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Die Eroberung von Kunduz - ein Weckruf!? Interview zu Afghanistan aktuell

Veröffentlicht von: Nachtwei am 18. Oktober 2015 16:33:37 +01:00 (70813 Aufrufe)

Wegen der intensiven Abschlussarbeiten der von mir geleiteten G36-Kommission konnte ich bisher nicht zur Eroberung von Kunduz durch die Taliban am 28. September Stellung nehmen. Seit 2004 habe ich die Provinzstadt ca. zehnmal besucht, bis 2007 voller Hoffnung. Hier mein Interview mit Andre Bochow von der Märkischen Oderzeitung. 

Die Eroberung von Kunduz – ein Weckruf!?

Interview zu Afghanistan aktuell

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (18.10.2015)

Am 28. September eroberten die Taliban Kunduz aus drei Richtungen innerhalb weniger Stunden. Erst nach 15 Tagen konnten die afghanischen Sicherheitskräfte mit US-Unterstützung die Stadt zurückgewinnen. In den umgebenden Distrikten dauern die Kämpfe an. Mehrere hundert Menschen sollen bei den Kämpfen um`s Leben gekommen sein.

Hierzu konnte ich bisher nicht berichten, weil zur selben Zeit die von mir geleitete unabhängige Kommission „Einsatz des G36-Sturmgewehrs in Gefechtssituationen“ ihren Abschlussbericht fertigstellte. Äußerst bedrückend empfanden wir dabei, in den zurückliegenden Wochen über 150 Bundeswehrsoldaten über ihre Einsatz- und Gefechtserfahrungen, ihre enormen Belastungen vor allem im Raum Kunduz gehört zu haben, und jetzt aus der Ferner zu erleben, wie dort alles wegrutscht. Da gibt’s kein Ausweichen vor der schmerzhaften, verstörenden Frage, ob alles umsonst war.

Hier zu „The fall and recapture of Kunduz“ von Obaid Ali/Afghanistan Analysts Network:

https://www.afghanistan-analysts.org/the-2015-insurgency-in-the-north-3-the-fall-and-recapture-of-kunduz/ (16.10.2015). Thomas Ruttig am 4. Oktober ausführlich zum Bombenangriff auf die Klinik von Ärzte ohne Grenzen (MSF) und zur allgemeinen Lage in Kunduz: https://thruttig.wordpress.com/2015/10/04/kunduz-bombenangriff-auf-msf-klinik-und-allgemeine-lage-taz-5-10-15/ .

Zur den vorhergehenden Taliban-Offensiven auf Kunduz:

Ende April 2015: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1353

August 2014: „Umzingelung von Kunduz: Warum die Taliban wieder so erfolgreich sind“, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1311

Zum Abzug aus Kunduz: Meine Kunduz-Berichte ab 2004 bis 2013 (Teil I 2004-2006),

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1239

Interview in der Märkischen Oderzeitung vom 12. Oktober 2015:

„Die Taliban sind stärker als jemals zuvor“

 (Kürzungen in Klammer)

Andre Bochow: In diesen Tagen erreichen uns aus Afghanistan immer neue,  besorgniserregende Nachrichten. Die Stadt Kundus wurde zeitweise  von den Taliban eingenommen. Hat sie das überrascht?

Nachtwei: Leider nicht. Schon im August vergangenen Jahres hat es heftige Angriffe auf Kundus gegeben. Und auch während der Frühjahrsoffensive der Taliban war das Gebiet ein Schwerpunkt der Angriffe. Hierzulande ist das kaum wahrgenommen worden.

Hätte es denn etwas geändert, wenn das politische Interesse an diesen Ereignissen größer gewesen wäre?

Es wäre möglich und richtig gewesen, sich noch einmal genau zu überlegen, welche Beratungs-und Aufbauhilfe für die afghanischen Streitkräfte wirklich nötig ist. Bislang konnte mir noch keiner der hierzulande Verantwortlichen sagen, ob die Beratungsmission in Afghanistan überhaupt Wirkung zeigt. Das wird besonders deutlich bei der Ausbildung von Polizisten. Darüber wird selten geredet. Aber die Wahrheit ist: Deutschland hatte bei der Polizeihilfe in den ersten Jahren die Führungsrolle übernommen und dabei  gründlich versagt. Es gab schlicht zu wenig deutsche Ausbilder. Als ich im Februar im Norden Afghanistans war, gab es dort 12 deutsche Berater. Das ist dann eher eine symbolische Hilfe.

Die Bundesregierung ging bislang davon aus, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Lage grundsätzlich im Griff haben.

Das ist absurd. Hier wird die  schlechte Tradition der Selbstzufriedenheit und des Schönredens fortgesetzt. Alarmzeichen sind notorisch übersehen worden. Zum Beispiel der Bericht der UN-Mission in Afghanistan über zivile Opfer. Die Zahl ist so hoch wie nie zuvor. Das bedeutet: Nach dem Abzug der ISAF-Soldaten ist Afghanistan noch unsicherer geworden als es schon war.

Ist der ISAF Abzug grundsätzlich richtig, aber so wie er gestaltet wird, falsch?

Genauso ist es. Der auf Ende 2014 terminierte Abzug  erfolgte vor allem aus innenpolitischen Erwägungen. Die Realitäten in Afghanistan wurden dabei ausgeblendet.

Wie stark sind die Taliban? Und muss man mit ihnen verhandeln?

Es sah am Anfang der Amtszeit des neuen Präsidenten Aschraf Ghani recht hoffnungsvoll aus, was Verhandlungen mit den Taliban betrifft. Aber nach ihren militärischen Erfolgen sind die Taliban stärker als je zuvor. Deren Interesse an Verhandlungen ist entsprechend geschrumpft.

Droht die Machtübernahme durch die Taliban?

Das glaube ich nicht. So stark sind sie dann doch nicht. Das zeigt ja auch die Rückeroberung von Kundus durch die afghanische Armee. Die allerdings nicht ohne ausländische Unterstützung auskam. Und vor allem viele  junge Afghanen wollen mit den Taliban nichts zu tun haben. Aber es ist nicht auszuschließen, dass sich ein neuer Bürgerkrieg entwickelt, in dem dann wieder die berüchtigten Warlords mitmischen.

(Welche Rolle spielt der IS, der sogenannte Islamische Staat,  in Afghanistan?

Bis vor kurzem war der IS eher eine virtuelle Angelegenheit. Da haben sich einige einfach die Marke IS zunutze gemacht. Mittlerweile agieren einige IS-Gruppen, die von den Taliban bekämpft werden. Noch spielt der IS keine große Rolle. Aber wenn wir dieGeschwindigkeitin Rechnung stellen, mit der  IS-Gruppen anderswo gewachsen sind,  besteht durchaus Anlass zur Besorgnis.)

Muss die aktuelle deutsche Afghanistanpolitik grundlegend über dacht werden? Müssen wir wieder Soldaten an den Hindukusch schicken?

Ja, die deutsche Afghanistanpolitik muss sich endlich vom Wunschdenken frei machen und der Realität ins Auge schauen. Aber deutsche Kampftruppen zu schicken wäre falsch. Wir müssen die Beratungsmission wirksamer machen, also wohl ausweiten und qualitativ deutlich verbessern.

Die Bundesregierung spricht in ihrem Afghanistanbericht von Licht und Schatten nach all den Jahren des internationalen Einsatzes. Sehen Sie mehr Licht oder mehr Schatten?

Die Düsternis nimmt eindeutig zu. Aber in der allgemeinen Wahrnehmung werden die Erfolge, die es auch gibt, fast vollständig ausgeblendet. Ich habe in Nordafghanistan Entwicklungsprojekte gesehen, die jedes für sich deutlich mehr sind als der  berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Zum Beispiel gibt es bei Masar-e Sharif ein großes Berufsbildungszentrum, das von der Bundesrepublik aufgebaut wurde. In Masar ist auch die Sicherheitslage verhältnismäßig gut. Die Alphabetisierung der Polizei macht landesweit große Fortschritte. Mit deutscher Hilfe wurden dafür 2000 afghanische Trainer ausgebildet.

Trotzdem  scheint sich unter größeren Teilen der Bevölkerung Hoffnungslosigkeit breitzumachen.

Das stimmt. Und deswegen erleben wir jetzt auch eine wirkliche Flüchtlingswelle aus Afghanistan, die nicht zuletzt Deutschland erreichen wird. Wir werden so oder so weiterhin mit Afghanistan zu tun haben.

(Das Center of Strategic an International Studies in den USA geht davon aus, dass die Gesamtkosten des Afghanistankrieges 650 Milliarden US-Dollar betragen. Eine gewaltige Summe. Davon wurden 25 Milliarden Dollar für zivile Projekte ausgegeben. Ist das nicht völlig unverhältnismäßig?

Das kann man wohl sagen. Hinter diesem gigantischen Missverhältnis steht die Tatsache, dass vor allem die USA den Krieg in Afghanistan in erster, zweiter und dritter Linie als Kampf gegen den Terror betrachtet haben. Viel zu spät ist den Amerikanern aufgegangen, wie wichtig energische Aufbauunterstützung ist. Auch die Bundesregierungen haben das verschlafen.  Die forcierte deutsche Polizei-und Armeeaufbauhilfe begann erst  2008. Sechs Jahre nachdem die Bundeswehr ihren Einsatz begonnen hatte.

Afghanistan liegt in Sachen Korruption auf Platz 174 von 176. In der Regierung sitzen Warlords. Es gibt keine funktionierende Wirtschaft und die Frauen werden nach wie vor unterdrückt. Gemessen an dem gewaltigen finanziellen und menschlichen Einsatz und gemessen an den vielen Opfern – sind da die erzielten Ergebnisse nicht doch eher niederschmetternd?

Es wäre so, wenn es nicht eben doch viele hoffnungsvolle Ansätze gäbe. Aber natürlich: Überwiegend ist das, was wir heute nach 14 Jahren in Afghanistan vorfinden, schon sehr deprimierend. Und das erfahre ich auch sehr direkt von unseren gefechtserfahrenen Soldaten. Die sind auch wütend. Von denen ist das Äußerste verlangt worden. Und sie haben es gegeben. Viele haben Kameraden verloren. Auf der anderen Seite steht ein kollektives politisches Führungsversagen. In Deutschland und im Bündnis. )

Hat die Bundesregierung auch versagt, als sich viele derjenigen, die den Deutschen in Afghanistan geholfen haben, mit der Bitte um Asyl an sie wandten….

….und die ja wirklich um ihr Leben fürchten müssen. Ja, da wurde zunächst bürokratisch und engherzig vorgegangen. Das war sehr beschämend. Mittlerweile gibt es da Besserung. Und von Seiten der Bundeswehr wurde eine Initiative gestartet, die die früheren Ortskräfte hier in der Bundesrepublik unterstützt.

Alles in allem: War der Afghanistaneinsatz, zumindest der militärische, ein Fehler?

Nein. Der ISAF-Einsatz, der ja ein von der UNO legitimierter Einsatz war, einem kriegszerrütteten Land auf die Beine helfen und dies militärisch absichern sollte, war richtig. Aber die Ziele der einzelnen Beteiligten passten nicht zusammen. Es herrschte über viele Jahre strategischer Dissens. Krieg gegen den Terror, ohne Rücksicht auf  die Zivilbevölkerung einerseits und andererseits Unterstützung des Aufbaus. Die zweite Ursünde war die Blauäugigkeit, mit der man sich um Afghanistan gekümmert hat. Es hätte sich sehr gelohnt, rechtzeitig auf Experten zu hören, die wissen, wie kompliziert dieses Land Afghanistan ist. Stattdessen hat man sich von den wunderschönen Einsatzmandaten   besoffen machen lassen.

Vielen Dank für das Gespräch

Eine kürzere Fassung des Interviews erschien am 7. Oktober 2015 in der

Südwestpresse/Ulm: „Die Düsternis nimmt eindeutig zu“

(http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Gruenen-Politiker-Winfried-Nachtwei-findet-wenig-Ermutigendes-in-Afghanistan;art4306,3466555 )

 

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

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Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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