Im 1. Nach-ISAF-Jahr nahmen die Zivilopfer bei Frauen um 37% zu, bei Kindern um 14%, bei Regierungs- und Justizpersonal verdoppelten sie sich. In der Nordostregion - ehem. deutsches Verantwortungsgebiet - hat sich die Zahl der Zivilopfer verdoppelt. Hier Zusammenfassung und Kommentierung des UNAMA-Bericht mit weiteren Informationen zu Daesh, Kunduz, Baghlan und Helmand.
„Innerstaatliche Fluchtalternativen“ in Afghanistan?
Neuer Höchststand an Zivilopfern 2015 -
Zunahme bei Frauen um 37%, bei Kindern um 14%,
Verdoppelung bei Justiz- und Regierungspersonal -
Lauter wuchernde Fluchtursachen!
(UNAMA-Jahresbericht 2015)
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (16.02.2016)
Fotos unter www.facebook.com/winfried.nachtwei
Am 14. Februar veröffentlichte UNAMA ihren Jahresbericht 2015 „Schutz von Zivilpersonen im bewaffneten Konflikt“, http://unama.unmissions.org/protection-of-civilians-reports . Zusammenfassung von Thomas Ruttig, 16.02.2016,
https://thruttig.wordpress.com/2016/02/16/un-zahl-ziviler-opfer-in-afghanistan-steigt-weiter/
Auf ZEIT ONLINEhttp://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-02/un-bericht-zivile-opfer-afghanistan
Zum UNAMA-Bericht 2014 und meinen 20 weiteren Beiträgen zur Sicherheitslage Afghanistans auf http://nachtwei.de (linke Spalte).
Da die Massierung an schlechten Nachrichten in Sicherheitslagen AFG nicht die ganze Wahrheit des Landes erfasst und ein „ich kann`s nicht mehr hören“ nahelegt, bin ich auch im Fall AFG unverdrossen weiter auf der Suche nach Hoffnungsfunken und Chancen. Über diese berichte ich bei anderen Gelegenheiten.
UNAMA-Report 2015
Zusammenfassung
2013, 2014, 2015 – jedes Jahr ein neuer Höchststand an Zivilopfern, jetzt mit über 3.500 getöteten und fast 7.500 verletzten Zivilpersonen.
Die Opferzahlen stiegen am stärksten bei Regierungsvertretern, Justizpersonal (jeweils verdoppelt ggb. 2014), bei Frauen und Kindern.
Der Anstieg der Zivilopfer konzentrierte sich auf den Nordosten (verdoppelt, ggb. 2009 verachtfacht) und den Raum Kabul.
Auffällig sind die zunehmenden Angriffe auf Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, Menschenrechte von Frauen, Medien und Menschenrechtsverteidiger.
Zugeschrieben werden die Zivilopfer zu 62% den regierungsfeindlichen Kräften (AGE), 17% den Pro-Regierungskräften. Erstmalig fielen Zivilpersonen auch ISIS-/Daesh-Kämpfern zum Opfer. Zu den meisten Zivilopfern (37%) kam es im Kontext von Bodenkämpfen und insbesondere durch den Einsatz von indirektem Feuer und Explosivmunition auf Seiten der afg. Sicherheitskräfte.
Die verschärfte Sicherheitslage führte zu einem Anstieg der Binnenflüchtlinge um über 335.000 (78%) auf knapp 1,2 Mio.
Kommentar
Ein Jahr nach Abzug von ISAF ist die Sicherheitslage desaströs. Führungsversagen auf afghanischer Seite und strategische Fehler der Staaten“gemeinschaft“ (und darin auch Deutschlands) haben dazu beigetragen.
Von dem „sicheren Umfeld“, das ISAF und internationale Aufbauhilfen 13 Jahre befördern sollten und das es zeitweilig in Teilen des Landes auch gab, ist immer weniger geblieben und zu sehen. Als äußerst bestürzend, ja verstörend empfinde ich den Sicherheitsabsturz im Nordosten und insbesondere von Kunduz. Für die Abertausenden Frauen und Männer, die von Bundesregierung und Bundestag dorthin entsandt wurden, die dort Strapazen, Gefahren und Opfer auf sich nahmen, viel leisteten und Kameraden verloren, kann dieser nachtägliche Sinnverlust zum Verzweifeln sein.
Seriös nicht absehbar ist, wie es in Monaten, in ein, zwei Jahren um solche Provinzen und Distrikte steht, die jetzt noch relativ ruhig erscheinen.
Hier wie Innenminister de Maiziere die Existenz von „innerstaatlichen Fluchtalternativen“ („sicheren Herkunftsländern“ im Kleinen sozusagen) zu behaupten, entbehrt jeder faktischen Grundlage und setzt die lange in deutscher Afghanistanpolitik vorherrschende Schönrednerei und Realitätsverleugnung fort. Sein Argument, in Afghanistan seien Ziel von Angriffen der Taliban nicht „normale Bürger“, sondern „Funktionsträger“ (FAZ 3.2.2016), negiert die Tatsache der extremen „Begleitopfer“ der Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen, Sprengstoffanschlägen, gezielten Tötungen, die wachsende Bedrohung für „normale Bürger“. Der UNAMA-Report beschreibt in Zahlen, was Stefan Klein in seiner Reportage in der Süddeutschen vom 15. Februar eindringlich am Beispiel einzelner afghanischer Familien schilderte: Die Gewalt-Fluchtursachen wuchern in einem Land, wo 42% der Bevölkerung jünger als 15 Jahre ist und die sowieso schwache Wirtschaft seit 2013 abstürzt.
(http://www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-rettet-den-mittelstand-1.2862792?reduced=true )
Hierhin aus Deutschland afghanische Flüchtlinge abschieben zu wollen, wäre verantwortungslos und zynisch. (vgl. die BICC-Studie „Warum Afghanistan kein sicheres Herkunftsland ist“ mit Empfehlungen zur wirksamen Fluchtursachenbekämpfung in Afghanistan, https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/BICC_Policy_Brief_1_2016.pdf )
Im Einzelnen
(1) Die Gesamtzahl der Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts stieg in 2015 ggb 2014 um 4% auf 11.002 und damit auf die höchste Opferzahl seit Beginn der UNAMA-Zählung 2009.
Die Zahl der Ziviltoten ging um 4% zurück auf 3.545, die Zahl der Verletzten stieg um 9% auf 7.457.
Besonders zu nahm die Zahl der Opfer unter Frauen (+37% auf 1.246, davon 333 Tote) und Kindern (+14% auf 2.829, davon 733 Tote). Jedes vierte Opfer war 2015 ein Kind und jedes zehnte eine Frau.
(Die Afghanischen Sicherheitskräfte verloren bis Ende Oktober 2015 12.169 Soldaten und Polizisten, davon 4.541 Gefallene und 7.628 Verwundete, ein Anstieg ggb. dem Vorjahr um 20%. Verlässliche Zahlen zu den Opfern auf Seiten der Aufständischen sind mir nicht bekannt.)
(2) Verantwortliche: 62% der Zivilopfer gingen auf das Konto der Aufständischen, 17% auf das von Pro-Regierungskräften (Afghanischen Sicherheitskräfte/ANDSF 14%, internationale Streitkräfte 2%, 1% andere Pro-Regierungskräfte). 17% der Zivilopfer ließ sich keiner Seite zweifelsfrei zuordnen (+90% ggb. dem Vorjahr; bei den Kämpfen in und um Kunduz konnte ein erheblicher Teil der Zivilopfer nicht zugeordnet werden).
Regierungsfeindliche Kräfte (AGE): Die ihnen zugeschriebenen Zivilopfer gingen ggb. dem Vorjahr um 10% auf 6.859 (davon 2.315 Tote) zurück, v.a. wegen sinkender Opferzahlen durch IED`s und Bodenkämpfen. AGE-Zivilopfer nahmen zu bei komplexen und Selbstmordattacken (+16%) und bei gezieltem Töten (+27%).
Pro-Regierungskräfte (PGF): Ihre Zivilopfer nahmen ggb. dem Vorjahr um 28% auf 1.854 (davon 621 Tote) zu, verursacht v.a. durch den Einsatz von indirektem Feuer und Explosivmunition (Artillerie, Mörsern, Raketen) bei Bodenkämpfen. (In 2015 waren die ANDSF erstmalig fast vollständig auf sich gestellt.)
Die Zahl der Zivilopfer durch Luftoperationen internationaler Streitkräfte stieg um 9% auf 170 (davon 103 Tote). Dieser Anstieg von Zivilopfern resultiert weitgehend aus dem Luftangriff auf das MSF-Krankenhaus in Kunduz.
(3) Taktiken/Kontext: Insgesamt gab es die meisten Zivilopfer bei Bodenkämpfen: 1.116 Tote und 3.021 Verletzte (37% aller Zivilopfer, +15% ggb. dem Vorjahr); 21% durch IED`s (22% im Vorjahr), 17% (21%) durch komplexe und Suizid-Attacken, 13% (14%) durch gezielte Tötungen, 3% durch Luftoperationen.
Zivilopfer durch gezieltes Töten (targeted killing, hier primär von Seiten der Aufständischen)stiegen um 27% auf 1.422, davon 850 Tote. Gezieltes Töten verursachte nach Bodenkämpfen die zweitmeisten Ziviltoten. 94% dieser Mordversuche gingen auf das Konto von regierungsfeindlichen Kräften. Sie zielten vor allem auf humanitäre Helfer, Stammesälteste, Regierungsvertreter, Mullahs und Justizangehörige. Zu 139 der 725 den AGE zugeschriebenen targeted killings Fällen bekannten sich die Taliban, ein Anstieg um 59% ggb. dem Vorjahr.
UNAMA wertet diese ausdrücklich gegen Zivilpersonen und zivile Objekte gerichteten Angriffe als Kriegsverbrechen.
Die Zivilopfer unter Richtern, Staatsanwälten und Justizpersonal verdoppelten sich 2015 ggb. 2014 auf 188, davon 46 Tote.
Auch bei Angriffen auf Regierungsvertreter verdoppelte sich die Zahl der Zivilopfer auf 962, davon 156 Tote.
Gezielte Angriffe auf Mullahs und religiöse Orte gingen leicht zurück, die Todesopfer dabei erhöhten sich aber von 19 in 2014 auf 42 in 2015.
(4) ISIL/Daesh begann 2015 in der Provinz Nangarhar Zivilopfer zu verursachen, primär bei Kämpfen mit den Taliban. Im ersten Halbjahr wurden Daesh 13 Zivilopfer zugeschrieben, im 2. Halbjahr in der Provinz Nangarhar 69 (davon 30 Tote). Daesh war verantwortlich für weitere 26 Zivilopfer (davon 17 Tote) durch gezielte Tötungen und 26 Zivilopfer (4 Tote) durch IEDs, 23 (11) bei Bodenkämpfen und 7 Tote bei Entführungen.
Imitiert wurden Medientaktiken des ISIS aus anderen Ländern: Am 25. Juli wurden in Nangarhar 10 erwachsene, mit den Taliban liierte Kämpfer per IED exekutiert. Das Video mit der Exekution zirkulierte ab 10. August weltweit in den sozialen Medien.
(Zu den Daesh-Attacken gegen Schulen und Gesundheitseinrichtungen s.u.)
Brigadegeneral Wilson Shoffner/Resolute Support Mission schätzt die Zahl der mit Daesh in Afghanistan verbundenen Militanten auf fast 4.000, aktiv in vier oder fünf entlegenen Distrikten in Nangarhar. (TOLOnews 12.2.2016)
(5) Räumliche Verteilung: Der Anstieg der Zivilopfer konzentrierte sich auf die zwei Regionen Nordost und Central (in und um Kabul). In allen anderen Regionen ging die (oft höhere) Zahl an Zivilopfern zurück.
Im Nordosten, dem früheren Haupteinsatzraum der Bundeswehr, verdoppelte sich die Zahl der Zivilopfer von 929 in 2014 auf 1978 in 2015. (Hauptgrund die Kämpfe in und um Kunduz nach der Taliban-Eroberung Ende September) Der Nordosten hat damit die zweitmeisten Zivilopfer von den insgesamt acht Regionen Afghanistans. In 2009 lag die Region mit 262 Zivilopfern an sechster Stelle landesweit. Die Zahl der Zivilopfer im Nordosten hat sich ggb. 2009 fast verachtfacht!
(Zum Vergleich: In 2009 entfielen 10% aller Zwischenfälle mit bewaffneten Oppositionsgruppen auf den gesamten Norden. ANSO Quarterly Data Report 4/2009)
In der Central-Region, insbesondere Kabul City, verursachten komplexe und Selbstmordattacken einen Anstieg der Zivilopfer um 18%. Zwei Selbstmordattacken am 7. August verursachten 355 Zivilopfer, davon 43 Tote.
In 2015 nahmen die Taliban 24 Distriktzentren ein (4 im Vorjahr), vier hielten sie bis zum Jahresende. Mit Kunduz besetzten sie erstmalig seit 2001 eine Provinzhauptstadt.
(6) Besonders bedrohte Gruppen und Einrichtungen
Frauen im bewaffneten Konflikt
11% aller Zivilopfer waren Frauen und Mädchen. Im Durchschnitt wurden 2015 jede Woche mehr als 24 Frauen und Mädchen getötet oder verletzt.
In den meisten Regionen hinderten Aufständische in Gebieten unter ihrer Kontrolle Frauen und Mädchen an der Wahrnehmung fundamentaler Menschenrechte, so ihrer Bewegungsfreiheit, Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, Verbot der Schulbildung oberhalb der Grundbildung.
Von Pro-Regierungskräften verantwortete weibliche Zivilopfer nahmen um 36% zu, meistens wegen des Einsatzes von Mörsern und Granaten in bewohnten Gebieten.
Zwischenfälle bei Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen
Daesh-/ISIL-Kämpfer erzwangen im August die Schließung von 25 Bildungseinrichtungen im Distrikt Deh Bala in der Provinz Nangarhar und verwehrten über 14.000 Schülerinnen und Schülern und 341 Lehrpersonen den Zugang zu den Schulen. Lehrer wurden bei öffentlichen Versammlungen und in Telefonanrufen massiv bedroht. Zum Jahresende waren noch zehn Bildungseinrichtungen geschlossen.
Bei dem US-Luftangriff auf das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Kunduz wurden 42 Zivilisten getötet und 43 verletzt. Die Auswirkung auf die Gesundheitsversorgung in der Provinz ist verheerend.
Stark zugenommen haben Einschüchterungen und Drohungen gegenüber Gesundheitspersonal auf 31 (14 im Vorjahr), was zur Schließung von Gesundheitszentren und Kündigung vieler weiblicher Beschäftigten führte. Attacken auf Gesundheitseinrichtungen nahmen um 47% auf 63 zu. Fast ein Drittel davon geschah in der Provinz Nangarhar, zum größten Teil durch Daesh/ISIL-Anhänger.
Taliban Drohungen gegen Medien und Menschenrechtsverteidiger
Am 12. Oktober verurteilte die Militärkommission der Taliban in einer Stellungnahme die Berichterstattung der TV-Kanäle Tolo TV und 1TV und erklärte ihre Niederlassungen zu „militärischen Zielen“ und ihre Mitarbeiter zu „feindlichem Personal“. Zuvor hatten beide Kanäle über Beschuldigungen berichtet, wonach Taliban in Kunduz Frauen vergewaltigt hätten. (Einen Tag später wies eine Versammlung afg. Journalisten die Drohung zurück und kündigte für den Fall, dass Medienleute zu Schaden kämen, einen Boykott der Taliban-Nachrichten an.) Am 16. Oktober riefen Taliban auf ihrer Website zu Attacken auf Medien-Niederlassungen und Journalisten auf, „die für den Westen arbeiten und von ihm finanziert werden“. Sie müssten „eliminiert“ werden. (Am 20. Januar griff in Kabul ein Kfz-gestützter Selbstmordattentäter einen Shuttle-Bus der Moby Group, einer Muttergesellschaft von Tolo TV, an und tötete acht Zivilpersonen, davon sieben Tolo TV-MitarbeiterInnen, und verletzte 30 weitere. Die Taliban bekannten sich dazu. (http://www.nytimes.com/2016/01/22/world/asia/afghanistan-tolo-tv-bombing.html?_r=0 )
(Am 30. Januar erschossen Bewaffnete in Nangarhar den bekannten, für Radio Television Afghanistan/RTA arbeitenden Journalisten und Publizisten Mohammad Zubair Khaksar, genannt auch „Stimme von Nangarhar“.)
Am 15. Oktober veröffentlichte die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) einen Bericht über die Menschenrechtssituation während der Taliban-Besetzung von Kunduz. Am Folgetag wiesen die Taliban den Bericht zurück und bezeichneten die AIHRC als Geheimdienst-Netzwerk. Zehn Tage später wurde in Jalalabad ein AIHRC-Bus mit IED angegriffen, zwei Mitarbeiter der Kommission wurden getötet, vier verletzt.
(7) Entführungen nahmen um 39% auf 410 zu (400 durch AGE). Die Zahl der Zivilopfer dabei stieg um 112% auf 172, davon 145 Todesopfer und 27 Verletzte.
Entführungen und Tötungen von Hazara: 145 Menschen dieser Ethnie wurden 2015 bei 20 Zwischenfällen entführt. 118 wurden freigelassen, 13 getötet, zwei starben in Gefangenschaft.
(8) Zivilopfer durch weitere Pro-Regierungskräfte
Die Afghan Local Police umfasst Anfang 2016 28.231 Männer in 175 Distrikten und 28 Provinzen. Die ALP bildet in entlegenen Gebieten die erste Verteidigungslinie.
Die der ALP zugeschriebenen Zivilopfer gingen um 9% auf 134 (davon 35 Tote) zurück. Die schwersten Zwischenfälle geschahen in Kunduz, Badakhshan, Sar-e Pul und Kandahar. Am meisten wurden der ALP vorgeworfen Körperverletzungen durch Schläge, Zerstörung von Eigentum, Diebstahl, Bedrohungen, Schikane.
(Die ALP verliert pro Monat ca. 500 Mitglieder durch Tod, Verwundung und Desertion.)
Bewaffnete Pro-Regierungsgruppen verantworten 136 Zivilopfer, davon 54 Tote, und einen Anstieg um 42%ggb. dem Vorjahr. Zu über der Hälfte der Zivilopfer kam es bei Bodenkämpfen. Solche Gruppen werden vermehrt von den afg. Sicherheitskräften genutzt. Vermehrt führten diese Gruppen targeted killings durch. Dabei wurden 22 Menschen getötet und 3 verletzt. Im Vorjahr waren es 9 Tote und ein Verletzter.
(Im Rahmen ihrer „National Uprising Support Strategy“ will die afg. Regierung in 25 Provinzen mit schwacher ANDSF-Präsenz regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen schaffen. Bis Ende 2015 entstanden solche Gruppen in 23 Distrikten von 10 Provinzen, davon in 6 Distrikten in Badakhshan, 5 in Jawzjan, 3 in Balkh, 2 in Sar-e Pul, je 1 in Baghlan und Samangan – alle im Norden.)
(9) Binnenflüchtlinge: Ihre Zahl wuchs in 2015 um 335.400 (+78%) auf insgesamt 1,17 Mio. IDPs. Allein die Konflikte im Nordosten zwangen 90.700 Menschen, ihre Wohnorte zu verlassen. Kämpfe zwischen Daesh-/ISIL Kämpfern und Taliban sowie extreme Unterdrückung durch Daesh trieb in Teilen der Provinz Nangarhar 40.000 Menschen in die Flucht. Ende 2015 beherbergten oder „produzierten“ 31 von 34 Provinzen Flüchtlinge.
Weitere Informationen zur Sicherheitsentwicklung
(1) Laut TOLOnews Security Report 2015 (http://www.tolonews.com/en/afghanistan/23282-afghanistan-witnesses-10000-security-terrorist-incidents-in-2015-report ) kam es im letzten Jahr insgesamt zu 9.996 Sicherheits- und Terrorvorfällen. Nach Start der „Azm“-Operation der Taliban am 24. April wurde der Mai der gewaltträchtigste Monat mit 1.026 Vorfällen. Die meisten Sicherheitsvorfälle ereigneten sich in Helmand, Nangarhar und Faryab; in Panjshir kam es nur zu zwei Sicherheitsvorfällen. In den letzten beiden Monaten des Jahres gingen die Aktivitäten der Militanten deutlich zurück. Aber zugleich fokussierten sie sich vermehrt auf größere Städte. Sicherheitsoffizielle bezeichneten 2015 als ein „Jahr für`s Überleben“. Laut Report halfen der Widerstand und die Opfer der afg. Sicherheitskräfte dem Land, das Jahr zu überleben.
Als weitere Bedrohung tauchte 2015 ISIL/Daesh auf. Nach anfänglich nur wenigen Aktivitäten in Teilen des Landes entwickelte sich die Terrorgruppe später für die Sicherheitskräfte zu einem Problem. Die ersten Kämpfe zwischen Daesh und Taliban Kämpfern gab es im Distrikt Kajaki/Helmand. Dann tauchten angebliche Daesh-Kämpfer in den Provinzen Zabul und Farah auf.
Entführungen (mehr als 650 Personen durch Militante) und wachsende Gewalt gegen Zivilisten verstärkten die Sorgen in der Bevölkerung.
(Zur Entführung von 31 Buspassagieren in Zabul und der Ermordung von sieben Hazara sowie den darauf folgenden größten Massendemonstrationen im November gegen politische Gewalt seit Jahrzehnten vgl. http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1381 )
(2) Jahresbilanz des Resolute Support Kommandierenden, US-General Campbell
Die Afghanische Armee (ANA) sei kaum einsatzbereit: Nur eine von insgesamt 101 Infanterieinheiten landesweit sei „bereit für den Kampf“, 38 hätten massive Probleme. Statistisch habe die ANA jeden Tag 22 Soldaten im Kampf verloren, eine Steigerung von 42% ggb. 2014. Zusammen mit der hohen Attrition-Rate verliere die Armee jedes Jahr ein Drittel ihrer Soldaten. (SPIEGEL 2/2016)
und Warnung des Chefs der US Defence Intelligence Agency (DIA)
James R. Clapper, vor dem US-Senat vor einem politischen Zusammenbruch in Afghanistan in 2016. (TOLOnews 10.2.2016)
(3) Raum Kunduz
Die afg. Nachrichtenagentur Pajhwok meldete am 8. Februar 2016, dass fast 400 der insgesamt 2.100 registrierten Unternehmer und Händler die Provinz Kunduz aus Sicherheitsgründen verlassen hätten. Die Exporte über den Amu-Flusshafen Scher Chan Bander an der tadschikischen Grenze sei um 50% zurückgegangen. Die Taliban stünden zum Teil fünf Kilometer vor Kunduz. Die Mobilfunkkommunikation sei nachts eingestellt. (Ein solches „Funkloch“ hatten die Taliban auch im Frühjahr 2010 erzwungen. Sie konnten es bis zum Spätherbst 2010 halten.) http://www.pajhwok.com/en/2016/02/08/400-traders-leave-kunduz-security-reasons
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen, insbesondere solche zu Frauenrechten, sahen sich genötigt, mit und nach der Besetzung von Kunduz die Provinz zu verlassen. Vorher arbeiteten mehr als 70 in der Provinz, jetzt sind es noch 30. (http://www.pajhwok.com/en/2016/02/14/kunduz-security-threats-force-csos-scale-back-operations )
Bericht von Sybille Schnehage, Vors. von Katachel e.V., Verein für humanitäre Hilfe in AFG (seit1994) aus Kunduz aktuell (sie entkam knapp bei der Taliban-Besetzung) und der wider alle Schwierigkeit aufrecht erhaltenen Hilfe. http://www.katachel.de/aktuelles/
Umfassend zur Lage in Kunduz Thomas Ruttig; https://thruttig.wordpress.com/2016/02/09/ist-nach-kundus-vor-kundus-medienubersicht-u-aan/ , und am 30. Januar 2016
Obaid Ali (AAN), The 2016 Insurgency in the North: Beyond Kunduz city – lessons (not taken) from the Taleban takeover, https://www.afghanistan-analysts.org/the-2016-insurgency-in-the-north-beyond-kunduz-city-lessons-not-taken-from-the-taleban-takeover/
Baghlan
Ende Januar und am 11.2.2016 Sprengung von Hochspannungsmasten und „circuits“ durch Aufständische in Baghlan und Kunduz, damit Unterbrechung der Importstromleitungen aus Tadschikistan und Uzbekistan nach Kabul. Am 16.2. meldet TOLOnews heftige Kämpfe in den Gebieten Dand-e Ghori und Dand-e Shahabuddin in Nord-Baghlan.
(4) Helmand
Mitglieder des Provinzrates berichten, die anhaltenden heftigen Kämpfe im Distrikt Sangin erschwerten das Leben der Bevölkerung extrem. Die Kämpfe begannen vor vier Monaten, als Hunderte Taliban Marja, Musa Qala, Sangin und auch die Provinzhauptstadt Lashkar Gah stürmten. (TOLOnews 14.2.2016)
Bis Ende Februar sollen einige hundert US-Soldaten nach Helmand verlegt werden.
TOLOnews und CNN 21.12.2015: Der Distrikt Sangin sei überwiegend in den Händen der Aufständischen, so auch mehrere Regierungsgebäude. Regierungskräfte seien auf den Compound des Polizeichefs und den Stützpunkt eines ANA-Bataillons zurückgedrängt. Laut Polizeichef habe es schwere Verluste gegeben und sei die Munition fast aufgebraucht. Am Tag zuvor sei der Distrikt Greshk an die Aufständischen gefallen.
Longwar-Journal 21.12.2015: Von 13 Distrikten seien fünf unter Taliban-Kontrolle (Nowzad, Musa Qala, Baghran, Dishu, Sangin), fünf hart umkämpft. (Landesweit seien 40 Distrikte, 10% aller Distrikte, unter Taliban-Kontrolle und 39 umkämpft). Im letzten Monat ergaben sich 65 Soldaten und mehrere ihrer Offiziere den Taliban, nachdem ihr Außenposten über Wochen belagert worden war und keine Verstärkung und Nachschub erhalten hatte. Allein in und um Sangin seien seit 2006 mehr als hundert britische Soldaten gefallen. http://www.longwarjournal.org/archives/2015/12/taliban-controls-or-contests-nearly-all-of-southern-afghan-province.php
(5) 27. Jahrestag des sowjetischen Truppenabzugs aus Afghanistan am 15. Februar
Während der sowjetischen Besatzung vom Dezember 1979 bis Februar 1989 verloren 850.000 bis 1,5 Mio. afghanische Zivilpersonen ihr Leben.
Jüngste Beiträge zu Afghanistan
- Stell Dir vor, es ist Krieg, ISAF geht, es gibt Kriegsopfer mehr denn je – und kaum jemand hierzulande sieht noch hin. Kommentar zur Resolute Support Debatte im Bundestag vor dem Hintergrund der zeitweiligen Eroberung von Kunduz, 22.12.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1383
- Was tun, wenn in Afghanistan die Zivilopfer immer mehr zunehmen und Fluchtursachen sprießen? Bundestag zu Resolute Support zwischen Ernüchterung, Realismus und Verdrängung, Brief an Abgeordnete der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, 18.12.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1382
- Afghanistan: Dranbleiben! In: ADLAS – Magazin für Außen- und Sicherheitspolitik, 3/2015, S.52-59, https://adlasmagazin.files.wordpress.com/2015/12/adlas-2015-03.pdf
- Selbstkritische Bilanz und Lehren nach 13 Jahren deutschen AFG-Einsatzes, in: R. Schröder, S. Hansen, Stabilisierungseinsatz als gesamtstaatliche Aufgabe – Erfahrungen und Lehren aus dem deutschen AFG-Einsatz zwischen Staatsaufbau und Aufstandsbekämpfung (COIN), Nomos 2016
- Alarmsignale, Hoffnungszeichen – AFG-Nachrichten, die hierzulande nicht durchdringen, 13.12.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1381
- „Freundschaft verbindet“ – 100 Jahre deutsch-afghanische Beziehungen, 13.12.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1380
- Die Eroberung von Kunduz – ein Weckruf!? Aktuelle Anmerkungen und ein Interview mit der Märkischen Oderzeitung + Südwestpresse, 18.10.2015, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1373
- Bericht der unabhängigen Kommission zur Untersuchung des Einsatzes des G36-Stumgewehres in Gefechtssituationen, 14.10.2015, Zusammenfassung und Links unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1374
- Auch das gibt`s in Afghanistan: Aktuelle Better News von Aufbauprojekten – z.B. Berufsausbildungs-Campus Takhta Pul, Radio- und TV-Studio in Samangan, Neubau des Umweltschutz-Departement in Feyzabad, August 2015, www.nachtwei.de/index.0php?module=articles&func=display&aid=1368 , Fotos auf Facebook
- 6 Monate nach ISAF-Abzug aus Afghanistan: Höchststand an Zivilopfern, v.a. bei Frauen und Kindern; Anstieg komplexer und Suizid-Attacken um 78% (UNAMA-Bericht 1. Halbjahr 2015), www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1366 , Fotos auf Facebook
- Kunduz – eine Woche im April: Taliban-Offensive dort, Einsatzbilanzierungen, vor allem Verdrängung hierzulande, 3.5.2015, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1353
- „Ihr habt die Uhr …“ - erster Afghanistanbesuch nach ISAF-Ende – die Aufbauhilfe geht weiter, Reisebericht 8.3.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1345 , Fotos auf Facebook
- Curriculum für obligatorische “Friedens- und Menschenrechtserziehung”: Das gibt`s nicht in Deutschland, aber bald in Afghanistan –für alle Studierenden an 44 Teacher Training Colleges!, 3.3.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1344
- UNAMA-Jahresbericht „Zivilopfer“ 2014: Im ISAF-Abzugsjahr 2014 Intensivierung des Krieges: Zunahme der Zivilopfer um 22% auf 10.548 Tote und Verletzte, durch Bodenkämpfe um 54%! 27.2.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1343
- Bundestag zu Afghanistanbilanz und Beratungsmission „Resolute Support“ – meine „Persönliche Erklärung zur Abstimmung“, 28.12.2014, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1333 ,„Denkwürdigkeiten“ der Politisch-Militärischen Gesellschaft Nr. 94, http://www.pmg-ev.com/deutsch/denk.htm
- „Wir bleiben dran und da!“ Deutsch-afghanische Freundschaft mit langem Atem: 28. Afghanistan-Tagung in Villigst – ein Leuchtturm! 16.12.2014, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1331
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: