Zum dritten Mal nahm ich beim Einsatzführungskommando in Geltow bei Potsdam an der Gedenkfeier für Generalmajor Henning von Tresckow teil. Die Gedenkansprache hielt Prof. Dr. Jutta Limbach, ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Erstaunlich wenig ist hierzulande bekannt, welche zentrale Rolle Henning von Tresckow seit 1939 im deutschen militärischen Widerstand hatte. Mein Bericht:
Gedenken an Henning von Tresckow,
„Kopf und Herz" des militärischen Widerstands gegen Hitler: Vorbild für Staatsbürger in Uniform wie Zivil
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (22. Juli 2012)
Am 20. Juli stehen alljährlich die Gedenkveranstaltung der Bundesregierung im Berliner Bendlerblock und das nachfolgende feierliche Gelöbnis von Bundeswehrrekruten im Blick der Medien.
Eine andere zentrale Gedenkveranstaltung findet in der Regel am Folgetag beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Geltow bei Potsdam statt. Hier lädt der Befehlshaber Generalleutnant Rainer Glatz ein zum Gedenken an Henning von Tresckow (1901-1944), zuletzt Generalmajor der Wehrmacht, der sich nach dem Scheitern des von ihm mit geplanten Staatsstreiches vom 20. Juli 1944 das Leben nahm. Nach ihm ist seit 17. Juli 1992 diese Kaserne benannt. Anwesend sind Familienangehörige der Widerständler, darunter Dr. Uta von Aretin, Tochter Henning von Tresckows. Ich nehme zum dritten Mal an dieser kleineren, aber besonders eindringlichen Veranstaltung teil.
Die Grußadresse spricht Prof. Dr. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts 1994-2002. Im Vorjahr hatte Dr. Antje Vollmer, ehemalige Vizepräsidentin des Bundestages und Grünen-Abgeordnete, die Ansprache gehalten. In der Gedenkandacht mit Militärdekan Bodo Winkler spricht auch General Glatz Fürbitten. Zum Abschluss legen Frau von Aretin, der Innenminister und der Landtagspräsident des Landes Brandenburg, der Oberbürgermeister von Potsdam, der Wehrbeauftragte und General Glatz Kränze nieder.
In der Eingangshalle des Kommandogebäudes zeigen große Lichtbilder Henning von Tresckow als Offizier, als Vater, zu Pferde beim Einmarsch des 9. Infanterie-Regiments 1938 in Potsdam (zu Fuß der befreundete Wolf Graf von Baudissin) und sein berühmtes Zitat zum Sinn des Widerstands (s.u.).
Wer war Henning von Tresckow?
Auf der Zugfahrt von Münster nach Berlin lese ich die von Sigrid Grabner und Hendrik Röder herausgegebene, aufwühlende Sammlung von Texten und Dokumenten „Henning von Tresckow - Ich bin der ich war" (Berlin 2001; hieraus die folgenden Zitate). Er muss eine Ausnahmepersönlichkeit in jeder Hinsicht und im besten Sinne gewesen sein - als Generalstabsoffizier und Menschenführer, als Vater, als Christenmensch, als „Staatsbürger in Uniform" in einer Zeit größter Staatsverbrechen und versagender militärischer Führung.
Erste Jahrzehnte: Er stammte aus einer alten märkischen Adelsfamilie. Als 17-jähriger Leutnant erlebte er den Krieg an der Westfront. Im traditionsreichen Ersten Garderegiment zu Fuß „war er ein selbstbewusster und eigenwilliger Untergeber, der sich nicht scheute, Befehle vor Ort abzuändern, wenn die Situation es erforderte." (103) Der letzte Regimentskommandeur äußerte, „Tresckow würde entweder Chef des Generalstabes oder als Revolutionär auf dem Schafott enden." Nach dem Ausscheiden 1920 aus der Reichswehr studierte er Rechtswissenschaft, Staatstheorie, Geld- und Börsenwesen. Ab 1923 arbeitete er beim jüdischen Bankhaus Wilhelm Kann in Potsdam. 1924 reiste er mehrere Monate über Amsterdam, London, Paris, Flandern nach Süd- und Nordamerika.
Trotz aller beruflichen Erfolge bewarb er sich um Wiederaufnahme in das Infanterieregiment Nr. 9 in Potsdam, in das er nach der Hochzeit mit Erika von Falkenhayn, der Tochter des früheren preußischen Kriegsministers, im Februar 1927 eintrat. „Was Tresckow von seinen Untergebenen verlangte, leistete er selbst. (...) Drill, Schablone, uniformes Denken, seelenloser Kommiss waren ihm verhasst; echte Disziplin konnte immer nur Ausdruck innerer Haltung sein. (...) Die vielseitigen Interessen, Intelligenz und ein unabhängiger Charakter hoben ihn weit über den Durchschnitt der fähigen Offiziere seines Regiments heraus." (107) Im Unterschied zu seinem Bruder Gerd, der die hochkommende NS-Bewegung scharf kritisiert, setzte Henning von Tresckow Hoffnung auf den Nationalsozialismus und begrüßt Hitlers Machtergreifung.
Vorkriegszeit: Hatte ihn der „Tag von Potsdam" am 21.März 1933 noch begeistert, erschütterte ihn die Wahrheit über den „Röhm-Putsch" von Ende Juni 1934, als fast die ganze SA-Führung, außerdem u.a. Ex-Reichskanzler General Kurt von Schleicher mit Ehefrau und Erich Klausener, Vorsitzender der Katholischen Aktion im Bistum Berlin, insgesamt ca. 200 Menschen durch Hitler-Befehl ermordet wurden. Nach zwei Jahren Kriegsakademie, die er als Jahrgangsbester absolvierte, bekam er in der Operationsabteilung des Generalstabs im Reichswehrministerium ab Herbst 1936 Einblick in die zunehmenden Angriffskriegsvorbereitungen. Die Blomberg-Fritsch-Affäre 1938 (Entlassung des Reichskriegsministers und des Oberbefehlshabers des Heeres, Übernahme des Oberbefehls über die Wehrmacht durch Hitler) erschütterte Tresckow so sehr, dass er diese zusammen mit Wolf Graf Baudissin dem Befehlshaber des Wehrkreises III Berlin,  General von Witzleben vortrug (dieser hatte gegen die Mordaktion „Röhm-Putsch" protestiert; war später vorgesehen als Oberbefehlshaber der Wehrmacht nach erfolgreichem Hitler-Attentat; wurde am 8.8.1944 in Plötzensee erhängt): „Kriege im 20. Jahrhundert hielt er für sinnlos. Als Preuße fühlte er sich auch als Europäer. (...) Ein Angriffskrieg löste keine Probleme, er bedeute den Selbstmord Deutschlands." Um des Friedens willen befürworte er militärische Schritte gegen Hitler. Von Witzleben: „Gerade solche Männer wie Tresckow würden jetzt gebraucht, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten." (109) Der von Witzleben angedeuteten militärischen Aktion wurde mit dem Münchner Abkommen die Grundlage entzogen. Die Pogromnacht kurz später bekräftigte seine Überzeugung, dass Hitler gestürzt werden musste.
Fünf Jahre Widerstand: „Seit Mitte 1939 arbeitete Tresckow mit wachsender Intensität und zuweilen Tollkühnheit auf die Beseitigung Hitlers hin, knüpfte Verbindungen zum zivilen Widerstand, suchte Verbündete im Heer, machte die Heeresgruppe Mitte, wo er seit 1941 Generalstabsoffizier war, zu einem Widerstandsnest. Doch sein Rang und seine Möglichkeiten setzten seiner Zielstrebigkeit immer wieder Grenzen." (110) Die Widerstandsgruppe in der Heeresgruppe Mitte war an allen von Wehrmachtsangehörigen unternommenen Attentatsversuchen gegen Hitler beteiligt. Sie war die einzige an der ganzen Ostfront. Ihr Initiator war Tresckow. (124)
Angesichts des „Kommissar-Befehls" erklärte er Ende 1941 zu seinen Offizieren: „Solange ich Ia der Heeresgruppe Mitte bin, wird kein Kommissar erschossen. Ein Russe, der sich ergibt, gibt sich gefangen, damit er sein Leben behält."
Ab Mitte August 1941 häuften sich bei Tresckows Heeresgruppe die Berichte über die monströsen Mordtaten der Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD in den gerade besetzten sowjetischen Gebieten. Deutlich wurde, dass Proteste gegen das Massenmordsystem nutzlos waren, dass es nur durch den Sturz des Hitler-Regimes gestoppt werden konnte. Hoffnungen, einen der Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe zu gewinnen, wurden enttäuscht: „Preußische Feldmarschälle meutern nicht", so Manstein.
In Verbindung mit Offizieren des „Ersatzheeres" begannen die Putschplanungen unter dem Stichwort „Wallküre". Nach der Katastrophe von Stalingrad im Januar 1943 intensivierte die Gruppe um Tresckow ihre Umsturzplanungen. Im März 1943 unternahm sie zwei Attentatsversuche, die beide scheiterten. Zusammen mit Stauffenberg bereitete Tresckow im Herbst 1943 weiter die Operation „Walküre" vor. Im November 1943, Februar und März 1944 misslangen weitere Attentatsversuche.
Am 1. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie und wurde Tresckow zum General ernannt. Als Stauffenberg anfragte, ob das Attentat noch durchgeführt werden solle, antwortete Tresckow: „Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte (koste es, was es wolle). .. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat..."
Als Chef des Stabes bei der 2. Armee im polnischen Ostrow erlebte Tresckow aus der Ferne das Scheitern des Attentats vom 20. Juli. Am Morgen des 21. Juli meldete sich der Mitverschwörer und Verbindungsoffizier zur Heeresgruppe Mitte, Eberhard von Breitenbuch, bei Tresckow von einer geplanten gemeinsamen Fahrt ab: „Da kam Tresckow, ruhig und ausgeglichen wie immer. Als ich ihm sagte, dass ich doch einen Auftrag bekommen hätte, bedauerte Tresckow das sehr. Er nahm mich etwas beiseite und sagte: ´Ich hätte Sie gern als Zeugen bei meinem Tod dabeigehabt`. Ich erschrak und fragte Tresckow, was er denn vorhätte, worauf er mir antwortete, er wolle unseren Gegnern nicht die Genugtuung lassen, seiner habhaft zu werden. Er wollte zur 28. Jägerdivision und dort allein im Gelände nach vorne gehen. Dort wollte er dann mit Gewehr und Handgranaten und Maschinenpistole ein Gefecht vortäuschen und sich das Leben nehmen. Es sollte der Eindruck entstehen, dass er mit Partisanen zusammengestoßen sei. Tresckow sagte mir völlig ruhig Lebewohl und schloss: ´Auf Wiedersehen in einer besseren Welt`". (60)
Die Gedenkrednerin Prof. Limbach war in ihrer Zeit am Bundesverfassungsgericht an Entscheidungen zum Adria-Einsatz, zu AWACS- und Somalia-Einsatz beteiligt. Henning von Tresckow stehe für die untrennbare Verbindung von Gehorsam und Gewissen und den bedingungslosen Respekt vor der Würde des Menschen, die Absage an unbedingten Gehorsam: „Bei der Verletzung der Menschenwürde und einem Befehl, der keinen dienstlichen Zweck erfüllt, muss der Soldat sein moralisches Unterscheidungsvermögen nutzen und diesen Befehl nicht ausführen. Henning von Tresckow erkannte, dass Dienen und Denken, Gehorsam und Gewissen zusammen gehören. Der militärische Befehl und der soldatische Gehorsam sollen auf Grundlage dieses Verständnisses stets an Recht und Gewissen gebunden sein."
Demokratische Traditionspflege
Im Unterschied zu den meisten anderen Menschen seines Berufstandes, seiner Herkunft und der Masse der deutschen Bevölkerung damals erkannte Henning von Tresckow vergleichsweise früh den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes. Er ließ sich weder durch den Siegeszug des Nationalsozialismus blenden noch von seinem Terror einschüchtern. Sein Widerstand wuchs lange vor den katastrophalen Niederlagen und gegen den Strom. Seine Erziehung und Familie, sein christlicher Glaube und Patriotismus, seine Begabungen nährten seine über hohe Professionalität hinausgehende Stärken: tiefe Überzeugung und charismatische Überzeugungskraft, Handlungswille, Konsequenz, Opferbereitschaft für die Menschen. Familienangehörige wie Untergebene erinnern zugleich an seine bejahend-positive Grundeinstellung, seine warme und helfende Herzlichkeit, an fröhlichen Humor.
Seine Freundschaft mit Wolf Graf von Baudissin, der später maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr und der Entwicklung der Inneren Führung beteiligt war, ist symptomatisch: Mit seiner Art als Offizier und seiner Widerstandspraxis gegen das NS-Unrechtssystem hat er Grundprinzipien der Inneren Führung, die Bindung von Streitkräften und Soldaten an Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit, vorweg genommen.
Eigenartig ist, wie wenig Henning von Tresckow hierzulande bekannt ist. In ihrer Vorjahrsrede bemerkte Antje Vollmer, dass diejenigen nahezu unbekannt und unbetrauert seien, die damals den Verbrechern in die Arme fielen. Kaum ein Schüler wäre in der Lage, zehn Widerstandskämpfer beim Namen zu nennen. Auch Lehrer und Politiker wohl kaum. Warum gehört ein Mensch wie Henning von Tresckow nicht zu den „großen Deutschen" des 20. Jahrhunderts?
Umso mehr ist zu begrüßen, dass gerade das Einsatzführungskommando der Bundeswehr alljährlich und würdig an ihn erinnert. Denn dieses Kommando verantwortet die nationale Führung von Bundeswehrkräften im - in der Regel - multinationalen Einsatz. Es überwacht dabei die Einhaltung der Mandate und organisiert die Einsatzauswertung. In diesem Kontext will eine solche Erinnerungskultur kein Ritual und kein Alibi sein, sondern Gelöbnis und Verpflichtung. Das spürt man vor Ort. Das bringt General Glatz dadurch zum Ausdruck, dass  und wie er dieses Gedenken inzwischen zum siebten Mal durchführt.
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Vgl. Reden von Wolf Graf von Baudissin zum 20. Juli
im Jahr 1960 als Brigadekommandeur auf einer Feierstunde der Stadt Göttingen,
im Jahr 1964 als Generalleutnant in der Bonner Beethovenhalle, in:
Graf Baudissin: Soldat für den Frieden - Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr, München 1969
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: