seitlich die Kolonne mit entsicherten Karabinern bewachte. Die vier Schupos sollten zeigen, dass es sich um eine Aktion des HSSPF und nicht der Letten handelte. Fahrzeuge fuhren am Ende der Kolonne.

Auf der 8 km langen Marschstrecke gab es nur ein langsames Vorankommen. Letten erschossen Zurückbleibende. Ihre Leichen blieben am Straßenrand und im Straßengraben liegen.

Um 6.00 Uhr verließ die erste Kolonnen das Ghetto. Die nächsten folgten halbstündig, mittags die letzte.

2.5.6 Die Verhältnisse auf dem Exekutionsgelände

Die Kolonen zogen von der Straße links in einen Feldweg, der auf einen Wald zuführte, durch einen dichten Absperrschlauch aus SS-Einheiten sowie Angehörigen der Kompanie z.b.V. Riga und lettischen Einheiten. Eine zusätzliche äußere Absperrung verlief im Süden an der Straße im Halbkreis nach Osten, im Norden an der Bahnlinie. (ein verstärkter Zug der 2. Kompanie/Riga und die 3. Kompanie/Mitau des Reserve-Polizeibataillons 22) Der Postenabstand war 20 Meter jeweils in Rufweite, vom Zentrum des Exekutionsortes maximal 250 m entfernt. Maschinengewehre gegen Ausbruchsversuche.

2.5.7 Ablauf der Exekution (von vielen Zeugen geschildert)

Der Absperrschlauch verengte sich und führte in eine Waldschneise. Am Waldesrand mussten die Juden erst ihre Gepäckstücke ablegen, danach Wertsachen in aufgestellte Holzkisten „und nach und nach ihre Kleidungsstücke – zuerst die Mäntel, dann die übrige Oberbekleidung und die Schuhe – bis auf die Unterwäsche ausziehen und je nach Art der Kleidungsstücke auf bestimmte Haufen legen.

An diesem Tag betrug die Lufttemperatur in Riga – gemessen in zwei Meter Höhe über dem Erdboden – morgens um 7.00 Uhr -7,5° C, mittags um 13.00 Uhr -1,1° C, abends um 21.00 Uhr +1,9° C. Am Vorabend, dem 29.11., maß die Schneedecke dort durchschnittlich etwa 7 cm.“ Am 30.11. fiel von 7.00-21.00 Uhr kein Schnee.

“Bis auf die Unterwäsche entkleidet mussten die Juden auf dem schmalen Weg in gleichbleibendem Fluss auf die Gruben zu rückten, die sie dann einzeln und hintereinander jeweils in Gruppen zu etwa zehn Personen über eine Schrägung betreten mussten.

Gelegentlich stoppte die Zuführung zu den Gruben, wenn sich die Juden bei der Kleiderablage zu lange aufgehalten hatten. Mitunter, wenn die Kleiderablage schneller erfolgte oder die Kolonnen aus der Stadt schneller heranrückten, kamen die Juden auch in großer Zahl auf die Gruben zu. In diesem Fall griffen die Aufsichtsführenden ein und sorgten für ein gleichmäßiges Vorrücken, weil befürchtet wurde, dass die Juden unruhig werden könnten, wenn sie sich zu lange in unmittelbarer Nähe der Gruben aufhielten. Es sollte lediglich ein dünner, aber ständiger Strom von Juden in die Gruben geführt werden.

In den Gruben mussten sich die Juden mit dem Gesicht nach unten nebeneinander hinlegen. Aus kurzer Entfernung – in den kleineren Gruben vom Rand aus, in der großen Grube von den in der Grube stehenden Schützen – wurden sie durch Genickschüsse aus russischen Maschinenpistolen, die auf Einzelfeuer gestellt waren, getötet. Die nachfolgenden Opfer mussten sich unter Ausnutzung des vorhandenen Raumes und den entstandenen Lücken auf die soeben vor ihnen Erschossenen legen. Gehbehinderte, Alte und Kinder wurden von den Kräftigeren Juden in die Grube geführt, von ihnen auf die Leichen gelegt und von den Schützen, die in der großen Grube auf den Getöteten standen, erschossen. Auf diese Weise füllten sich die Gruben nach und nach.

Die Mehrzahl der Juden ging infolge der ausweglosen Lage demoralisiert, widerstandslos und gefast in den Tod, ohne die Kraft zur Gegenwehr aufzubringen. (…) Obwohl die Juden schon bei der Kleiderablage hören konnten, dass in dem Wäldchen ständig geschossen wurde, machte so gut wie niemand den Versuch, stehen zu bleiben oder zu fliehen.

Die Erschießungen erfolgten jedenfalls zeitweilig gleichzeitig in drei Gruben, und zwar in den kleineren Gruben durch jeweils einen, in der großen Grube durch drei Schützen zugleich.

Die Schützen wurden abgelöst, wenn sie das Magazin ihrer MP leer geschossen hatten. Im Allgemeinen genügte zur Tötung eines Juden ein Schuss; „Fangschüsse“ brauchten bei diesem System einer Massenerschießung kaum abgegeben werden. Es kam jedoch vor, dass die Schützen an der Reihe der Erschossenen schon weitergegangen waren und die Aufsichtsführenden, die auf dem wallartig aufgeschütteten Aushub aus den Gruben standen, bemerkten, dass sich eines der Opfer noch bewegte. Auf ihre Anweisung hin erhielt dieses Opfer vom Grubenrand einen Nachschuss. Den Aufsichtsführenden selbst war das Schießen untersagt.“ (Die große Grube war mit 10 x 20 m so groß wie der Schwurgerichtssaal des LG Hamburg.)

Der Anmarsch der Kolonnen ging pausenlos über den ganzen Tag.

Schupos führten die Kolonnen teilweise bis direkt an die Gruben und blieben z.T. bis zur Erschießung. Einige wurden zu anderen Aufgaben herangezogen.

Die Erschießung begann um 9.00 Uhr und ging in der großen Grube bis zur Dunkelheit. Vorher von 8.15-9.00 Uhr waren über 1.000 Häftlinge des Berlinert Transports erschossen worden. (Zeuge Baumunk: Zwei, drei Frauen hätten sinngemäß gesagt, „grüßt mir Berlin“, „grüßt mir Deutschland“, als sie in die Grube gingen.)

Am Nachmittag und Abend wurde wegen des großen Andrangs schnelle und damit ungenauer als in den ersten Stunden geschossen. Hinzu kam, dass die Schützen z.T. unter Alkoholeinfluss standen. Schnaps war zu Beginn der Aktion kistenweise bereitgestellt worden. Nunmehr ergab sich die Notwendigkeit, vom Grubenrand aus Fangschüsse abzugeben. Dabei wurde der Kommandeur Schupo Riga, Major Heise, durch einen Querschläger am Auge verletzt.“

SS-Führer und Polizeioffiziere, überwiegend vom HSSPF, führten Aufsicht. „Nicht eingeteilte Stabsangehörige waren als Zuschauer anwesend, außerdem Wehrmachts- und Polizeioffiziere, Angehörige der Zivilverwaltung und lettische Offiziere, auch Stahlecker und Führer der Einsatzgruppe A. Sie standen überwiegend auf den Erdwällen um die Gruben herum.“ „Auf dem Gelände habe es von Uniformierten gewimmelt“, so der Zeuge Baumunk. Einige hätten sich übergeben.

“Das grauenhafte Bild in den Gruben und um die Gruben herum lässt sich kaum beschreiben: schreiende und weinende Männer, Frauen, Kinder und Greise, andere Menschen wiederum sehr gefasst, z.T. betend; die Schüsse, mit der Regelmäßigkeit eines Automaten abgegeben; Menschen, die sich fassungslos über das Geschehen hilfesuchend an Uniformierte wenden, die wiederum unbarmherzig auf ihre Opfer einschlagen, um sie zu größerer Eile anzutreiben; angetrunkene Schützen; riesige, mietenförmige Berge von Kleidungstücken und schuhen; Menschen, die bis auf die Unterwäsche entkleidet, bei dieser Kälte herumstehen müssen, um zuzusehen, wie die Leidensgefährten vor ihnen erschossen werden, um sich anschließend auf die noch warmen Leiber der Erschossenen legen zu müsse und dann selbst erschossen zu werden.“

Mit den Berlinern zusammen wurden am 30. November 13.-15.000 Menschen erschossen.

2.5.8 Erschießung der Kranken aus dem provisorischen Krankenhaus

Am 30.11. gegen 13.00 Uhr meldete Leutnant H. dem ins Ghetto zurückgekommenen Major Heise das Ende der Räumungsaktion und 20 Kranke. Heise befahl, sie auf die Straße zu tragen. Heise befahl die Erschießung der der am Straßenrand Liegenden und machte es bei ersten vor. Schupos erschossen die anderen.

2.6 Bekanntwerden der Aktion in Riga

Meldungen über die Aktion brachten noch abends der sowjetische und britische Rundfunk. In den nächsten Tagen war die Aktion Stadtgespräch (auch wegen der beteiligten lettischen Polizisten und der Kleidungsstücke).

3.0 Beweiswürdigung zu den Feststellungen

(…)

Die Zeugin Frieda Michelson sei außerordentlich glaubwürdig.

Schon am 30.11. habe es den Befehl zum Antreten gegeben, dann sei man zurück in die Häuser geschickt worden (Ludzas Iela 38). Aus dem Fenster habe sie Morde beobachtet. Am 7. oder 8.12. musste man wieder antreten. (…) Auf dem Exekutionsgelände Auskleiden bis auf die Unterwäsche und Kittel. Sie wies einen Uniformierten auf ihr Schneiderinnen-Diplom hin. Er: “Geh zu Stalin mit deinen Dokumenten!“ Sie versuchte, sich in einem Kleiderhaufen zu verbergen, wurde entdeckt, mit einer Peitsche geschlagen. Sie fing an, sich die Haare zu raufen und zu schreien. Andere Juden zu ihr: „Sei ruhig, du schadest uns nur!“ Sie flehte einen Schutzmann um Hilfe an. Er wies sie zurück. Als Letten mit dem Polizisten sprachen und ihn ablenken, ließ sie sich in den Schnee fallen und stellte sich tot. Zwei Schutzleute auf Lettisch: „Die ist tot.“ Nachfolgende Juden legten ihre Schuhe über ihr ab, schließlich lag sie unter einem Berg an Schuhen. So habe sie nichts mehr sehen, aber eine Menge hören können. Beispielsweise habe sie gehört, wie eine Frau gebeten habe, ihre Kinder nicht ausziehen zu müssen, weil es so kalt sei. Ihr sei geantwortet worden, ihnen werde schon heiß werden. Sehr lange habe sie unter den Schuhen gelegen, später rief ein Kind „Mama, Mama“, mehrere deutsche Stimmen, anschließend Schüsse, keine Kinderrufe mehr. Die Kleiderhaufen wurden von deutschsprachigen Männern bewacht. Später, als lange Ruhe war, sei sie rausgekrochen. Habe sich im Busch versteckt und Kleider angezogen. In einem Dorf habe sie sich am Morgen zwei Bäuerinnen zu erkennen gegeben. Ein Tag sei sie versteckt worden, dann in ein anders Dorf, wo sie als lettische Bäuerin verkleidet bis Kriegsende lebte.

Alexander Bergmann, Vorsitzender des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands seit 1993 und am 12. Januar 2016 im Alter von 90 Jahren gestorben, verlor in Rumbula seine Eltern, seine Großmutter, seinen jüngeren Bruder und viele, viele Verwandte. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1387 )

Beteiligt an der Liquidierung des Ghettos waren mindestens 1.000, maximal 1.700 Männer: fast alle in R%iga stationierten deutschen Schutz- und Ordnungspolizisten, zwei Polizei-Reservekompanien, das lettische Sonderkommando Arajs mit 300 Mann, lettische Schutzmänner des 6. und 9. Polizeireviers, das 20. Schutzmannschaft-Bataillon, die meisten Angehörigen der deutschen Sicherheitspolizei und SD, einige Offiziere der Waffen-SS (Anita Kugler, S. 2019.)

Zur Vernichtung des lettisch-jüdischen Ghettos vgl.

 Andrej Angrick/Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Darmstadt 2006, S. 138-184

Anita Kugler, Scherwitz – Der jüdische SS-Offizier, Köln 2004, S. 193-223


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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