Nach 10 Jahren PRT Kunduz übergab Minister de Maizière am 6. Oktober 2013 die Einsatzliegenschaft an die afghanische Armee und Polizei. Erstmalig traten die Minister der Verteidigung und des Auswärtigen in Afghanistan gemeinsam auf. Ein Fazit "wir haben viel erreicht, aber es bleibt noch eine Menge zu tun" ist leider durch die Realitäten so nicht gedeckt. Es steht voll in der Tradition von Selbstzufriedenheit und Selbsttäuschung, die nicht nur deutsche Afghanistanpolitik über viele Jahre prägte. Umso mehr verdienen die sehr vielen Diplomaten, Soldaten, Entwicklungshelfer und Polizisten hohen Respekt, Aufmerksamkeit und Dank, die ihr Bestes gaben für mehr Sicherheit und Frieden in einem kriegsgeschundenen Land. Wir Politiker haben keinerlei Grund zu Selbstzufriedenheit, aber allen Grund zur Selbstüberprüfung. Dazu als "Prüfmaterial" alle meine Kunduzberichte ab 2004 ...
Kunduz-Berichte 2004-2013
von Winfried Nachtwei
Delegationsbesuch der
„ISAF-Insel" PRT Kunduz am 31. Januar 2004
Am 31. Januar 2004 besuchte Verteidigungsminister Struck erstmalig das deutsche Einsatzkontingent in Kunduz/Nordafghanistan. Zur Delegation gehörten vom Verteidigungsausschuss der Vorsitzende Reinhold Robbe und die Obleute Rainer Arnold (SPD), Helga Daub (FDP), Thomas Kossendey (CDU/CSU), Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen), sowie der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst Bernhard Gertz. Die Delegation wurde begleitet von Siba Shakib, der Autorin von „Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen", und 24 Medienvertretern.
Am 15. Oktober 2003 beschloss das Bundeskabinett die Entsendung eines ressortübergreifenden Wiederaufbauteams nach Kunduz sowie die Eröffnung einer Außenstelle der Botschaft in Herat. Am 24. Oktober billigte der Bundestag die damit verbundene Entsendung von bis zu 450 Soldaten nach Kunduz. Dieser Entscheidung ging eine längere und kontroverse Diskussion in Parlament und Öffentlichkeit voraus, die fast nur um den militärischen Anteil kreiste.
Die Befürworter sprachen für eine Ausweitung der internationalen Stabilisierungsbemühungen in die Provinzen und für ein deutsches regionales Wiederaufbauteam (Provincial Reconstruction Team PRT) in Kunduz als Beitrag dazu aus. Für Kunduz sprach, dass es dort im Sinne von Stabilisierung und „nation building" viel zu tun gibt, sowie der mittlere Schwierigkeitsgrad und die Nähe zum dt. Stützpunkt Termez/Usbekistan. (In den high-risk-Regionen müssen PRT`s eng mit Kampftruppen zusammen agieren.)
Kritiker des Kunduz-Einsatzes bezweifelten angesichts der relativen Ruhe den Sinn des Einsatzes, befürchteten eine Beeinträchtigung der Neutralität von humanitären Organisationen vor Ort sowie eine stillschweigende Kumpanei der Bundeswehr mit den dortigen Drogenbossen und Warlords.
Der Reise voraus gingen im Verteidigungsausschuss ausführliche Stellungnahmen des AA, des BMZ und des BMI zum zivilen Aufbau in Afghanistan.
Der Anflug erfolgt am 30. Januar über die usbekische Hauptstadt Taschkent. Wegen schlechter Witterungsbedingungen verzögert sich der Transall-Flug am 31. Januar nach Kunduz um fast vier Stunden. Der deutsche Militärattache, OTL Bergander, berichtet äußerst lebendig und humorvoll von Land und Leuten. Während des Fluges ist zunächst noch ungewiss, ob in Kunduz ausreichend Sichtflugbedingungen herrschen. Schließlich landet die Maschine nach mehreren steilen Kurven auf dem Feldflughafen Kunduz.
Empfang der Delegation durch den deutschen Botschafter Eberle, die Generale Riechmann (Befehlshaber Einsatzführungskommando) und Gliemeroth (ISAF-Kommandeur) sowie die örtlichen Machthaber General Muhammad Doaud Khan, Gouverneur Latif Ibrahimi, den Polizeichef NO-Provinzen, Ghollam, und andere.
Nach Anlegen der Schutzwesten setzt sich der Konvoi aus zivilen Geländefahrzeugen in Bewegung. Vor allem in der Umgebung des Flugplatzes erinnern zerstörte Gebäude und Panzer an die Kriegszeit. Alle hundert Meter säumen Soldaten des VI. Korps von General Daoud die Strecke, teils mit Gewehr, teils nur in Grußstellung.
Der Blick über das Kunduz-Tal zeigt viel mehr Grün als das grau-braune Kabul. Baumreihen und Felder lassen erahnen, dass hier mal die „Kornkammer" Afghanistans war.
Zwischendurch immer wieder die landestypischen fortähnlichen Gehöfte, die von fensterlosen Außenmauern umgeben sind.
Für die zehn km nach Kunduz braucht der Konvoi eine halbe Stunde. Die Schlaglochstrecke der „Nationalstraße 2" gilt als vergleichsweise „mittelprächtig". Sofort stellt sich die Frage, wie über solche „Straßen" eine Evakuierung unter unfriedlichen Bedingungen geschafft werden soll. Ein begleitender Offizier: Evakuieren müsse man schon, wenn die Stimmung feindlich werde. Umfassende Angriffe könne man hier nicht durchstehen. Unterwegs fädelt sich ein Pkw in den Konvoi. Er wird schnell überholt und rausgedrängt.
Am „Stadttor" von Kunduz ein kleiner provisorischer Militärposten. Linker Hand in einem Hof eine Menge von Panzern. Sie seien seit Oktober nicht bewegt worden. Auch gebe es keine Ausbildung an den Panzern. Kurz danach das „Deutsche Haus", Sitz des BMZ-Koordinators mit Büros von DED, GTZ, KfW.
Einstöckige Bauten aus Lehmziegeln bestimmen das Bild der Provinzhauptstadt, der man ihre schätzungsweise 120.-140.000 Einwohner nicht ansieht. Überall Antennen. Nur manche offiziellen Gebäude haben ein zweites Stockwerk. Vom dreitägigen Regen zeugt noch die großflächige Schlammsuppe auf den Straßen. Die Pferde vor den kleinen Fuhrwerken sind auffällig geschmückt. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung leidet an Tuberkulose.
Irrtümlich fährt der Konvoi erst zum Hauptquartier des VI. Korps, dreht um und gelangt dann zum deutschen Camp.
Briefing
durch den Kommandeur des dt. Einsatzkontingents, Oberst Baur, und den Leiter ziviler Anteil PRT, Dr. Ziegler. Auf Nachfrage des Ministers skizziert der BMZ-Koordinator, Ministerialrat a.D. Sahlmann, die Beiträge der Entwicklungszusammenarbeit (EZ).
Das PRT Kunduz ist ein Pilotprojekt - als integrierte Einrichtung der Bundesregierung, der vier Ressorts AA, BMVg, BMZ und BMI, sowie als erstes PRT der NATO für die vier Nordost-Provinzen Kunduz, Baghlan, Takhar und Badakhshan. Hier liegt das Kernland der ehemaligen Nordallianz. Auf deutsche Initiative hin untersteht das von den US-Streitkräften übernommene PRT Kunduz (damals 40 Personen) dem ISAF-Kommando und fällt damit unter das ISAF-Mandat des VN-Sicherheitsrates. Die anderen sieben PRT unterstehen dem Kommando Operation Enduring Freedom/OEF. Fünf sind US-geführt (Gardez, Bagram, Herat, Kandahar, Jalalabad), je eins wird von Großbritannien (Mazar-e-Sharif) und Neuseeland (Bamian) geführt. Geplant sind sechs weitere in Ghazni, Khwost, Asadabad (Prov. Konar), Qualat (Prov. Zabul), Tarin Kowt (Prov. Uruzgan), Sharan (Provinz Paktika). Lt. General Gliemeroth beabsichtigt die NATO bis Jahresmitte die Übernahme/Aufstellung von vier bis fünf PRT`s.
Lage:
-         „überwiegend ruhig, aber nicht stabil": keine konkreten Bedrohungshinweise, aber erhebliche Destabilisierungsfaktoren, latentes Eskalationspotenzial lokaler Konflikte (in der Provinz Baghlan z.B. ca. 2.000 ehemalige Talibananhänger; bewaffnete Kräfte verfügen über schwere Handwaffen und Flugabwehrwaffen)
-Â Â Â Â Â Â Â Â Â keine staatlichen Strukturen
-         komplizierte, zerbrechliche Sicherheitsstrukturen, feines Netzwerk von Loyalitäten
-Â Â Â Â Â Â Â Â Â (noch) ineffiziente Polizei
-         General Doaud als die Schlüsselperson
-         Kaum vorhandene Infrastruktur in einer Region, die eine Fläche von Bayern und Hessen umfasst und bis auf die Provinz Kunduz von Gebirgen bis über 6.000 m Höhe (Badakhshan) geprägt ist. Die faktische Höchstgeschwindigkeit über Land liegt bei 20-30 km/h.
Die Aufgaben und Akteure des PRT sind in seinem Emblem, einem Balken mit zwei schrägen Stützpfeilern, zusammengefasst und der um 90° nach links gedreht das Kunduz-K ergibt: Den linken Pfeiler „Sicherheit" stellt die Bundeswehr, den rechten Pfeiler „Wiederaufbau" das AA, BMI und BMZ, daran angedockt Regierungsorganisationen wie GTZ, DED.
Um den integrierten Ansatz in die Tat umzusetzen, gibt es in Deutschland eine interministerielle Steuerungsgruppe. Vor Ort ist die Kooperation zwischen den verschiedenen Säulen von zentraler Bedeutung.
Im Rahmen der vom Mandat erlaubten 450 Soldaten steht für Kunduz ein Personalpool bereit, so dass der Personalbedarf lagebezogen gedeckt werden kann. (Pull-Prinzip) Zzt. sind hier 218 Soldaten, davon 48 Offiziere, 129 Unteroffiziere und 40 Mannschaften. Geplant sind 317. Das Camp ist für ca. 200 vorgesehen. Das AA ist zzt. mit drei Beamten vor Ort vertreten, das BMZ und BMI jeweils mit einem Beamten. (Der bloße Vergleich der Personalstärken ist allerdings irreführend, weil die Wirkungskreise von Soldaten, Polizisten und Zivilexperten sehr unterschiedlich sind. Wo Polizisten oder Entwicklungshelfer beratende und koordinierende Funktionen wahrnehmen, wirken sie über einheimische Polizeitrainer, über GO`s und NGO`s und lokale Mitarbeiter weit in die Gesellschaft hinein. Zum BMZ-Koordinator sind deshalb hinzu zu zählen die Mitarbeiter von DED, GTZ, KfW - und indirekt 25 deutsche und internationale (N)GO-Mitarbeiter sowie lokale Helfer.)
Das bisher dt. PRT soll zunehmend multinationalisiert werden: Für den militärischen Teil gibt es Zusagen von Belgien (10, v.a. Flugplatz), Schweiz (1 Arzt, 2 Militärbeobachter), Frankreich (Unterstützungsflüge), Ungarn (Unterstützung und Militärpolizisten), Rumänien (Logistik und Stab). Für den zivilen Teil zugesagt haben die Niederlande eine politische Referentin, Dänemark 1-2 Berater, Frankreich einen Kulturreferenten für Herat. Schweden, Finnland und Norwegen haben bisher Bereitschaft signalisiert.
Auftrag des BW-Kontingents:
-         Stabilität in der Region erhöhen
-         Sicheres Arbeitsumfeld für das PRT schaffen
-         Förderung und Unterstützung des Aufbaus von Sicherheitsstrukturen
-         Beratende Unterstützung des DDR-Prozesses (Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration)
-         Ausbildungsunterstützung für die afghanische Armee ANA
Schwerpunkt der BW-Aufgaben ist die Verbindungsarbeit, Networking, um darüber die Sicherheitslage genau beobachten und beeinflussen zu können. Inzwischen bestehen Kontakte zu mehr als 150 formellen und informellen, politischen und religiösen Führern. Die dafür notwendigen Fahrten demonstrieren genug an Präsenz.
(Aus Gesprächen am Rand: Eigene Präsenzpatrouillen wie im anonymen Kabul werden hier nicht gefahren. Sie sind nicht nötig, wären angesichts der relativen Überschaubarkeit und Lage unverhältnismäßig. Gegenüber Waffenträgern haben klug und entschieden auftretende Soldaten am ehesten die Autorität zur „gleichen Augenhöhe". Der Landessitte entsprechend tragen die Offiziere Bart - „Weiße Bärte" haben besondere Autorität. Seit Riechmann einmal von eigenen Trümmererinnerungen in Deutschland erzählte und sich damit als ca. 60-Jähriger entpuppte, gilt auch der General mit dem markanten rasierten Kinn als „Weißer Bart".)
Auf die Frage, ob zum Selbstschutz nicht Panzerung notwendig sei: Nein, hier stelle man Sicherheit über Verbindungen her. Netzwerk sei der beste Schutz. Auf Abruf stehen geschützte
Fahrzeuge in Kabul bereit, sie werden nach Lageeinschätzung hierher verlegt. Über ISAF hat das PRT Zugriff auf alle Kräfte, auch zur Luftnahunterstützung. Für ein zeitgerechtes Einfliegen von Quick Reaction Forces ist Vorsorge getroffen. Hierzu bestehen Übereinkünfte mit den US-Streitkräften.
Zum Drogenanbau: In drei Provinzen wächst Reis, Mais, es gibt zwei Ernten/Jahr. Die Leute wollen den Mohnanbau nicht. Sie haben auch erlebt, was Drogen in den Familien anrichten. Je mehr zivile Einkommensmöglichkeiten wir schaffen, desto mehr kann auf den Mohnanbau verzichtet werden. (s. Anmerkungen)
CIMIC: Primäraufgabe der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit/Ausland sind entgegen verbreiteter Wahrnehmung nicht Projekte („Dachlatten-CIMIC"), sondern die Erfassung der zivilen Lage und die Beratung der militärischen Führung im Hinblick auf Akzeptanzförderung bei der Zivilbevölkerung, um darüber den Selbstschutz zu fördern (force protection). Soweit Zeit und Kapazitäten vorhanden sind, können zu diesem Zweck schnelle Unterstützungsmaßnahmen (Quick Impact Project) und nachhaltige Unterstützungsprojekte durchgeführt werden. In Kunduz sind zwei Liaison Monitoring Teams geplant. Im Unterschied zum Balkan sind CIMIC-Projekte hier auf Situationen begrenzt, wo sie unmittelbar der eigenen Sicherheit dienen, z.B. Winterfestigkeit von Polizeistationen, Verteilung von Abdeckfolien entlang der Evakuierungsstrecke, im Umfeld der neuen Außenstelle.
Eine erste Außenstelle des PRT Kunduz wurde gestern in Taloghan (Prov. Takhar) eröffnet. Weitere sollen in den anderen Provinzen folgen. Nach Badakhshan würde man aber 12-14 Stunden Fahrtzeit brauchen. Mit Hubschraubern wird es schneller gehen.
Auftrag der zivilen Säule:
-         Stärkung des Einflusses der Zentralregierung
-         Aufbau und Stärkung von politisch-administrativen und Rechtsstaatstrukturen
-         Stärkung von Zivilgesellschaft
-         Führungsverantwortung beim Polizeiaufbau wahrnehmen
Das entwicklungspolitische Engagement umfasst (nach dem beim Briefing verteilten Papier „BMZ-Auftrag in der Region Kunduz")
-         Verwaltungs- und Rechtsstaatsförderung
-         Förderung der Beteiligung von Frauen in allen Bereichen des Wiederaufbaus
-Â Â Â Â Â Â Â Â Â Programme der entwicklungsorientierten Nothilfe
-         Langfristig angelegte Investitionen in die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur (zzt. FZ-Projekte arbeitsintensiver Straßenbau und Trinkwasserversorgung in der Stadt Kunduz)
-         Schaffung von Arbeitsplätzen
-         Förderung privater Investitionen
-         Existenzgründerprogramme besonders für demobilisierte Soldaten und rückkehrende Flüchtlinge
Leitprinzip ist die Einbindung aller Maßnahmen in das „National Development Framework", das zwischen afghanischer Regierung und internationalen Gebern vereinbart wurde. Durchführende Organisationen sind DED, GTZ, Kreditanstalt für Wiederaufbau als Regierungsorganisationen und Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte/AGEF, Deutsche Welthungerhilfe, Katachel als NGO`s und andere internationale Organisationen.
Arbeitsergebnisse seit November 2003:
-         Fertigstellung von vier Jungen- und Mädchenschulen, drei Krankenstationen, 203 Brunnen und Bewässerungsanlagen für 18.000 Menschen, mehreren Brückenanlagen
-         Straßenbauprojekt in Kunduz läuft in diesen Tagen an, Vorbereitungsarbeiten für die Wasserversorgung in Kunduz haben begonnen
-         Alphabetisierungs-, Computer- und Englischkurse für Frauen, Verwaltungs- und Polizeikräfte
-         42 Existenzgründer haben den Vorbereitungskurs erfolgreich abgeschlossen
-         Unternehmerverband in Kunduz befindet sich in Gründung
-         Förderung von neun lokalen GO`s und NGO`s in den Bereichen einkommensschaffende Maßnahmen, non-formale Berufsausbildung für Frauen, Printmedien, Kommunikation, Radio und TV im Rahmen ziviler Friedensförderung, Handwerk, Kunstgewerbe
-Â Â Â Â Â Â Â Â Â Organisationsentwicklung von zwei lokalen Frauen NGO`s
-         Wiederherstellung und Einrichtung von Arbeits- und Schulungsräumen bei GO`s und NGO`s
-         Ansatzpunkte der nationalen Aussöhnung im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes
(Im Briefing nicht berücksichtigt. Die folgenden Angaben nach der BMI-Dokumentation „Polizeiliche Aufbauhilfe in Afghanistan", Stand Januar 2004)
Für Kunduz sind fünf Beamte vorgesehen. Die Bundesrepublik hat seit Anfang 2002 die internationale Führungsverantwortung beim Aufbau der afghanischen Polizei. Die polizeiliche Aufbauhilfe ist neben dem Armee- und Justizaufbau, der Entwaffnung (DD&R) und Drogenbekämpfung Teil der Sicherheitssektorreform (SSR). Schwerpunkte des deutschen Projektbüros Polizei in Kabul mit seinen zzt. 16 Beamten sind Beratung bei der Neustrukturierung von Ministerium und Polizei, Beratung bei der Ausbildung des mittleren und höheren Dienstes/Wiederaufbau der Polizeiakademie, Aufbau der Grenzpolizei, Unterstützung der Rauschgiftbekämpfung, kriminaltechnischer Aufbau und Ausstattungshilfe, internationale Koordination. Deutsche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe flankiert den Aufbau der eigenständigen Rauschgiftbekämpfungseinheit im Innenministerium (Informationszentrale, aktive Informationsbeschaffung, Aufbau operativer Ermittlungs- und Zugriffseinheiten).
In Kunduz soll zuerst der Ausbildungs- und Ausstattungsbedarf ermittelt werden. Parallel sollen deutsche Berater mit polizeilicher Basisausbildung beginnen. Hierfür werden geeignete afghanische Kräfte und Absolventen der Polizeiakademie in Kabul als Trainer ausgebildet.
Der Außenstelle der dt. Botschaft in Herat sollen weitere vier Polizeiberater zugeordnet werden. Ab Frühjahr 2004 sollen weitere PRT`s in Gardez, Mazar-i-Sharif, Bamian und anderen Orten durch dt. Polizeibeamte unterstützt werden. Auch hier sollen sie afghanische Trainer fortbilden und Ausbildungsmaßnahmen koordinieren.
Zivil-militärische Zusammenarbeit
Laut Briefing sei das Verhältnis zu NGO`s anfangs gespannt gewesen, habe sich aber schnell ausgezeichnet entwickelt. Man habe verstanden, wer welche Aufgaben habe und dass Wiederaufbau effektiver in einem gesicherten Umfeld gehe. NGO-Vertreter vergewisserten sich, im Gefährdungsfall im Camp Schutz finden zu können. BW betont, dass sie kein Konkurrenzunternehmen zu NGO`s sei. (In der Berliner Zeitung vom 2. Februar erklärte eine Vertreterin der Hilfsorganisation Katachel, die Zusammenarbeit mit der BW habe sich „absolut positiv" entwickelt. „Sie helfen uns, wenn wir sie brauchen, und umgekehrt. Kunduz hat sich seit September gravierend verändert. Es pulsiert, viele Leute haben Arbeit oder kriegen Aufträge. Das ist das Beste, was der Provinz passieren konnte.")
Zwischen dem militärischen und zivilen Teil des PRT laufen regelmäßig Gespräche, sei die Zusammenarbeit gut. Die Zurückhaltung der Bundeswehr bei CIMIC-Projekten (Kostenobergrenze 2.500 €) hat wohl das BMZ veranlasst.
(Einzelgespräche am Rande vermitteln ein weniger einheitliches Bild:
Von BW-/AA-Seite wird das separate „Deutsche Haus" der EZ kritisiert: Das fördere den Eindruck „getrennter Politik". Auf EZ-Seite ist die Rede vom „dritten Pfeiler des deutschen gemeinsamen Engagements", gibt es Kritik an der dominanten Rolle der BW.
Offen bleibt, welchen Stellenwert hierbei traditionelle Ressortkonkurrenzen, unterschiedliche Organisationskulturen, -gewichte und -interessen sowie Kommunikationsdefizite haben.
Insgesamt aber ist das Stabilisierungs- und Wiederaufbauprojekt PRT Kunduz so breit und integriert wie kein anderes. Das ist grundsätzlich richtig, weil es die bitter nötige - und oft fehlende - Kohärenz internationaler Akteure fördert.)
Die Programmabkürzung erlaubt nur einen flüchtigen Überblick. Von einem zentralen Wachturm wird das Lager samt Umgebung überwacht. Insgesamt erscheint das Camp viel weniger abgesichert als Camp Warehouse in Kabul. Die einstöckigen Unterkunftsgebäude aus Holz kosteten nur 5.000 US-$ (Container ohne Transport 22.000$!) und brachten Beschäftigung. Das Gelände ist mit Wassergräben und Holzplankenwegen durchzogen.
Der Zug OpInfo (Operative Information) gibt eine Zeitung mit 20.000 Auflage heraus und betreibt vor allem einen Radiosender, der rund um die Uhr sendet (15.00-21.00 Uhr Lokalprogramm, sonst Rahmenprogramm aus Kabul) und in einem Radius von 65 km gehört werden kann.
Der Infrastruktur-Stabsoffizier OTL Hacker stellt den Plan für das neue Camp Kunduz vor:
Am Südrand von Kunduz (Richtung Flugplatz) auf einem Hochplateau gelegen soll es bis zu 600 Personen von militärischem und zivilem PRT-Anteil, multinationalen Streitkräften und Betreiberfirmen aufnehmen können. Die Bauweise ist lokal angepasst, so dass lt. Protokoll vom 27. Januar die Liegenschaft bei Aufgabe durch die Bundesrepublik den Bürgern der Stadt Kunduz zur zivilen Anschlussnutzung übergeben werden kann. Das Camp soll binnen sechs Monaten größtenteils ortsüblich von lokalen Unternehmen in Kooperation mit der GTZ errichtet werden. Veranschlagt sind hierfür 12 Mio. €.
(Was erfahrenere Verbündete schon länger praktizieren, tut nun erstmalig auch die BW: Sie errichtet ein Camp aus „einem Guss". Das bringt mehr Sicherheit, Arbeits- und Lebensqualität und ist letztendlich kostengünstiger als die bisherige Vorgehensweise, vorhandene Liegenschaften provisorisch aus- und ständig umzubauen. Die Geschichte von Camp Warehouse in Kabul ist dafür ein plastisches Beispiel.)
Am Wachhaus Gruppenbild des Ministers mit den einheimischen Wachsoldaten. Ein Journalist: „Struck nach der Bundeswehrreform".
Am Eingangstor stehen Posten auch auf den Mauern. Empfang des Ministers mit allen militärischen Ehren. Eine Militärkapelle spielt begeistert und schräg die beiden Nationalhymnen. Beim Abschreiten der Ehrenkompanie folgt der Offizier im Stechschritt. Auf dem Weg zu General Doauds zweistöckigem Hauptquartier stehen aufgereiht ca. dreißig Würdenträger aus der ganzen Region, unter ihnen viele „Weiße Bärte". Wir schütteln ihnen allen die Hand. Die Blicke und Händedrücke sind keine bloße Höflichkeit, sie transportieren viel Freundlichkeit, ja Herzlichkeit. Gegenüber den drei Frauen am Schluss der Reihe, den drei Vertreterinnen in der Loya Jirga, müssen wir aber mehr Distanz wahren.
Teerunde im Dienstzimmer von General Doaud. Shiba Shakib übersetzt. Der 36-jährige General gehörte zum engsten Kreis des Nordallianz-Führers Massud und gilt heute als erster Machthaber im ganzen Nordosten. Sein VI. Korps soll 6.-8.000 Bewaffnete umfassen. Er führt das Wort, Gouverneur Latif und Polizeichef Farhad wirken neben ihm wie Statisten. Es heißt, dass sie alle über Mittelsmänner den Drogenanbau und -handel im Nordosten kontrollieren - für Gouverneur und Polizeichef soll das in besonderem Maße gelten. Doauds Kleidung und Aussehen sind gepflegt. In Sprache und Mimik wirkt er wach, freundlich, ansprechbar und keineswegs unsympathisch. Der Begriff „warlord" scheint angesichts einer solchen Person nicht so gut zu passen. Ein führender Offizier spricht deshalb lieber von „Entscheidungsträgern".
Im lockeren Vorgespräch äußert Doaud die Hoffnung, „dass wir die Umsetzung der Gesetze schaffen". Die Wählerregistrierung (per Foto und Wählerkarte) brauche noch ein bis zwei Monate, so dass die Wahlen vielleicht um einige Wochen geschoben werden müssten. Wenn das Wetter aber nicht so schlimm wie jetzt und die Wege offen seien, könnten die Wahlen noch rechtzeitig stattfinden.
Im Konferenzraum folgt das offizielle Delegationsgespräch.
Doaud: Für die Bevölkerung sei es eine Ehre, dass Deutschland freundliche Kontakte zu Afghanistan habe. Seit dem Frieden hätten Frauen und Kinder den Bonn-Prozess im Kopf. Erfinder seien die Deutschen, der Kanzler.
Deutschland habe vorgeschlagen, das VN-Mandat zu erweitern; Deutschland habe sich für Kunduz entschieden - er wisse gar nicht, wo er mit Dank beginnen solle.
Minister: Er habe den Eindruck, dass die Arbeit des PRT von der Bevölkerung sehr begrüßt werde. Im Hinblick auf die anwesenden Obleute des Verteidigungsausschusses betont er die wichtige Rolle des Ausschusses bei der Entscheidung für Kunduz. Dabei sei die entscheidende Einschränkung gemacht worden, dass deutsche Soldaten sich nicht am Kampf gegen die Drogen beteiligen sollten. In Deutschland habe die Interviewäußerung des General, Deutschland solle mehr gegen den Drogenanbau tun, zu Diskussionen geführt. Man mache sich große Sorgen um den Drogenanbau vor allem in der Provinz Badakhshan. Er hoffe, dass er, Gouverneur Latif und der Polizeichef alles täten, um den Drogenanbau und -handel zu unterbinden.
Doaud begrüßt die Anwesenheit von Parlamentariern als Vertretern des Volkes. An General Riechmann: „Kommen Sie, beteiligen Sie sich am Kampf gegen den schweigsamen Töter." Er habe niemanden gesprochen, der den kleinsten Einwand gegen das Kommen der Deutschen gebracht hätte. Schmerzen bereiteten ihm immer noch die vergangenen Kriege.
Wir wollen von Ihren Erfahrungen lernen, vom Fleiß der Deutschen, der Disziplin der Soldaten.
Erstmalig seien hier Waffen eingesammelt worden. Die Zählung von Wählern habe begonnen. „Wir haben unsere Steuern und Abgaben gezahlt, Löhne sind gekommen." 150.000 gehen zur Schule, 50.000 davon seien Mädchen. Frauen würden in Büros arbeiten und seien an Entscheidungsprozessen beteiligt. Wahlen seien eine neue Erfahrung. Die Mehrheit der Bevölkerung werde wohl teilnehmen.
Man habe mit drei Hauptproblemen zu tun:
-         Aufbau der Staatsgewalt, weil der Krieg alle Machtstrukturen zerstört habe;
-         Terrorismus: nach Kandahar war Kunduz der zweite Schwerpunkt der Taliban. Sie und Al Quaida wollen Sicherheit und Ordnung hier stören.
-         Drogen: Informationen werden an die Deutschen weitergegeben. Die Anbauflächen hätten sich in letzten zwei Jahren sehr ausgeweitet. Die Drogen seien ein „großes Problem, Mörder der Menschen, wir wollen es bekämpfen". Gerade habe man einen Schmuggler mit 19 kg und einen anderen mit 12 kg Heroin verhaftet. Er habe einen Plan, wie man Produktion und Handel mit Heroin verhindern könne. Er will es für Oberst Baur aufschreiben. Hier in den vier Provinzen kenne er sich aus.
Er habe sehr gute Beziehung zur Zentralregierung, zu Verteidigungsminister Fahim, auch zu Präsident Karzai. (Bei den Ausführungen zur Drogenbekämpfung lässt Doaud keine Unsicherheit erkennen. Seine „Kollegen" wirken unverändert verschlossen.) Beim Verlassen des Gebäudes bildet die Ehrenkompanie mit präsentiertem Gewehr ein Spalier.
Im Gebäude gegenüber Begegnung mit den örtlichen und regionalen Würdenträgern. Die drei Frauen nehmen vorne Platz. Ein Mittelalterlicher bedankt sich für die Hilfe, vor allem dass die Verfassung entstehen konnte. Er bittet die deutsche Bevölkerung, den Aufbau mit gleichem Herzblut zu unterstützen.
Eine der Frauen möchte ihre Probleme wegen der knappen Zeit für Oberst Baur aufschreiben. „Wir wollen keine Almosen, wir wollen selbst arbeiten, z.B. in der Fabrik, wo Frauen ohne Ernährer arbeiten können." Viele Frauen hätten ihre Männer im Krieg verloren und leben jetzt in Zelten.
Der Minister beglückwünscht alle Frauen und Männer in der Loya Jirga, die auf dem Weg zu einer demokratischen Verfassung geholfen hätten. Aus den Gesprächen mit Karzai, Fahim, Doaud, Latif wisse er, dass das Land sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen wolle. Deutschland wolle dazu hilfreich seine Hand reichen.
Mit uns fliegen einige Soldaten des ersten Kontingents zurück, unter ihnen der erste PRT-Kommandeur und „Weiße Bart" Oberst Schiebold, stv. Kommandeur der Division Spezielle Operationen/DSO. Ein Lautsprecherwagen von OpInfo strahlt eine Abschiedsmelodie übers Flugfeld. Sechs Stunden später könnte der Empfang für die Heimkehrer auf dem militärischen Teil des Flughafens Tegel unauffälliger nicht sein. Auf wen keine Angehörigen warten, ist völlig sich selbst überlassen.
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Beobachtungen beim Besuch der PRTs in
Feyzabad und Kunduz am 26.9.2004
von Winni Nachtwei, MdB, 27./30.9.2004
(Vollbericht www.nachtwei.de/index.php/articles/bericht/39 )
Im Vorfeld der Bundestagsentscheidung über die Verlängerung des ISAF-Mandats besuchte Verteidigungsminister Struck am 26. September zusammen mit dem Vorsitzenden und den Obleuten des Verteidigungsausschusses sowie dem Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes die PRTs in Feyzabad und Kunduz.
Die Aufenthalte an den beiden Orten dauerten jeweils nur wenige Stunden. Offizielle Unterrichtungen bei solchen Truppenbesuchen stehen unter erheblichem Beschönigungsrisiko. Das hat die Auswertung der März-Unruhen im Kosovo sehr ernüchternd gezeigt. Bei entsprechender Vorbereitung, Nutzung verschiedener Quellen und bilateralen Gesprächen am Rand und nachtäglichem Austausch unter den Besuchern lassen sich nichtsdestoweniger einige wichtige Eindrücke und Erkenntnisse gewinnen. Meine Kernfragen waren:
-Â Â Â Â Â Â was hat sich in den acht Monaten seit dem letzten Besuch in Kunduz (30. Januar 2004) getan?
-      Wie werden vor Ort Wirkungsmöglichkeiten und Risiken eingeschätzt? Welche Vorsorge ist für den worst case getroffen - inwieweit ist der Einsatz also verantwortbar?
Drei Tage nach unserem Besuch im PRT Kunduz trifft eine Rakete das Gebäude der Operationszentrale des PRT und verletzt fünf Soldaten, davon einen schwer. Wenige Stunden später billigte der Bundestag den Antrag der Bundesregierung, die Bundeswehrbeteiligung an ISAF incl. Region Kunduz um ein Jahr zu verlängern.
Gegen diesen Beschluss wandten sich einerseits die Gesellschaft für bedrohte Völker (das PRT-Konzept sei gescheitert, weil die Teams nichts zur Entwaffnung der Kriegsfürsten noch zur Bekämpfung des Drogenanbaus beitragen würden), andererseits der Bund für Soziale Verteidigung, die IPPNW, DFG-VK, Grundrechte-Komitee u.a. („nur zivile Kooperation kann Afghanistan helfen"). Hierzu folgen in Kürze gesonderte Stellungnahmen.
(Zu Entstehung, Aufgaben, Kontext und Leistungen der PRTs insgesamt vgl. meine Hintergrundinformation „Zur ISAF-Verlängerung: Auf verlorenem Posten in Kunduz und Feyzabad?" vom 23.9.04 sowie Pressemappe PRT-Projekte des Presse- und Informationszentrums, Dt. Einsatzkontingent Kunduz vom 26.9.04; Bundestagsdebatte zur ISAF-Verlängerung am 30.9.2004)
Feyzabad
(...)
Kunduz
Schon die Fahrt vom Flugplatz zum PRT in der Stadt offenbart schnell deutliche Veränderungen gegenüber Januar: Fortschritte sind unübersehbar.
Besonders auffällig ist die erheblich verstärkte Bautätigkeit. Die Posten der neuen Afghanischen Nationalarmee (ANA) entlang der Fahrtstrecke machen mit ihrer Haltung, Uniformierung und Ausrüstung einen viel professionelleren Eindruck als die Militärposten im Januar. (Dass manche Panzerfäuste tragen, lässt zugleich auf die Verlässlichkeit dieser Soldaten hoffen.)
Der Lagevortrag steht unter dem Slogan „Wir sind angekommen".
Die PRTs der Region Kunduz umfassen insgesamt z. Zt. 429 Personen, davon 339 BW, 76 andere Nationen (39 NL), 14 Mitarbeiter von AA, BMI und BMZ, außerdem 113 afghanische Mitarbeiter. Zum Stärkevergleich: Das britische PRT in Mazar-e-Sharif umfasst ca. 230 Soldaten einschließlich der quick reaction Komponente.
Das PRT selbst ist deutlich gewachsen. Vor den Wohncontainern gibt es jetzt einige gemütliche Ecken. Am Tor stehen gepanzerte Transportfahrzeuge (Fuchs und Dingo). In der Nähe des Flughafens entsteht ein neues größeres Camp. Im Unterschied zu Januar, als es noch keine ausdrücklichen Präsenzpatrouillen gab, sind die Soldaten des PRT jetzt viel mehr draußen: zwei deutsche und eine niederländische Schutzkompanie, die militärische Gewalt zum Selbstschutz und zur Nothilfe einsetzen dürfen.
Netzwerkbildung fördere Sicherheit. In mehreren Fällen sei es in den letzten Monaten gelungen, per Mediation bewaffnete Auseinandersetzungen zu verhindern.
Vor acht Monaten gab es acht PRTs und nur Kunduz als ISAF-Insel. Heute sind es 19, davon fünf ISAF/NATO unterstellt. Der Norden ist inzwischen ganz abgedeckt.
Die BW unterstützt ANA mit Ausbildung auf den Feldern Objektschutz und Sanitätswesen.
Bei der Operativen Information arbeiten inzwischen 13 einheimische Redakteure. Der Sender erreicht inzwischen 2 Mio. potentielle Hörer in der ganzen Nordregion statt 300.000 im Januar. Die alle 14 Tage erscheinende zweisprachige ISAF-Zeitung wird besonders gern als Unterrichtsmaterial verwandt.
Bei der PRT-Präsentation machen die Vertreter von BMVg, AA, BMZ und BMI einen ausgewogen starken Eindruck. Im Unterschied zu Januar hört es sich heute nach gleicher Augenhöhe an. Beeindruckend die sehr systematische Planung der breiten PRT-Aktivitäten - ein umfassender Ansatz von Aufbau. Offen bleibt, ob sich das früher problematische Verhältnis EZ - BW gebessert hat. Hierzu gibt es am Rande gegensätzliche Hinweise.
Zu den zentralen PRT-Aufgaben gehört, die Autorität der Zentralregierung zu stärken. Berichtet wird, dass die Zentralregierung inzwischen eine kräftigere Personalpolitik bei der Besetzung von Spitzenposten betreibe und dabei gut die notwendige Machtbalance beachte.
Die Wählerregistrierung war eine große logistische Leistung und sei insgesamt sehr erfolgreich gelaufen, die Zusammenarbeit habe sehr gut funktioniert. Die Wahlabsicherung erfolge zuerst durch die Polizei, dann durch ANA, dann durch PRT, dann durch quick reaction Einheiten (spanisches Bataillon).
Polizeiberatung findet statt zur Struktur der Polizei, Ausbildung, Drogenbekämpfung und Ausstattung. Mit deutscher Hilfe (wieder)errichtet wird das Polizeihauptquartier, mehrere Polizeistationen, eine Terrorismusdienststelle. Mit 200 Krädern (davon 50 nach Feyzabad) und 13 Kfz aus Deutschland wurde die Mobilität der Polizei enorm erhöht.
Die Entwicklungszusammenarbeit konzentriert sich auf Trinkwasserversorgung, Ernährungssicherung, Erneuerbare Energien, Bildung, Straßenbau.
Der deutsche Botschafter betont, dass man die Drogenproblematik nicht ernst genug nehmen könne. Hierüber könne alles andere zurückgeworfen werden. Natürlich könne die Internationale Gemeinschaft, ISAF und BW nicht direkt gegen den Drogenanbau vorgehen. Aber die afghanische Seite müsse man dazu befähigen. Ein höherer Offizier betont, das PRT könne aber durch Aufklärungsmaßnahmen und Information mehr zur indirekten Drogenbekämpfung beitragen. Hier möchte man ein weniger einschränkendes Mandat.
An beiden Standorten äußern Offiziere völliges Unverständnis über die innerdeutsche Diskussion zu den PRTs, zum angeblichen Versagen in Feyzabad. Offenbar würden Auftrag und Leistung der PRT unzureichend bzw. falsch verstanden. Man ist offenkundig genervt.
Die Leiter der zivilen Säulen sind unterschiedlich lange vor Ort: in Feyzabad zunächst nur zwei Monate, in Kunduz zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Wo das gesellschaftliche Umfeld sehr komplex ist und es entscheidend auf persönliche Beziehungen und Vertrauensbildung ankommt, sind längere Stehzeiten in bestimmten Positionen von entscheidender Bedeutung.
Besuch in Nord-Afghanistan: Hoch kritische Monate
Winfried Nachtwei, MdB (24.7.2006)
Zusammen mit den Kolleginnen M. Brünung (CDU) und U. Mogg (SPD) begleitete ich am 17.-19. Juli 2006 Verteidigungsminister Jung und Generalinspekteur Schneiderhan bei seinem ersten Besuch der ISAF-Nordregion und der deutsch geführten Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Feyzabad und Kunduz sowie das neue Regional Command (RC) North in Mazar-e-Sharif.
Der Start von Berlin-Tegel verzögert sich wegen Vogelschlag an den Triebwerken des Bundeswehr-Airbus, mit dem kurz vorher die Kanzlerin aus St. Petersburg vom G8-Gipfel zurückgekommen war. Ein Techniker muss aus Frankfurt eingeflogen werden. In Termez/Usbekistan steigen wir in CH-53-Hubschrauber um und legen Schutzwesten an. Um das Risiko eines Beschusses vom Boden zu minimieren, brettern wir im Tiefflug (Mindesthöhe 8 m) und ICE-Tempo in knapp 2 Stunden nach Feyzabad in der entlegenen Nordostprovinz Badakhshan. Der Konturenflug mit offener Heckklappe, auf der ein Soldat als Beobachter sitzt, ermöglicht Blicke auf grandiose Landschaften: gewellte Steppen und Wüsten, zerklüftete Bergwelt, Schluchten, wenige saftig grüne Oasen, Flusstäler, Felsmassive. Nur ganz vereinzelt sind menschliche Ansiedlungen zu sehen, doch kein Berg ohne Trampelpfade (gerade über die Höhen), plötzlich eine kleine Herde, ein vereinzeltes Zelt, einzelne Menschen.
Bei meinem letzten Besuch in Kunduz und Feyzabad waren die PRT noch Provisorien und lagen inmitten der Orte, waren ziemlich verwundbar, äußerst beengt - aber für Bevölkerung auch eher erreichbar und einsehbar. (vgl. Bericht vom September 2004) Jetzt liegen die neuen Camps jeweils ganz nah an der jeweiligen Landepiste, sie sind großräumig angelegt und massiv gegen Raketenbeschuss und Attentate gesichert - aber jetzt weniger erreichbar und gar nicht einsehbar. In den letzten Wochen wurde um den bisherigen norwegischen Stützpunkt herum das Camp Marmal bei Mazar-e-Sharif hochgezogen. Über allem trockene Backofenhitze von über 40° C, im wüstenartigen Mazar-e-Sharif immer wieder von dichten Staubwolken durchweht.
Drei Tatsachen schränken unsere Einblicke vor Ort zusätzlich über den engen Zeitrahmen ein:
Die Besuche führen vom Flugfeld direkt in die PRTs. Eine Fahrt wie früher durch den ganzen Ort, die zumindest Eindrücke von Lebensverhältnissen, Veränderungen und Bevölkerungsreaktionen ermöglichte, gibt es jetzt nicht mehr. Offizielle Briefings gibt es nur durch Militärs nicht durch die zivilen Vertreter der PRTs. Mit dem deutschen Botschafter in Kabul, Dr. Seidt, AA-Vertretern und deutschen Polizisten ergeben sich nur kurze Gesprächsmöglichkeiten am Rande. Das BMZ ist gar nicht sichtbar. Nicht eingeplant sind Kontakte mit lokalen Autoritäten, was eigentlich ein Gebot der Höflichkeit und des Respekts gegenüber dem Gouverneur und anderen gewesen wären. Bei früheren Struck-Besuchen war das eine Selbstverständlichkeit.
Bei unseren Abgeordnetenreisen nach Afghanistan nach der Sommerpause wollen wir voll in die Breite erkunden, ressortübergreifend, multinational, (nicht-)staatlich. Heute ist meine Fraktionskollegin Anna Lührmann nach Afghanistan gestartet, um vor allem zivilgesellschaftliche Projekte zu besuchen. Ich bin gespannt auf ihre Erfahrungen.
Kunduz
Das Camp liegt ca. 1 km vom „Flughafen" entfernt. Geradezu endlos erstreckt sich die Mauer, die jeden Blick ins Lager versperrt. Die Zufahrt zum Haupttor ist weiträumig gesichert. Dahinter liegt eine gerade im Vergleich zur inprovisierten und chaotisch erscheinenden Enge von Camp Warehouse in Kabul eine auffällig großzügige Anlage. Manche Gebäude sind um Innenhöfe herum gebaut. Irgendwann einmal soll die Anlage z.B. als Pädagogische Hochschule Verwendung finden können.
Der Verantwortungsbereich des PRT ist so groß wie Sachsen-Anhalt bei einer Bevölkerung wie Hamburg. Es gibt zwei befestigte Straßen, eine in Nord-Süd, die andere in Ost-West-Richtung. Im Vergleich zu Badaghshan sind andere Distrikte viel schneller erreichbar (eine bis max. acht Stunden). Das PRT umfasst 464 Personen, davon 414 Bundeswehr, 40 Soldaten anderer Nationen und 10 Zivilisten (AA, BMI u.a.). Hinzu kommt eine afghanische Wache und 88 afg. Mitarbeiter
Sicherheitslage: Zwischen Februar und Juni gab es neun Anschläge auf das PRT, davon acht IED und ein Hinterhalt mit Panzerfäusten. Bei dem einen Selbstmordanschlag am 27.6. in Kunduz in Nähe des Krankenhauses explodierte ein Fahrzeug vor einem DINGO: neun Afghanen, davon sechs Kinder, werden schwer verletzt; die DINGO-Besatzung kam mit dem Schrecken davon; vom Angriffsfahrzeug blieb ein Klumpen Schrott. Beim Freitagsgebet der örtliche Mullah dazu: „Dieser Täter starb wie ein Schwein."
Einen Tag später wurde eine Nachtpatrouille südlich Kunduz mit einer Panzerfaust beschossen. Es entwickelte sich ein Feuergefecht. Opfer gab es nicht.
Als uns die attackierten gepanzerten Fahrzeuge vorgeführt werden, ist an den „begrenzten" Schäden zu sehen, welchen enormen Schutz die Panzerung bietet. Zugleich haben die SoldatInnen aber auch sehr viel Glück gehabt.
Die Mehrheit der Bevölkerung und die Mullahs lehnen die Anschläge ab.
Auch hier war die Reaktion des PRT offensiv im Sinne verstärkter Präsenz (Aufklärung, Abschreckung, nicht aktiver Anti-Terrorkampf) im kritischen Raum: Nach dem Hinterhalt waren eine ganze Kompanie sowie ANA-Soldaten eine Woche vor Ort, „bestimmt, deutlich, freundlich", vorher und nachher wurde mit dem Mullah gesprochen.
Die Analyse der Anschläge ergibt interessante Ergebnisse: Sie geschahen alle in Gebieten mit hohem paschtunischen Bevölkerungsanteil. Bei Paschtunen ist die Unzufriedenheit besonders groß, weil sie kaum an Wiederaufbau, Entwicklung und Macht teilhaben. Viele paschtunische Flüchtlinge sind aus Pakistan zurückgekehrt. Diese Gebiete bieten sich als Aufenthaltsräume für Oppositionelle Militante Kräfte (OMF) aus dem Süden an. So resultiert aus einer anfänglichen Stabilisierung, die vielen die Rückkehr ermöglichte, eine erneute, „sekundäre" Destabilisierung. Überdies sind von der früheren Taliban-Hochburg Kunduz noch viele (ehemalige) Taliban übrig geblieben. Angesichts des militärischen Drucks im Süden sei es eine nahe liegende Taktik für OMF, nach Norden auszuweichen und dort Nadelstiche zu setzen.
Hinzu kommen andere Unruhemotive: (illegale) Milizen sehen nicht ein, warum sie die Waffen abliefern sollen, nachdem sie gegen die Kommunisten, gegen die Taliban gekämpft hätten und wo doch im Süden Milizen z.T. Verbündete der US-Truppen seien. Und für Kriminelle, Menschen- und Drogenschmuggler sei eine starke Regierung nur hinderlich. So werde ISAF, weil Stütze der Regierung, zum Störfaktor.
Die Region ist ausgesprochen fruchtbar, mehrere Ernten pro Jahr sind möglich. Wenn gegen Mohnfelder vorgegangen werde, dürfe das nicht so spät erfolgen, dass die Bauern gar keine Möglichkeit mehr haben, andere Feldfrüchte anzubauen.
Seitens AA werden ausgesprochen sinnvolle Projekte wie z.B. Wasserinstallationen für Moscheen (Waschgelegenheiten, Trink- und Abwasser) gefördert, was die Beziehungen zu den Mullahs deutlich verbessert habe. Bei der Empörung um den Karrikaturenstreit habe sich das erkennbar bewährt. Angesichts der Aufgaben sei die AA-Säule aber unterbesetzt, das BMZ halte sich bewusst außerhalb. Dass es in der Provinz Kunduz mehr als tausend (?) von DEU (mit-)unterstütze Projekte gebe, wisse keiner. Bloße Organisationsabsender bei bisherigen Projekten (z.B. von der GTZ) würden nicht reichen. Deshalb habe man jetzt ein Plakat herausgegebenen, wo die deutsche Unterstützungen schlicht mit Schwarz-Rot-Gold kenntlich gemacht werden.
Der ISAF-Sender „Stimme der Freiheit" wird stark mit Hilfe afghanischer MitarbeiterInnen betrieben und hat die besten Einschaltquoten im Norden.
Die ANP brauche neben einer besseren und verlässlichen Besoldung (ein Polizist erhält 60/70 US-$, oft verzögert, für eine Familie braucht man 120 $) längere Ausbildung und Begleitung/Monitoring. Die „Ausbildung" der einfachen Polizisten durch die amerikanische Private Sicherheitsfirma Dynkorp scheint eher eine Karrikatur zu sein: In wenigen Wochen geht es hier in der Hauptsache um militärisches Grüßen, Marschieren und Nahkampf. Die Ausbildungsordnungen werden verlesen. Die Polizisten erhalten Schlagstock, Reizstoffsprühgerät, erfahren aber nichts über Einsatzgrundsätze.
Schlussfolgerungen:
- Über den passiven Schutz soll weiter der Kommandeur lage- und auftragsabhängig entscheiden können. „Schutz ist nicht alles."
- Mehr Mittel und Anstrengungen sind notwendig bei der Nachrichtengewinnung und Aufklärung.
- Mehr kurzfristige Geldmittel für Projekte (für den AA-Topf stehen 65.000 Euro zur Verfügung, BW 15.000): Die Waage zwischen Sicherheit und Entwicklung müsse gehalten werden.
- Statt die dt. Polizeiberater abzuziehen, wäre ihre Verstärkung notwendig. Der zivile Anteil des PRT brauche insgesamt Verstärkung.
- Im Rahmen des Mandats aktivere Operationsführung mit Wirkung gegen OMF und auf die Bevölkerung
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Afghanistan-Besuch im Oktober 2006:
Zwischen Anschlagsgefahren und Aufbaufortschritten
(Vollbericht www.nachtwei.de/index.php/articles/440 )
Am 10.-14. Oktober besuchten die Obleute des Verteidigungsausschusses unter Leitung der Ausschussvorsitzenden Ulrike Merten Kabul, Mazar-e-Sharif, Feyzabad und Kunduz sowie den Lufttransportstützpunkt Termez in Usbekistan. Wir holten damit die Reise nach, die im September nach der vom Staatsekretär verhängten Besuchssperre kurzfristig abgesagt worden war, die im Vorfeld der ISAF-Verlängerung aber besonders dringlich gewesen wäre. Für mich ist es nach der Ministerreise im Juli der 6. AFG-Besuch insgesamt. (vgl. Reisebericht „Besuch in Nord-Afghanistan: Hoch kritische Monate") Im Vorfeld bekomme ich auffällig oft ein „komm gut zurück!" zu hören. Die Reise erfolgt zu einem Zeitpunkt wachsender Besorgnis über die sich massiv verschlechternde Lage in Afghanistan. (...)
In Mazar Teilnahme an der Kommandoübergabe des Regional Command North von Brigadegeneral Markus Kneip zu BG Volker Barth, Briefing durch die Führung des RC North und Dt. Einsatzkontingents, Gespräche mit Soldaten und zwei dt. Polizisten, Besuch des schwedisch geführten Provincial Reconstruction Team (PRT) Mazar und Gespräch mit dem afg. Polizeigeneral Fazli.
In Kunduz Unterrichtung durch Oberst Brandstetter und Dr. Philipp Ackermann, den militärischen und zivilen Leitern des PRT, Besichtigung zweier Aufbauprojekte (GTZ, DED), Gespräche mit DED-Vertretern und Soldaten, „Alarm Blitzschlag".
Zusammenfassung + Schlussfolgerungen
§  Sicherheitslage, Aufbaufortschritte, Entwicklungschancen und Hindernisse differieren außerordentlich von Provinz zu Provinz und stellen sich auch je nach Erfahrungsperspektive unterschiedlich dar: Wo der Friedensprozess in AFG gefördert und die Krise bewältigt werden soll, ist zu allererst genaues Hinsehen angesagt.
§  Leibhaftige Erfahrung des ständigen Bedrohungsstress in Kabul und persönliche Einblicke in geduldige zivile Projekte mit „afghan ownership" im Norden;
§  Glaubwürdige Betonung des stabilisierenden Unterstützungsansatzes von ISAF/Internationaler Gemeinschaft durch unsere Gesprächspartner und der zentralen Rolle von Respekt gegenüber der einheimischen Bevölkerung und Legitimität vor Ort dabei („Strategie des guten Beispiels", so ein schwedischer PRT-Kommandeur). Deshalb bestürzen die zwei Wochen später auftauenden Skandalfotos von 2003 umso mehr. Die Befürchtung vor unberechenbaren Reaktionen in Afghanistan bewahrheitet sich zum Glück nicht.
§  Strategische Schlüsselrolle des Polizeiaufbaus und die Diskrepanz der Engagements in qualitativer und quantitativer Hinsicht: Der dt. Beitrag muss deutlich aufgestockt und in den Rahmen einer ESVP-Mission gebracht werden, um dem Ausmaß der Herausforderungen gerecht und nicht marginalisiert zu werden.
§  Eine offene Frage bleibt, wie der primär stabilisierende Charakter von ISAF angesichts der mit Süd- und Osterweiterung massiv veränderten Anforderungen, der Übernahme von Schlüsselpositionen im ISAF-Hauptquartier ab Februar durch US-Generale und der ISAF-Unterstellung von ca. 11.000 US-Soldaten (z. T. mit Irak-Hintergrund) noch gehalten werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die inzwischen unterproportionale Beteiligung DEU`s an der ISAF-Führung ein Handicap.
§  Am 22. November positionierte sich die Kanzlerin klar im Bundestag: Eine Ausweitung des BW-Einsatzes werde es nicht geben. Die Bundesregierung wird das gegenüber dem wachsenden Druck der Verbündeten nur halten können, wenn über das selbstbewusste Vertreten der eigenen Leistungen hinaus (im Unterschied zu manchen Irakkrieg-Unterstützern seit fünf Jahren verlässlich, unter „anders schwierigen" Bedingungen im Norden relativ sehr erfolgreich und bei Afghanen hoch angesehen) die Beiträge zu den eigenen „Hausaufgaben" verstärkt werden (kein Grund zur Selbstzufriedenheit) und die Strategie „am Boden" überprüft und geklärt wird. Der Abgleich der Papierkonzepte reicht nicht. Die klingen sowieso ähnlich.
§  Neben der deutlichen Stärkung des dt. Polizeibeitrags sind Entwicklungs- und Aufbauanstrengungen vor allem in solchen Südostprovinzen überfällig, die neben höheren Risiken noch etliche Chancen bergen. Kein politisches Einmauern im Norden!
§  Zeitfaktor: Ein solcher Stabilisierungsprozess wie in AFG braucht viel Zeit und Geduld. Auf der anderen Seite ist nur noch wenig Zeit für schnell wirkende Maßnahmen und eine Korrektur der AFG-Strategie „am Boden". Der Winter schafft eine gewisse Atempause, die unbedingt genutzt werden muss.
§  Wenn zu Recht immer mehr betont wird, wie sehr es gerade auf die zivilen Aufbauanstrengungen ankomme, dann muss sich das auch ganz anders in Besuchsprogrammen, Wahrnehmungen, Öffentlichkeitsarbeit und Regierungsunterrichtungen niederschlagen. Notorisch ist, dass dt. Polizisten trotz ihrer Schlüsselrolle bei AFG-Besuchen in der Regel nur am Rande vorkommen. Durch die „natürliche" Anziehungskraft der militärischen Komponente gerät alles andere immer wieder in den Schatten.
IV. Kunduz
Das kleine Gebäude am Flughafen ist inzwischen frisch gestrichen. 50 Meter jenseits der Betonfläche ragt das Leitwerk eines zerstörten Flugzeuges aus dem Boden: „Kundus Airfield" steht einladend darauf. Zur anderen Seite hin ausgebrannte Fahrzeuge, die man wegen der Verminung der Umgebung besser nicht besucht. Die ganze Ebene um das Flugfeld ist gespickt mit den Resten von Kriegsgerät. Hier war Ende Hauptkampfgebiet. Gegenüber der Einfahrt zum so groß erscheinenden PRT Kunduz liegt der Geschützturm eines Panzers wie eine Schildkröte auf dem Rücken - ich empfinde das plötzlich wie eine Mahnung. Östlich von Kunduz geht es in die Berge, werden die Wege schwierig, zeitraubend, z.T. lebensgefährlich. Entscheidend ist das Führungs- und Informationsgeflecht des PRT mit Gouverneur, Bürgermeister, UNAMA, Provinzrat, Mullahs, Ältesten, ANA, ANP, NDS (Geheimdienst), GO`S + NGO`s, Medien etc. In diesem Geflecht angesichts kurzer Stehzeiten, personeller Fluktuationen und unter Beachtung örtlicher Gepflogenheiten wirksam zu sein, ist von vorneherein eine besondere Herausforderung.
Grundsätze des PRT: Souveränität respektieren, Hilfe zur Selbsthilfe, Synergien nutzen, Balance zwischen Wirkung und Schutz. Das PRT umfasst 481 Deutsche und 31 Personen anderer Nationen, zehn Zivilexperten (AA, BMI). Kunduz ist das größte PRT in ganz AFG, es leistet auch anderen, z.B. den Ungarn in Pol-e-Khomri substanzielle Hilfe.
Sicherheitslage: illegale Parallelstrukturen (ehemalige Kommandeure der Nordallianz, Korruption), ethnische Unterschiede, wachsende Gewaltkriminalität. Durch die Provinz laufen Hauptrouten des Drogenschmuggels. Der dt. Beitrag zum Wiederaufbau ist breit anerkannt, bedeutet aber keinen automatischen Schutz. Bisher sind keine selbsttragenden Oppositionelle Militante Kräfte zu beobachten, sie sickern viel mehr vom Süden in die paschtunischen Gebiete ein. Diese Kräfte lernen. Sie schießen bei Nachtpatrouillen z.B. direkt auf die Nachtsichtgeräte. Höhepunkt der Anschläge und Versuche im August. Nach einer größeren Festnahmeaktion war sechs Wochen Ruhe, war der September anschlagsfrei! In der gebirgigen Nachbarprovinz Takhar sei es nicht so ruhig.
Durchschnittlich laufen 20 Patrouillen/Tag und zwei/Nacht. Davon sind mehrere gemeinsam mit ANA-Soldaten bzw. ANP-Polizisten, zwei Langstreckenpatrouillen gehen über mehrere Tage, Es kommt auf höhere Präsenz an, um den Gegner in Bewegung zu halten. Erläutert wird die sog. „erweiterte Operationsführung". Gerade nach Anschlägen ist es wichtig, „raus zu gehen", sich nicht einzuigeln, wie das manche andere Nationen tun. Der Schlüssel aber ist die Stärkung der AFG-Fähigkeiten.
In der Entwicklungszusammenarbeit arbeiten im PRT-Gebiet ca. 30 Deutsche. Die Welthungerhilfe (WHH) ist hier seit vielen Jahren engagiert. Anspruch ist, sich gegenseitig zu ergänzen. Vor Ort funktioniere das Zusammenwirken der verschiedenen Organisationen sehr gut. Mit dem Umzug des PRT mitten aus Kunduz an den Flughafen ist zunächst die Distanz gewachsen. Ein neues „Stadthaus" soll von allen PRT-Teilen besetzt werden und Anlaufstelle für die Afghanen sein. Von 2004 bis heute wurden 50 Mio. $ in 1.450 Projekte gesteckt.
Für eine Koranschule wurden sanitäre Einrichtungen und eine Küche ermöglicht. So was wirke wie ein Leuchtturm. Wenn die Koranschulen hier einigermaßen in Ordnung sind, brauchen die Leute nicht nach Pakistan. Dass sogar im PRT ein Gebetsraum eingerichtet wurde, fand hohe Anerkennung. Für Polizisten werden sehr gute Kurse angeboten. Ein Drittel der 1.200 haben diese inzwischen absolviert.
Fortschritte: 60% der Jungen und 40% der Mädchen besuchen eine Schule, Das macht Aufbruchstimmung. Die Infrastruktur werde langsam, aber sicher besser. Die Wirtschaft komme in Schwung, vor allem Kleinstunternehmen und Kleingeschäfte. Wenn es nun heiße, die NATO müsse mehr für den Aufbau tun - „das machen wir hier!"
Exkursion nach draußen: Über die „Line of Communication Pluto" (Nord-Süd-Verbindung nach Kabul) fahren wir bis zu einem Übersichtspunkt bei Aliabad am Südrand der Provinz, wo die Kunduz-Ebene beginnt. Die Straße ist landesuntypisch gut ausgebaut. Rechts und links Felder dicht an dicht. Die Fruchtbarkeit dieser Gegend, wo drei Ernten im Jahr möglich sind, springt ins Auge. Hier begegnet uns beim Vorbeifahren immer wieder das berühmte „Winken + Lächeln", von dem in Kabul längst keine Rede mehr ist. Die Bewässerungssysteme sind mit dem DINGO nur schwer zu durchfahren. Patrouillen sind hier besser mit dem WOLF und zu Fuß unterwegs. Die Wadis bieten auch für Gegner gute Bewegungsmöglichkeiten.
In Aliabad stellt uns der GTZ-Team-Leader Eberhard Halbach ein Trinkwasserprojekt vor. Lange mussten sich die Menschen hier ihr Wasser aus dem Kunduz-Fluss holen. Aliabad war früher Taliban-Hochburg. Damals arbeitete schon die WHH hier. Der Ort gilt heute immer noch als unruhig. Das Trinkwasserversorgungssystem Aliabad soll ca. 500 Haushalte (um 3.700 Personen) über Hausanschlüsse mit sauberem Trinkwasser versorgen. Zusätzlich werden öffentliche Zapfstellen für bedürftige Haushalte aus der Umgebung und Durchreisende errichtet. Die GTZ koordiniert das Gemeinschaftsprojekt mit der WHH, Agha Khan Foundation (AKF) und der Gemeinde Aliabad. Die AKF ist für Brunnen, Wasserreservoir und Leitungssystem verantwortlich, die WHH für den Aufbau eines Wassermanagementrates und von Wassernutzervereinigungen. Das System soll ja langfristig und autark funktionieren. Das Projekt hat Pilotcharakter. Die Gesamtkosten betragen 355.000 €. Ende Oktober soll das System übergeben werden. Eine Schattenseite der Gemeindebeteiligung: Die Männer bestanden entgegen GTZ-Empfehlung auf Hausanschlüssen - damit die Frauen weniger aus dem Haus kommen. (vgl. die GTZ-Broschüre „Towards a brighter tomomorow - GTZ`s Contribution to Reconstruction and Development in the North East of AFG, July 2005")
In Aliabad soll auch eine einfache Fußgängerbrücke über den Kunduz-Fluss gebaut werden. Auch hierbei gilt es, die Bevölkerung einzubeziehen, damit auch auf Dauer die Instandhaltung der Brücke gewährleistet ist. Die Gelder könnten - so wird mir mitgeteilt - aus den „Nachtwei-Millionen" kommen. Diese insgesamt 10 Mio. € hatte ich im Frühjahr 2005 dem Verteidigungsministerium im Kontext eines Koalitionsstreits für Zwecke des Ressortkreises „Zivile Krisenprävention" abverhandelt. (Inzwischen wurden dieser Posten „strukturelle Krisenprävention" von der Mehrheit des Haushaltsausschuss gesperrt. Die Mittel dürfen nur noch im unmittelbaren Kontext von Bundeswehreinsätzen ausgegeben werden. Damit wird der ursprüngliche Zweck - Stärkung der „unterernährten" zivilen Krisenprävention am Dreh- und Angelpunkt Ressortkreis - widerrufen. Angesichts der aktuellen Diskussion über den Rückstand nichtmilitärischer Anstrengungen und der Stärkung vernetzter Sicherheit ist dieser Schritt beispielhaft kurzsichtig und dumm.)
Schulprojekt: CIMIC ermittelte den Bedarf, vom AA kam das Geld. Inzwischen werden 17 Schulprojekte gefördert (Zelte, Brunnen, sanitäre Einrichtungen), bei denen es auf schnelle Umsetzung ankommt.
Die Schule vor uns wurde von USAID errichtet und wird von insgesamt 1.000 SchülerInnen, darunter 250 Mädchen besucht. Allerdings dürfen Brunnen, sanitäre Einrichtungen und Räume nicht zusammen benutzt werden. Nach vielen Gesprächen wurde ein „Kompromiss" gefunden: Die Mädchen werden draußen unter Sonnendächern unterrichtet. Für sie wird ein eigener Brunnen angelegt. Jenseits der Schulmauer wird ein eigenes Gebäude für die Mädchen errichtet. In den letzten sechs Monaten gab es in der Region sechs Anschläge auf Schulen.
Der Dt. Entwicklungsdienst (DED) arbeitet in AFG in 2005/6 auf den Feldern
-      Förderung einer nachhaltigen Entwicklung (8 Projekte in Kabul, Nordost und Mazar, eins auch in Herat und Jalalabad)
-Â Â Â Â Â Â Entwicklungsorientierte Nothilfe (zwei in Kabul + Mazar, Herat, Kandahar + Jalalabad)
-Â Â Â Â Â Â Wasser und Energie (zwei in Kabul, Wardak, Herat): angepasste und erneuerbare Energien
-      Demokratieförderung, Zivilgesellschaft + Kommunalentwicklung, einschließlich Beratung einheimischer Organisationen (16 Projekte in Kabul + Nachbarprovinzen, Kunduz, Balkh, Jawzjan, Norden)
-Â Â Â Â Â Â Kommunalentwicklung (zwei in Kunduz, Feyza + Kabul)
-      Ziviler Friedensdienst/ZFD (9 Projekte in Kabul, Norden, Herat, Bamyan, Ghazni)
Das ZFD-Programm AFG des DED läuft seit 2004 und zunächst bis 2012 angelegt. 12, später 18 Friedensfachkräfte arbeiten mit 10 afg. Partnerorganisationen zusammen. Die Handlungsfelder sind: Versöhnungsarbeit durch Bildungsmaßnahmen und Stärkung von Informations- und Kommunikationsstrukturen; Stärkung lokaler Konfliktregelungsstrukturen. Der Rahmen ist der nationale „Action Plan on Peace, Reconciliation and Justice in AFG" vom Dezember 2005.
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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: