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Völkermord in Ruanda 1994 - Auch wir sahen weg!

Veröffentlicht von: Nachtwei am 9. April 2014 20:38:11 +01:00 (45271 Aufrufe)

In diesen Apriltagen wird weltweit des Völkermords in Ruanda vor zwanzig Jahren gedacht - sehr bewegend auch im Bundestag. Warum ließen das damals so viele - sehenden wie wegsehenden Auges - geschehen? Wurde irgendwas gelernt? Hier zur Bundestagsdebatte, zu wichtigen Artikeln und Veranstaltungen und meiner Erinnerung, dass Ruanda damals für uns, für mich kein Thema war - obwohl wir doch meinten, altiv für Frieden und Menschenrechte zu sein.     

Völkermord in Ruanda 1994 – Auch wir sahen weg!

Winfried Nachtwei (4/2014)

In diesen Apriltagen wird weltweit des Völkermords in Ruanda vor zwanzig Jahren gedacht. Es war ein geplantes, angekündigtes, systematisches Abschlachtens von mehr als 800.000 Menschen – unter den Augen der Staatengemeinschaft, die wegsah und die trotz Handlungsmöglichkeiten Nothilfe verweigerte.

Am 4. April debattierte der Bundestag

äußerst ernsthaft, aufwühlend und selbstkritisch über dieses Verbrechen gegen die Menschheit und das internationale Staatsversagen dem gegenüber. (Die Debatte unter http://www.dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18027.pdf )

Außenminister Frank-Walter Steinmeier: „(…) Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute zu ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals wieder! Ja, niemals wieder. Doch viel schwieriger ist die Frage, wie wir dieser Verantwortung des „Niemals wieder!“ eigentlich gerecht werden. Seien wir ehrlich: Wir haben schon einmal „Nie wieder!“ gerufen. Das war 1948, nach dem Holocaust, als die Vereinten Nationen die Völkermordkonvention beschlossen haben. Doch wir haben dieses Versprechen nicht halten können. Die internationale Gemeinschaft hat versagt, als sie in Ruanda vor 20 Jahren inmitten der Gewalt ihre Blauhelmsoldaten abzog.

Zur Wahrheit gehört auch, dass heute, in der Gegenwart, die Dämonen des Völkermords keineswegs gebannt sind, auch wenn die internationale Gemeinschaft unter der Überschrift „Responsibility to Protect“ auf Ruanda reagiert hat, auch wenn sie Prävention, Einsatzfähigkeit und internationale Strafgerichtsbarkeit verbessert hat. Wir sprechen nicht überall von Völkermord, aber wir stehen im Kongo, in Zentralafrika und in Syrien vor endlosem Blutvergießen. (…)

Die grüne Bundestagsabgeordnete Kordula Schulz-Asche war damals Entwicklungshelferin in Ruanda , dem Schwerpunktland deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Sie erlebte den Beginn des großen Mordens, entkam nach Burundi und kehrte im September 1994 wieder zurück. Sie erfuhr von vielen Kolleginnen und Kollegen, die unter den Opfern waren, aber auch von jenen Kolleginnen und Kollegen, von denen es hieß, dass sie gemordet hätten. Auf die die viel gestellte Frage „Warum habt ihr nicht geholfen?“ habe sie nicht antworten können. Heute sei eine entscheidende Frage, „ob wir wirklich bereits alle Erfahrungen aufgearbeitet und wirklich alle Konsequenzen gezogen haben. Die Antwort ist offensichtlich nein. Es ist immer leicht, auf andere zu zeigen.“ Die USA, Belgien als ehemalige Kolonialmacht, Frankreich, die Vereinten Nationen. „Und Deutschland? (…) Warum wurden geheimdienstliche Erkenntnisse Deutschlands nicht an die UN-Ruanda-Mission  weitergeleitet? Warum wurde die Bitte der UN im Mai 1994 auf Sanitätssoldaten abgeschlagen? (…) Warum hat der Bundestag 1994 kein einziges Mal über Ruanda diskutiert?“  (ihre Rede unter www.schulz-asche.de )

Nach Abschluss der Debatte machte Bundestagspräsident Lammers die persönliche Anmerkung:

„Nach dieser denkwürdigen Debatte bleibt das bittere Fazit, dass uns die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung 20 Jahre nach den Ereignissen überzeugender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Verpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, als die Ereignisse stattgefunden haben.“ (Beifall im ganzen Hause)

Mit sehr großer Mehrheit beschloss der Bundestag den gemeinsamen Antrag von Union, SPD und Grünen „Erinnerung und Gedenken an die Opfer des Völkermordes in Ruanda 1994“ (Drucksache 18/973 vom 1.4.2014). Er fordert die Bundesregierung u.a. auf,

-         „alles zu tun, um durch Maßnahmen er Konfliktprävention und –regelung die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen frühzeitig zu bannen;

-         Sich nach Kräften bei der Lösung gegenwärtiger Krisen gemeinsam mit den Partnern in der Europäischen Union und den Vereinten Nationen vor allem mit diplomatischen Mitteln zu engagieren;

-         Sich auf diplomatischem Weg für eine Implementierung und Operationalisierung der Schutzverantwortung im Rahmen des Völkerrechts stark zu machen.“

„Deutschland und der Völkermord in Ruanda“

Studie (31 S.)von Sarah Brockmeier, am 7. April 2014 von der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlicht unter http://www.boell.de/de/2014/04/07/deutschland-und-der-voelkermord-ruanda :

Die stellv. Vorsitzende von GENOCIDE ALERT und Mitarbeiterin des Global Public Policy Institute „untersuchte neben der bestehenden Literatur zu Ruanda zahlreiche Primärquellen wie Bundestagsprotokolle, Pressemitteilungen und Reden und führte 15 Interviews mit Deutschen, die vor oder nach dem Völkermord 1994 in Ruanda waren oder sich intensiv mit dem Völkermord auseinandergesetzt haben.

Das Ausmaß der deutschen Zurückhaltung vor und während des Völkermords ist ernüchternd. Deutschland war zum Zeitpunkt des Genozids schon seit Jahrzehnten entwicklungspolitisch in Ruanda engagiert und enger mit dem Land verbunden als mit den meisten anderen afrikanischen Ländern. Als deutsche Stellen in Ruanda während der frühen 1990er Jahre immer mehr Warnzeichen für einen massiven Gewaltausbruch wahrnahmen, wurden diese von wichtigen Schaltstellen nicht an Bonn weitergegeben oder stießen dort auf keine Reaktion. Gleichzeitig erhöhte die Bundesregierung die Entwicklungshilfe für Ruanda. Nach Beginn des Völkermords und der Evakuierung der eigenen Staatsbürger lehnte Deutschland einen Beitrag zur Unterstützung der Vereinten Nationen ab, auch als diese explizit um deutsche Hilfe baten. Auch nach konkreten Anfragen des Landes Rheinland-Pfalz nahm Deutschland keine Flüchtlinge aus Ruanda auf. Bis heute hat sich die Bundesregierung nicht intensiv mit der Rolle Deutschlands vor und während des Völkermords in Ruanda auseinandergesetzt.

Die Autorin schlussfolgert, dass Deutschland aus einer solchen Auseinandersetzung viel hätte lernen können: “über die Bedeutung von ressortübergreifender Zusammenführung von Warnzeichen; über die Dringlichkeit einer korrekten Konfliktanalyse; über den Wert einer akkuraten Medienberichterstattung in komplexen Krisensituationen; über die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Aufmerksamkeit; über die Wichtigkeit einer schnellen und entschlossenen Unterstützung der Vereinten Nationen; nicht zuletzt über die Bedeutung eigener politischer Initiativen.”

Genozid im Giftschrank – Aktivere deutsche Politik in Afrika? Vor zwanzig Jahren ignorierten deutsche Behörden systematisch den sich anbahnenden Völkermord“, wichtiger Debattenbeitrag von Arndt Peltner in der TAZ vom 7. April. (www.taz.de/Debatte-Voelkermord-in-Ruanda/!136402/

In der ZEIT vom 27. März erschien der lesenswerte Gastbeitrag „Ruanda ist heute“ von Sarah Brockmeier. (www.zeit.de/2014/14/ruanda-voelkermord-jahrestag ) Sie fragt, warum es immer wieder so wenig zivilgesellschaftliches Engagement gegen Menschenrechtsverbrechen gebe, warum gegen sehr vieles, aber nicht gegen Völkermord demonstriert werde.

Zu den Aktivitäten von GENOCIDE ALERT zum 20. Gedenken an den Völkermord in Ruanda Näheres unter http://www.genocide-alert.de/genozid-in-ruanda-zwanzig-jahre-danach/

Persönlicher Rückblick und Kommentar

1994 war der Völkermord in Ruanda für mich, in meinen grünen und friedensbewegten Zusammenhängen kein Thema! Medienberichte gingen an mir, an uns politisch vorbei. In meinen Notizen, in meinen Schriften taucht Ruanda 1994 nicht auf. Als Lehrer für Geschichte und Sozialwissenschaften war ich erprobt in kurzfristigen Aktuellen Stunden – zu Ruanda setzte ich keine an. Seit November 1992 war ich im Vorstand der Münsteraner Grünen. Im März 1994 endete nach vier Jahren ein NS-Kriegsverbrecherprozess vor dem Münsteraner Landgericht, den meine Frau und ich über 205 Sitzungen beobachtet und begleitet hatten. Mit meiner damit einhergehenden Erinnerungsarbeit zum Rigaer Ghetto und den Deportationen 1941/42 dorthin wollte ich gegen das Vergessen und Wegsehen, für das „Nie wieder!“ wirken. Der seit zwei Jahren tobende Krieg in Bosnien wühlte uns „Übriggebliebenen“ der früheren Massen-Friedensbewegung auf. In meiner Bewerbung für die Landesliste NRW zur Bundestagswahl 1994 schrieb ich:

„Seit 30 Monaten wütet wieder Krieg in Europa! Viele Gruppen leisten unspektakulär große Hilfe. Doch zugleich überwiegt das Wegsehen gegenüber diesem realen Völkermord. Viel zu spärlich ist die Unterstützung von Antikriegsgruppen in Ex-Jugoslawien, zu schwach sind die Forderungen an die Bundesregierung (z.B. „offene Grenzen für KDV´er aus Kriegsgebieten“), wenig spürbar ist ein politisches Handeln gegen den Krieg in Ex-Jugoslawien. (…) Mit Somalia ist die Bundesregierung erheblich vorangekommen in ihrem Bemühen, die Bundeswehr unter humanitärem Deckmantel zu einer Interventionstruppe für die Festung Europa umzubauen. Der Militarisierung der dt. Außenpolitik können wir am besten entgegenwirken, wenn wir Konzepte gewaltfreier Konfliktbearbeitung weiterentwickeln und glaubwürdig vermitteln. Hier ist viel nachzuholen.“

Erst im August 1994 taucht in meinen Schriften Ruanda erstmalig auf – im Kontext von Überlegungen zur Friedensarbeit vor Ort:

„(…) Friedensarbeit ist heute viel schwieriger als vor 12 Jahren: Sie muss auskommen ohne klare Weltbilder, kann nicht auf breite Betroffenheit bzw. Interesse in der Bevölkerung aufbauen, oder sie ist vom schnellen Wechsel der „Betroffenheiten“ (Bosnien, Kaukasus, Somalia, Ruanda … Burundi) schlichtweg überfordert. Traditionelle Aktionsformen (Freizeit-FI, Demo, Info-Stand) ziehen kaum noch. (…)“

Von unserem friedensbewegten, menschenrechtlichen, antifaschistischen, internationalistischen Anspruch her und als Bürger eines UNO-Mitgliedsstaates hätte uns der Völkermord in Ruanda ganz und gar nicht egal sein dürfen. Er kam nicht an mich heran, ich ließ ihn wohl auch nicht an mich heran,

-         weil dringende nächste Aufgaben und Streitfragen (v.a. Bosnien-Krieg) Aufmerksamkeit und Arbeitskraft absorbierten;

-         weil wir für den Fall der akuten Nothilfe und Großgefahrenabwehr keine Antwort hatten bzw. militärische Mittel für mich/uns „undenkbar“, weil unter Generalverdacht waren – auch aus innerparteilichen  Rücksichtnahmen;

-         weil ich nicht mit Zeugen und Botschaftern des Völkermords konfrontiert und von ihnen gepackt wurde.

Und heute? Was Bundestagspräsident Lammers als bitteres Fazit feststellt, habe ich auch seit Jahren beobachtet: In der deutschen Politik und Gesellschaft sind wir viel besser in der (selbstkritischen) Erinnerungskultur als in Anstrengungen zur Verhütung von Massenverbrechen heute und in Zukunft.

Gut und sehr völlig war, wie sehr die RednerInnen der Ruanda-Debatte den Vorrang der Prävention von Völkermord und anderen schwersten Massenverbrechen betonten. Keine Spur von der Interventionsfixierung sonstiger Diskussionen um die Schutzverantwortung.

Aber wenig bekannt zu sein scheint, dass in Deutschland die Fähigkeit zur Prävention von schwersten Massenverbrechen noch weit hinter dem Nötigen und Möglichen hinterherhinkt. (Erhebliche Fortschritte wurden nur gemacht im Hinblick auf den Schutz eigener Staatsbürger. Dafür gibt es das Krisenreaktionszentrum im AA – bis zum Kommando Spezialkräfte im Extremfall. Dessen Gründung wurde mit dem Evakuierungsfall Ruanda 1994 begründet.)

Im Unterschied zu etlichen anderen Ländern ist die Verhütung und Verhinderung von schwersten Massenverbrechen bisher kein ausdrückliches Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Die verschiedenen Krisenfrüherkennungssensoren der Ressorts der Bundesregierung haben keineswegs durchgängig einen Fokus auf Frühwarnung vor Massenverbrechen. Schließlich – und das ist ausschlaggebend – gibt es keinen Ort, wo die Krisenfrüherkennungserkenntnisse der Ressort und von oft basisnäheren zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammenlaufen würden und in direkter Anbindung an die politische Leitung bewertet werden könnten.

Die strukturellen Filter, die in der Vergangenheit eine wirksame Krisenfrüherkennung und Gewaltprävention behinderten, bestehen auch heute noch.

(In einer Arbeitsgruppe im Beirat Zivile Krisenprävention beim Auswärtige Amt wollen wir hierzu demnächst Empfehlungen vorlegen.)

Wenig bewusst ist schließlich auch, dass das äußerste Mittel Militär bisher kaum bis gar nicht auf Operationen zum Schutz von Zivilbevölkerung vor Massengewalt vorbereitet ist, dass insbesondere die Vereinten Nationen dafür unzureichend ausgestattet sind.

Der Bundestag die Bundesregierung sehr zu Recht auf, sich „für die Implementierung und Operationalisierung der Schutzverantwortung stark zu machen.“ Jetzt sind Taten gefragt!


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch