Vor allem in Riga bin ich mehrfach den engagierten und wachen Jugendlichen begegnet, die mit jungen Leuten anderer Länder in Workcamps des Volksbundes arbeiten, erkunden, ihren Spaß haben. Dass sie zusammen mit den Besatzungen der weltberühmten ISS den mit 100.000 Euro dotierten Westfälischen Friedenspreis erhielten, freut mich besonders. Herzlichen Glückwunsch!
Westfälischer Friedenspreis für die Jugend-Friedensarbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die Internationale Raumstation ISS: Frieden von unten und von oben
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (10/2014)
Am 24. Oktober 1648 endete der Dreißigjährige Krieg mit dem in Münster und Osnabrück verhandelten Westfälischen Frieden. Am Ort des Friedensschlusses, dem Historischen Rathaus von Münster, verlieh die Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe (WWL) zum neunten Mal den Westfälischen Friedenspreis, in diesem Jahr an die Besatzung der International Space Station (ISS) und an die Jugendarbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
(Berichte und Fotos unter www.wirtschaftliche-gesellschaft.de/live/ ; www.facebook.com/winfried.nachtwei ; www.wdr.de/studio/muenster/themadestages/friedenspreis174.html ; www.volksbund.de/home.html; www.wn.de/Fotos/lokales/Muensterland/Westfaelischer-Friedenspreis-verliehen/ )
Nach der Festansprache des Vorsitzenden der WWL, Dr. Rainhard Zinkann, werden die Preisträger durch ihre Laudatoren, filmische Szenen und im Gespräch mit der Moderatorin Sabine Scholt vorgestellt.
Die Astronauten Michael Lopez-Alegria (USA), Thomas Reiter (Deutschland) und Pavel Vinogradov (Russland) empfangen den Preis stellvertretend für die ISS-Besatzungen, die seit November 2000 in 400 km Höhe die Erde umkreisen, und die mehr als 100.000 Frauen und Männer, die dieses „größte Technologieprojekt der Menschheit“ ermöglichen. Der Laudator Tom Buhrow, WDR-Intendant, und die Astronauten schildern diesen „Außenposten der Menschheit“ im All als beispielhaftes Gemeinschaftswerk von Menschen aus ehemals verfeindeten Mächten und unterschiedlichen Kulturen. Die Beteiligten erleben ständig, wie sehr sie alle aufeinander angewiesen sind, wie sehr sie sich aufeinander verlassen können – und wie sehr politische und persönliche Konflikte unter dieser Herausforderung zurücktreten. Wer den Globus binnen 90 Minuten umfliegt und den blauen Planeten als faszinierend und zerbrechlich erlebt, dessen Weltsicht ändert sich: In den Blick kommt das Wesentliche, das Gemeinsame, das Grenzen Überschreitende und Verbindende. Aber von oben sind auch Kriege zu sehen, Raketen, Gaza, Afghanistan.
Dorothee Kraske, Julia Nitsche und David Hellwig empfangen den Preis stellvertretend für viele tausend Jugendliche. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hält die Laudatio. (Seine Rede www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/141026_westfälischer_Friedenspreis.html ) Sie sind Sprecher des Jugendarbeitskreises (JAK) NRW und des Bundesjugend-JAK des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und stehen für die Jugendlichen, die jedes Jahr in Workcamps Kriegsgräber pflegen, sich mit den Schicksalen ihrer Altersgenossen vor drei Generationen auseinandersetzen, dabei Jugendliche anderer Länder kennen lernen und oft zu Freunden werden: „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden.“ Der Volksbund ist der einzige Kriegsgräberdienst weltweit, der Jugendarbeit betreibt.
Vor allem in Riga bin ich mehrfach Jugendlichen von Workcamps begegnet: Im Jahr 2010 anlässlich der Gedenkveranstaltung in Riga zum zehnjährigen Bestehen des Deutschen Riga-Komitees (www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=107&aid=991 ). 2012 begleitete ich deutsche, lettische und österreichische Jugendliche zu den Orten des NS-Terrors und interviewte sie bei ihrer Arbeit auf der Gedenkstätte Bikernieki. (vgl. „Der Zukunft ein Gedächtnis – Erinnerung an das Ghetto von Riga“, 18 minütiger Film auf der DVD „Wir haben es doch erlebt“, Film von Jürgen Hobrecht über das Ghetto von Riga)
Am Vortag der Preisverleihung war ich Gastreferent bei der Schülerakademie der Stadt Münster („Was heißt hier Frieden?“) in einer der vier Jugendbegegnungsstätten des Volksbundes in Ysselsteyn bei Venlo. Die Kreuze für die über 31.500 hier begrabenen deutschen Soldaten ziehen sich in flachen Wellen über 28 Hektar, ein Meer der Ruhe über einer Flut an Leiden, Krepieren, verlorenen jungen Leben und lebenslangen Schmerzen der Hinterbliebenen. Die SchülerInnen aus Münster haben zu einzelnen Kriegstoten gearbeitet und stellen an den jeweiligen Kreuzen einige Lebensläufe bis in den Tod vor: Franz Diersch, Jahrgang 1911, 1937 geheiratet, vier Kinder (wie mein Vater), 1944 gefallen; der 17-jährige Flakhelfer Harry Hermann; die 26-jährige Anneliese Lehmann, umgekommen 1945 bei einem Luftangriff. Ysselsteyn ist der einzige deutsche Soldatenfriedhof in den Niederlanden.
Der Überfall Nazi-Deutschlands auf die neutralen Niederlande hatte am 10. Mai 1940 begonnen. Er gipfelte vier Tage später in der Bombardierung Rotterdams. Insgesamt verloren im Krieg über 200.000 niederländische Bürger ihr Leben, zum größten Teil Zivilisten.
Schon im Oktober 1946 (!) begann der „Niederländische Gräberdienst“ mit der Umbettung der im ganzen Land gefallenen deutschen Soldaten nach Ysselsteyn. Jetzt führt uns ein niederländischer Mitarbeiter der 1982 gegründeten Jugendbegegnungsstätte durch das Gräbermeer.
Im Münsteraner Rathaus zitiert Außenminister Steinmeier Jean-Claude Juncker, den jetzigen Präsidenten der EU-Kommission: „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen.“ (So Juncker im Juni 2005 auf einem Soldatenfriedhof in Luxemburg. Weiter im Deutschen Bundestag am Volkstrauertag 2008: „Nirgendwo ist besser, nirgendwo eindringlicher, nirgendwo bewegender zu spüren, was das europäische Gegeneinander Schlimmstes bewirken konnte. Das Nicht-Zusammenleben-Wollen und das Nicht-Zusammenleben-Können haben im 20. Jahrhundert 80 Millionen Menschen das Leben gekostet.“)
An den Workcamps des Volksbundes nehmen jährlich 2-3.000 junge Leute teil. Insgesamt beteiligen sich bis zu 20.000 junge Leute pro Jahr an Aktivitäten des Volksbundes, viele davon in den vier Jugendbildungsstätten in Usedom, in den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Seit mehr als zwanzig Jahren ist Hans-Dieter Heine in der Bundesgeschäftsstelle in Kassel Referatsleiter für Jugend- und Schularbeit. Er war und ist eine Schlüsselfigur für die Erfolgsgeschichte der Friedens-Jugendarbeit des Volksbundes. Der Dank und die Anerkennung des Westfälischen Friedenspreises gilt insbesondere auch ihm!
(www.volksbund.de/jugend-bildung/js-jbs/js-jbysselsteyn.html ; www.jbs-ysselsteyn.de/home.html )
„Erinnern – irgendwas gelernt?“ war mein Thema bei der Schülerakademie in Ysselsteyn.
Es war am 24. Oktober, dem Jahrestag des Westfälischen Friedens, der auch der Tag der Vereinten Nationen ist. Am 24. Oktober 1945 trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Dass sie die erste, elementare Lehre aus Weltkrieg und Völkermorden war und ist, dass sie die globale Entsprechung des deutschen Schwures „Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz“ ist, scheint heute wenig bewusst zu sein. Auch bei dem würdigen Festakt zur Verleihung des Westfälischen Friedenspreises 2014 kamen die Vereinten Nationen nur indirekt zur Sprache – über Hinweise auf den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, den Friedenspreisträger von 2008.
Zwei Tage danach fällt ein Schatten auf die Preisverleihung: Über die umfassende örtliche Medienresonanz hinaus fand sie in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF keinen Widerhall, auch nicht in den überregionalen Tageszeitungen (bis auf Kurzmeldungen in FAZ und taz). Friedensleistungen und –fortschritte, better news, scheinen nicht der Berichterstattung wert zu sein. So war es in letzter Zeit auch bei anderen Großveranstaltungen, bei denen spannende Friedenspraktiker in Berlin gewürdigt wurden - 10 Jahre Zentrum Internationale Friedenseinsätze, Tage der Peacekeeper 2013 und 2014, 20 Jahre deutsche Beteiligung an Internationalen Polizeimissionen, 15 Jahre Ziviler Friedensdienst. Wo zzt. die Flut an Kriegs- und Katastrophennachrichten viele Menschen überfordert und Ohnmachtsgefühle verbreitet, wäre die Wahrnehmung von Mutmachern aus Fleisch und Blut eigentlich besonders wichtig.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: